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Das Versprechen

Friedrich Dürrenmatt

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600902 , 160 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[53] 13

»Der Hausierer hatte auf einem Bürosessel ohne Lehne Platz genommen, Treuler seinen Stuhl an Matthäis alten Schreibtisch gerückt, der ihm als Stütze für seinen linken Arm diente, dazu die Beine übereinandergeschlagen und den Kopf in die linke Hand gelegt. Er rauchte eine Zigarette. Feiler nahm das Protokoll auf. Henzi und ich blieben in der Türe stehen und wurden von dem Hausierer nicht bemerkt, da er uns den Rücken zukehrte.

›Ich habe es nicht getan, Herr Polizeiwachtmeister‹, murmelte der Hausierer.

›Das habe ich auch nicht behauptet. Ich sagte nur, du könntest es getan haben‹, erwiderte Treuler. ›Ob ich recht habe oder nicht, wird sich ja dann feststellen lassen. Beginnen wir von vorn. Du hattest dich also am Waldrande bequem hingelagert?‹

›Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Und geschlafen?‹

›Richtig, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Warum? Du wolltest doch nach Mägendorf.‹

›Ich war müde, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Weshalb hast du denn den Briefträger nach dem Polizisten in Mägendorf ausgefragt?‹

›Um mich zu erkundigen, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Was wolltest du wissen?‹

›Mein Patent war nicht erneuert. Da wollte ich wissen, wie es um die polizeilichen Verhältnisse in Mägendorf stünde.‹

[54] ›Und wie stand es um die polizeilichen Verhältnisse?‹

›Ich erfuhr, in Mägendorf sei ein Stellvertreter. Da fürchtete ich mich, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Ich bin auch ein Stellvertreter‹, erklärte der Polizist trocken. ›Vor mir fürchtest du dich auch?‹

›Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Aus diesem Grunde wolltest du auch nicht mehr ins Dorf?‹

›Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Das ist gar keine so üble Version der Geschichte‹, sagte Treuler anerkennend, ›aber vielleicht gibt es noch eine andere Version, die nur den Vorzug hätte, wahr zu sein.‹

›Ich habe die Wahrheit gesagt, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Wolltest du nicht vielmehr vom Briefträger erfahren, ob ein Polizist in der Nähe sei oder nicht?‹

Der Hausierer schaute Treuler mißtrauisch an. ›Was wollen Sie damit sagen, Herr Polizeiwachtmeister?‹

›Nun‹, antwortete Treuler gemächlich, ›du wolltest dich vor allem beim Briefträger über die Abwesenheit der Polizei im Rotkehlertälchen vergewissern, weil du auf das Mädchen gewartet hast, denke ich.‹

Der Hausierer starrte Treuler entsetzt an. ›Ich habe doch das Mädchen nicht gekannt, Herr Polizeiwachtmeister‹, schrie er verzweifelt, ›und selbst wenn ich es gekannt hätte, könnte ich es nicht getan haben. Ich befand mich ja nicht allein im Tälchen. Die Bauernfamilie war ja auf dem Felde. Ich bin kein Mörder. Glauben Sie mir doch!‹

›Ich glaube dir ja‹, begütigte ihn Treuler, ›aber ich muß deine Geschichte überprüfen, das mußt du doch einsehen. Du hast erzählt, du seiest nach deiner Ruhepause in den Wald gegangen, um dann nach Zürich zurückzukehren?‹

[55] ›Es kam ein Unwetter‹, erklärte der Hausierer, ›da wollte ich die Abkürzung nehmen, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Dabei bist du auf die Leiche gestoßen?‹

›Ja.‹

›Ohne die Leiche zu berühren?‹

›Richtig, Herr Polizeiwachtmeister.‹

Treuler schwieg. Obgleich ich das Gesicht des Hausierers nicht sah, fühlte ich seine Angst. Er tat mir leid. Doch war ich von seiner Schuld mehr und mehr überzeugt, wenn auch vielleicht nur, weil ich endlich den Schuldigen zu finden hoffte.

›Wir haben dir deine Kleider weggenommen, von Gunten, und dir andere gegeben. Kannst du dir denken, weshalb?‹ fragte Treuler.

›Weiß nicht, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Um eine Benzidin-Probe vorzunehmen. Weißt du, was das ist, eine Benzidin-Probe?‹

›Nein, Herr Polizeiwachtmeister‹, antwortete der Hausierer hilflos.

›Eine chemische Probe, um Blutspuren festzustellen‹, erklärte Treuler in gespenstischer Gemütlichkeit. ›Wir haben an deinem Kittel Blut festgestellt, von Gunten. Es stammt von dem Mädchen.‹

›Weil… weil ich über die Leiche stolperte, Herr Polizeiwachtmeister‹, stöhnte von Gunten. ›Es war schrecklich.‹

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

›Und das hast du uns natürlich nur aus Angst verschwiegen?‹

›Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.‹

›Und nun sollen wir dir aufs neue glauben?‹

[56] ›Ich bin nicht der Mörder, Herr Polizeiwachtmeister‹, flehte der Hausierer verzweifelt, ›glauben Sie mir doch. Holen Sie Herrn Doktor Matthäi, der weiß, daß ich die Wahrheit sage. Ich bitte Sie.‹

›Doktor Matthäi hat nichts mehr mit diesem Fall zu tun‹, antwortete Treuler. ›Er fliegt morgen nach Jordanien.‹

›Nach Jordanien‹, flüsterte von Gunten. ›Das wußte ich nicht.‹

Er starrte auf den Fußboden und schwieg. Es war totenstill im Zimmer, man hörte nur das Ticken der Uhr und manchmal, von der Straße her, ein Auto.

Nun griff Henzi ein. Zuerst schloß er das Fenster, dann setzte er sich hinter Matthäis Schreibtisch, freundlich und zuvorkommend, nur stellte er die Schreibtischlampe so, daß ihr Licht auf den Hausierer fiel.

›Regen Sie sich nicht auf, Herr von Gunten‹, sagte der Leutnant überaus höflich, ›wir wollen Sie in keiner Weise quälen, wir sind nur bemüht, die Wahrheit zu erfahren. Deshalb müssen wir uns an Sie wenden. Sie sind der wichtigste Zeuge. Sie müssen uns helfen.‹

›Jawohl, Herr Doktor‹, antwortete der Hausierer und schien wieder etwas Mut zu fassen.

Henzi stopfte sich eine Pfeife. ›Was rauchen Sie, von Gunten?‹

›Zigaretten, Herr Doktor.‹

›Geben Sie ihm eine, Treuler.‹

Der Hausierer schüttelte den Kopf. Er starrte auf den Boden. Das Licht blendete ihn.

›Stört Sie die Lampe?‹ fragte Henzi freundlich.

›Sie scheint mir direkt in die Augen.‹

Henzi stellte den Schirm der Schreibtischlampe anders ein. ›Ist es so besser?‹

[57] ›Besser‹, antwortete von Gunten leise. Seine Stimme klang dankbar.

›Sagen Sie mal, von Gunten, was verkaufen Sie eigentlich so für Gegenstände? Putztücher?‹ begann Henzi.

›Ja, Putztücher auch.‹ Der Hausierer sagte es zögernd. Er wußte nicht, was diese Frage wollte.

›Und weiter?‹

›Schnürsenkel, Herr Doktor. Zahnbürsten. Zahnpasta. Seife. Rasiercreme.‹

›Rasierklingen?‹

›Auch, Herr Doktor.‹

›Welche Marke?‹

›Gillette.‹

›Ist dies alles, von Gunten?‹

›Ich glaube, Herr Doktor.‹

›Schön. Doch ich glaube, Sie haben einiges vergessen‹, sagte Henzi und hantierte an seiner Pfeife herum. ›Sie will nicht ziehen‹, meinte er, und dann fuhr er wie beiläufig fort: ›Zählen Sie den Rest Ihrer Sächelchen ruhig auf, von Gunten. Wir haben Ihren Korb genau untersucht.‹

Der Hausierer schwieg.

›Nun?‹

›Küchenmesser, Herr Doktor‹, sagte der Hausierer leise und traurig. Schweißperlen glänzten auf seinem Nacken. Henzi blies eine Rauchwolke um die andere, ruhig, gemächlich, ein freundlicher junger Herr, voller Wohlwollen.

›Weiter, von Gunten, was noch, außer Küchenmessern?‹

›Rasiermesser.‹

›Warum zögerten Sie, das zuzugeben?‹

Der Hausierer schwieg. Henzi streckte scheinbar [58] gedankenlos die Hand aus, als wollte er sich wieder mit der Lampe beschäftigen. Er nahm jedoch die Hand wieder fort, als von Gunten zusammenzuckte. Der Wachtmeister starrte den Hausierer unverwandt an. Er rauchte eine Zigarette um die andere. Dazu kam Henzis Pfeifenrauch. Die Luft im Zimmer war zum Ersticken. Ich hätte am liebsten die Fenster geöffnet. Aber die geschlossenen Fenster gehörten zur Methode.

›Das Mädchen wurde mit einem Rasiermesser getötet‹, stellte Henzi nun diskret und wie zufällig fest. Schweigen. Der Hausierer saß zusammengesunken, leblos auf seinem Sessel.

›Lieber von Gunten‹, fuhr Henzi fort, indem er sich zurücklehnte, ›reden wir unter Männern. Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Ich weiß, daß Sie den Mord begangen haben. Aber ich weiß auch, daß Sie ebenso erschrocken über die Tat sind wie ich, wie wir alle. Es ist einfach über Sie gekommen, Sie wurden auf einmal wie ein Tier, Sie überfielen und töteten das Mädchen, ohne daß Sie wollten und ohne daß Sie anders konnten. Etwas war stärker als Sie. Und als Sie wieder zu sich kamen, von Gunten, waren Sie maßlos erschrocken. Sie liefen nach Mägendorf, weil Sie sich stellen wollten, doch jetzt haben Sie den Mut verloren. Den Mut zum Geständnis. Sie müssen diesen Mut nun wieder finden, von Gunten. Und wir wollen Ihnen dabei helfen.‹

Henzi schwieg. Der Hausierer schwankte auf seinem Bürosessel ein wenig. Es schien, als bräche er gleich zusammen.

›Ich bin Ihr Freund, von Gunten‹, behauptete Henzi, ›nützen Sie diese Chance.‹

›Ich bin müde‹, stöhnte der Hausierer.

[59] ›Das sind wir alle‹, antwortete Henzi. ›Wachtmeister Treuler, verschaffen Sie uns Kaffee und später Bier. Auch für unseren Gast von Gunten, wir sind fair bei der Kantonspolizei.‹

›Ich bin unschuldig, Kommissär‹, flüsterte der Hausierer heiser, ›ich bin unschuldig.‹

Das Telephon klingelte; Henzi meldete sich, hörte aufmerksam hin, hängte auf, lächelte.

›Sagen Sie mal, von Gunten, was...