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Familie Salzmann - Erzählung aus unserer Mitte

Erich Hackl

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600933 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

In Hugos Leben wäre vieles anders gekommen: wenn sein Vater ihn je beiseite genommen hätte. Sechs, acht oder zehn Jahre später, als alles vorüber und doch nicht zu [95] Ende war. Wenn er zu ihm gesagt hätte, jetzt will ich dir mal erzählen, wie es mir ergangen ist. Damit du manches begreifst. Die Ungeduld, die Härte, die Reizbarkeit. Man nimmt ja auch Schaden. Wenn er ihn beispielsweise durch das Gerichtsgebäude in der Bellevuestraße geführt hätte, das nur noch in seinen Alpträumen existierte, seit es, im Februar fünfundvierzig, bei einem Luftangriff auf Berlin zerstört worden war. Durch das Labyrinth aus unterirdischen Gängen, Treppen und Kammern, vorbei an einer langen Reihe aneinandergeschweißter Spinde, in denen nicht Kleider, sondern Menschen steckten (Verurteilte, die bis zum Abtransport nach Plötzensee hier aufbewahrt wurden), hinauf in den Verhandlungstrakt, hinein in den Saal, auf die Anklagebank, die keine richtige Bank war, eher eine Art Koben auf einem Podium und mit einem Sitzbrett an der Rückseite. Wenn er ihm gezeigt hätte, wie der Reihe nach der Offizialverteidiger, der Staatsanwalt und ein Mann in Straßenkleidung, mit einer Mappe unter dem Arm den Gerichtssaal betraten. Den Einzug der Richter und Beisitzer (zwei in roten Roben, einer in der Uniform eines SA-Brigadeführers, einer in der eines Generalarbeitsführers, einer in Zivil, mit Parteiabzeichen auf dem Revers). Wenn er seine Beklemmung beim Anblick des Vorsitzenden mit ihm geteilt hätte: hagere Gestalt, schmaler Schädel mit Halbglatze, scharf geschnittene Nase. (Er glaubte im ersten Moment, Roland Freisler vor sich zu haben, den er von Fotos her kannte, die in der ›Roten Fahne‹ erschienen waren, aber [96] laut Urteilsschrift handelte es sich um den Senatspräsidenten Kurt Albrecht.)

Wenn also, und wie.

Wenn er ihm zugemutet hätte, ihn anzuhören. Wie Albrecht ihn aufforderte, dem Gericht seinen Lebensweg zu schildern. Wie er plötzlich von einer inneren Ruhe erfaßt wurde und mit kräftiger Stimme, sachlich und vehement zugleich, zu sprechen begann: von Not und Entbehrung im Elternhaus, Fronteinsatz des Vaters, Krankheit und frühem Tod der Mutter, Eintreten für die Arbeitskollegen, Bemühen um die Erwerbslosen. Wie er seine Empörung über die gnadenlosen Bestimmungen des Friedensvertrages und seinen Protest gegen die Besetzung des Ruhrgebiets in die Rede einflocht. Wie es ihm gar nicht schwer fiel, die Schnittmenge zu treffen von dem, was er getan hatte und was die Nazis unter Idealismus verstanden. (Uneigennützig, darauf lief seine Selbstdarstellung hinaus. Dann sagte er noch: Ich bin nicht schuldig.) Wie Albrecht keine Miene verzog, in seinen Akten blätterte, ihnen zwei kleinformatige Zeitungen entnahm, die er an die Beisitzer weiterreichte, wieder einholte, hochhielt. (Er wußte gleich, um welche Blätter es sich handelte, schließlich war jede Ausgabe durch seine Hände gegangen.) Wie Albrecht ihn beschuldigte, diese Schriften nach dem Reich verschickt zu haben, an verdienstvolle Funktionäre in Bad Kreuznach, deren Adressen nur er kennen konnte, der Angeklagte Salzmann, Schriften, die gegen den Führer hetzten, diesen als Mörder [97] schmähten, zum Sturz der deutschen Staatsführung aufriefen. Wie Albrechts schnarrende Stimme immer lauter wurde, sich schließlich überschlug: Das ist Vorbereitung zum Hochverrat, hier sind die Beweise, bekennen Sie sich schuldig! Wie er entschieden bestritt, diese Zeitungen nach Deutschland verschickt zu haben. Wie Albrecht die Anschuldigung wiederholte und wie er sie erneut zurückwies: Wenn ich schwören dürfte, Herr Präsident, ich habe nicht…, worauf Albrecht nach seinen Akten griff, aufstand und verkündete, daß die Verhandlung unterbrochen werde. Wie die Richter und Beisitzer den Saal verließen. Wie er in ihrer Abwesenheit vergeblich auf ein Wort seines Anwalts wartete, aufmunternd oder warnend, wie dieser Dr. Feldmann überhaupt die ganze Zeit geschwiegen, ihn nicht einmal mit einem Blick bedacht hat. (Am Abend davor hatte er ihn in seiner Zelle in Moabit aufgesucht: Sagen Sie mir nichts, was Sie belasten könnte, ich müßte es der Gestapo melden. Weinen Sie nicht während der Verhandlung.) Wie er krampfhaft überlegte, was Albrecht gegen ihn noch in der Hand hatte, und dabei an seinen Genossen Fried Hey dachte, der ihm auf dem Weg zum Gerichtssaal, im breiten Korridor nach dem letzten Treppenabsatz, begegnet war. In Ketten, und mit einem Flackern in den Augen. (Den Bergmann Friedrich Hey aus Dudweiler, der in Paris für die Verteilung der Spendengelder, dann für die Emigrantenküche zuständig war.) Wie er befürchtete, daß dieser nun als Belastungszeuge gegen ihn aufgeboten werden würde, bei Fortgang [98] der Verhandlung jedoch erkannte, daß es Albrecht allein darum ging, ihm nachzuweisen, daß er persönlich die Zeitungen an Kappel und Umbs verschickt hatte. Wie Albrecht sich nämlich an den Mann im Straßenanzug wandte, der vor Prozeßbeginn neben dem Staatsanwalt Platz genommen hatte, und ihn ersuchte, sein graphologisches Gutachten vorzubringen. Wie der Sachverständige sich erhob, einige Papiere zur Hand nahm, die Brille zurechtrückte und ausführte, daß er die Handschrift auf den Umschlägen eingehend mit den in Koblenz genommenen Schriftproben verglichen habe und dabei zu folgendem Ergebnis gekommen sei: Der Buchstabe B ist das typische B des Angeklagten. Der Buchstabe K unmöglich, ebensowenig das E und N. Das Z weist große Ähnlichkeiten mit dem des Angeklagten auf. Das S wiederum… Wie er das halbe Alphabet durchging, dann die Papiere auf den Tisch zurücklegte, die Brille abnahm, sich räusperte, die Brille wieder aufsetzte. Wie er sagte, auf Grund mehrerer Übereinstimmungen, die sich durch unbewußt entstehende Schreibgewohnheiten ergäben, könne mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit behauptet werden, daß der Angeklagte persönlich den Umschlag beschriftet habe. Wie er sich erneut räusperte, endlich hinzufügte, daß sich aber ein lückenloser und objektiver Nachweis für die Täterschaft des Angeklagten infolge des geringen Ausgangsmaterials nicht erbringen lasse. Wie nach diesen Worten nur das Rascheln von Albrechts blutroter Robe zu hören war. Wie der Staatsanwalt das Wort [99] ergriff und für den Angeklagten zehn Jahre Zuchthaus forderte. Wie sich das Gericht abermals zur Beratung zurückzog. Wie Albrecht, eine Viertelstunde später, das Urteil verkündete, im Namen des Deutschen Volkes, daß nämlich das von Staatsanwalt Dr. Bruchhaus beantragte Strafausmaß auf acht Jahre Zuchthaus herabgesetzt werde, weil der Angeklagte sich den Werbebemühungen der Französischen Fremdenlegion widersetzt und damit bewiesen habe, noch einen Funken Ehrgefühl zu besitzen. Wie er nicht wußte, ob aufatmen oder verzweifeln. (Sein erster Gedanke war: Acht Jahre Zuchthaus, das pack ich nie.) Wie sich der Saal im Handumdrehen leerte. Wie er allein zurückblieb, im Kabuff mit dem angeschraubten Sitzbrett. Wie ihn nach einigen Minuten zwei Gestapomänner holen kamen. Wie sich vorher noch der Gerichtsdiener in seiner Nähe zu schaffen machte, ihm dabei zuflüsterte: Der Krieg dauert keine zwei Jahre mehr.

Hugos Leben wäre wirklich anders verlaufen, glaube ich. Wenn sein Vater sich bloß die Zeit genommen hätte, ihm zu erzählen. Etwa davon, wie sehr ihn die beiden Jahre zwischen Verurteilung und Befreiung noch zermürbt haben. Wenn er an das gerührt hätte, was vielleicht am meisten weh tat: an die Erinnerung an eine mondhelle Nacht in Butzbach, in der er auf seiner Pritsche lag und das Schattenmuster betrachtete, das die Gitterstäbe an die Wand warfen. Am 5. und 6. Dezember 1944, vor und nach Mitternacht. Er fand lange keinen Schlaf, weil ihn die Backenknochen, die Rippen, die Beine, das Kreuz, der [100] Magen schmerzten, und weil er vor Kälte zitterte. Sooft er sich herumwälzte, konnte er im Zwielicht die Umrisse seiner Zellengenossen Kaspar Göb und Otto Renner erkennen, die sich das Stockbett neben ihm teilten. Salzmann war froh über ihre Gesellschaft. Göb verströmte Zuversicht, Renner war bedächtig. Der eine hatte für untergetauchte Juden und Deserteure Lebensmittelkarten gefälscht und war deshalb zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Den andern hatte man schon im Sommer dreiunddreißig wegen staatsfeindlicher Umtriebe festgenommen. Im KZ Esterwegen hatte ihn ein Aufseher mit dem Gewehrkolben krumm geschlagen, seither plagten ihn ständige Rückenschmerzen. Aber jetzt ging sein Atem regelmäßig. Salzmann versuchte, den Rhythmus anzunehmen. Schon im Halbschlaf hörte er seinen Namen rufen. Er richtete sich auf und blickte hinüber zu Göb, hinauf zu Renner. Sie rührten sich nicht, er mußte sich getäuscht haben. Er dachte an den kommenden Tag, die Arbeit in der Maschinenhalle nebenan, wo er Durchmesser und Außenrand der Zünderköpfe zu prüfen hatte, die von Häftlingen und Zivilarbeitern an Revolverbänken gefertigt wurden. An den Ausschuß, und wie lange sich die hohe Quote vor der Kontrolle noch rechtfertigen ließ. Darüber schlief er ein. Aber wie es Erschöpften für gewöhnlich ergeht, schlief er weder tief noch lang. Wieder meinte er eine Stimme zu hören, die ihn beim Namen rief, lauter und flehender als vorhin. Er fuhr hoch, stützte sich auf einen Ellbogen und flüsterte: Kaspar, [101] Otto? Sie antworteten nicht. Ihm stockte der Atem bei der Vorstellung, daß jemand weit weg seinen Beistand suchte. Wer, wenn nicht Juliana, die in Lebensgefahr schwebte. Oder war es doch nur Einbildung, Überreizung der Nerven. Er schob den harten Keil unter seinem Kopf zurecht, drehte sich zur Wand und beobachtete, wie sich das Muster der Stäbe allmählich auflöste....