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Ein Mann, ein Mord - Kayankayas dritter Fall

Jakob Arjouni

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600032 , 192 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[87] 9

»Kommen Sie, kommen Sie, aus hundert Mark zweihundert – schauen Sie, gewinnen Sie! Wo ist die Kugel? Hier? Nein. Hier? Nein. Hier ist die Kugel! Und weiter geht’s … hundert Mark auf die Hand, keine Tricks, kein doppelter Boden – ehrliches Spiel. Schauen Sie genau hin, schauen Sie …«

Die kleine weiße Kugel flitzte von links nach rechts, von oben nach unten, hüpfte übers Pflaster, tauchte mal zwischen den Fingern, mal unter einer der drei Streichholzschachteln auf und war schließlich verschwunden; noch einmal vertauschte der Spieler die Schachteln, hielt inne, wedelte mit einem Bündel Hunderter und sah unschuldig in die Runde.

»… wo ist die Kugel?«

Seit zehn Minuten kniete er auf dem Bürgersteig, wirbelte Pappe durcheinander und hatte zwei besoffenen Japanern und einem Kleinstadtgroßmaul in Nappagarnitur vierhundert Mark abgenommen. Etwa zwanzig Männerköpfe wogten skeptisch im Aprilwind. Alle wußten, gewinnen war unmöglich, aber alle schauten auf das Bündel. Der Wind fegte in heftigen Böen, Autos hupten, und Menschen rannten, und eine Megaphonstimme verkündete die Revolution auf dem Spülbürstensektor – im Kreis um den Spieler herrschte Stille. Als er in die Hände klatschte und von neuem seinen Spruch runterleiern wollte, trat ein Pole zwei Schritte vor, setzte seinen Stiefel auf die linke Schachtel, fischte einen Hundertmarkschein aus der Brieftasche und sagte »Zeigen«.

[88] In die Runde kam Bewegung, einige nickten zustimmend, andere wandten sich kopfschüttelnd ab.

Der Spieler betrachtete den Stiefel. »Seh ich aus wie ’n Schuhputzer?«

Der Pole zuckte die Schultern und bückte sich. Doch kurz bevor er die Schachtel heben konnte, stolperte ein kleiner Dicker aus dem Nichts, lallte besoffen und stieß ihn um. Ein Raunen ging durchs Publikum, und ehe der eine sich fluchend die Hose abgeklopft hatte und der andere verschwunden war, hatte die Kugel den Platz gewechselt.

Ich lehnte gegen die Auslage eines Sexshops, rauchte und beobachtete den Eingang zum EROS-CENTER ELBESTRASSE. Es war kurz vor sechs. Koffer- und Gemüsehändler begannen ihre Ware reinzuräumen.

Während der Pole zum ersten Schlag ansetzte, stoben die Plastiklappen auseinander, und Slibulsky hüpfte die Treppe runter. Ich wartete, bis er die Kreuzung erreicht hatte, dann warf ich die Zigarette weg. Im selben Moment flog mir der Pole in die Seite. Ich stürzte zu Boden, er hinterher, und gemeinsam landeten wir im Rinnstein. Röchelnd blieb er auf mir liegen. Sie mußten ihm eins mit dem Schlagring verpaßt haben. Ein Schneidezahn fehlte, und das Blut spritzte wie aus einem undichten Schlauch. Ich stieß ihn beiseite, rappelte mich hoch und suchte die Straße ab. Slibulsky war verschwunden.

»Sorry, aber konnte ich wissen, daß so ’n Polacke gleich aus ’n Latschen kippt?« Es war einer aus der Hütchenspielrunde, keine achtzehn, milchige Haut, Augenringe wie ein Alter. Er hatte auch gesetzt, aber gewonnen. Ein [89] Lockvogel. Jetzt trat er von einem Bein aufs andere, rieb sich die in Eisen gefaßte Hand und betrachtete mich abwartend. Vielleicht hielt er mich für eine der Figuren vom Kiez, mit denen man sich’s besser nicht verdirbt. »… naja, tut mir leid, wegen dem Anzug mein ich.«

Ich sah an mir herunter. Tatsächlich sah es aus, als käme ich vom Schlachtfest.

»Tja, das wird ’ne teure Reinigungsrechnung …«

Er ging einen Schritt zurück. »Tja …«

»Aber vielleicht können wir’s auch anders regeln. Du kennst doch sicher Ernst Slibulsky, drüben vom Center?«

»Der mit der Knubbelnase?«

»Genau. Und ’nem gebrochenen Arm. Ich will wissen, wo das passiert ist.«

»Wo der sich den Arm gebrochen hat?! Keine Ahnung. Ich seh den doch bloß. Und was man so hört.«

»Und wo siehst du ihn?«

»Na, hier. Immer rein und raus, und manchmal drüben im WÜRFEL

»Ach …«

»… Mann, Sie sind doch nicht etwa ’n Bulle?«

Ich sah auf und zuckte die Schultern. »So was Ähnliches.«

Mit einem Gesicht, als wäre er genau da reingetreten, sagte er »Scheiße!«, rannte zu seinen Partnern und gab das Zeichen zum Abhauen. Innerhalb von zwei Sekunden war der Hütchenspielplatz wie leergefegt.

Der Pole saß inzwischen aufrecht gegen einen Reifen gelehnt und betupfte mit einem Hemdzipfel seine Lippen. Ich steckte eine Zigarette an und klemmte sie ihm [90] zwischen die Finger. Er nickte abwesend. Ansonsten keine Reaktion. Vielleicht war er Nichtraucher. Ich klopfte ihm auf die Schulter, murmelte irgendwas Aufmunterndes und lief über die Straße.

DER LÄCHELNDE WÜRFEL hätte eigentlich ›Der lächelnde Chinese‹ heißen müssen. So wenig ein Würfel je lächeln wird, soviel schien Wang nichts anderes zu können. Ob um Haus und Hof gebrachte Männer heulend zur Tür krochen, die Polizei Razzia machte oder die Mafia das Inventar zerschlug – der kleine Mann aus Hongkong saß mit verschränkten Armen hinter der Theke und lächelte, als wäre die Welt eine große Frühlingsrolle. Zur Zeit hieß es, er sei verreist. Vor zwei Monaten hatte jemand Frau Wang erwürgt und einen jungen Burschen samt Schrank aus ihrem Schlafzimmerfenster im vierten Stock gefeuert. Seitdem führte Wangs Leibwächter die Geschäfte. Schlumpi, oder Arsch-mit-Ohren-Peter, lächelte nie. Jedenfalls war es für niemand erkennbar, denn nach einem Unfall beim Autorennen hatten sie ihm die Haut für die untere Gesichtshälfte vom Hintern wegschneiden müssen.

Die zwei kleinen Räume plus Bar lagen im Tiefparterre. Sie waren mit Roulette, Blackjack, Würfelecke und Schachuhren ausgestattet und hatten eine seit Jahren verkommene Eleganz. Alles war morsch und fleckig, selbst dem Croupier, zwar im schwarzen Anzug und mit Fliege, fehlte am Hemd ein Knopf, und von seinen Manschetten hingen Fransen. Durch schmale Fenster zum Bürgersteig sah man Beine auf hohen Hacken auf und ab marschieren. Um den Roulette-Tisch saßen elf Männer, tranken Bier [91] und verloren ihr Geld. Ich stand an der Theke, trank ebenfalls Bier und wartete. Die Frau dahinter warf von Zeit zu Zeit einen befremdeten Blick auf meinen Anzug, sagte aber nichts. Außer den Anweisungen des Croupiers fiel kein Wort.

Zehn Minuten später öffnete sich neben der Theke eine Tür mit der Aufschrift ›Büro‹, und Schlumpi trat in weißem Wolfspelzmantel hinter die Kasse. Nachdem er ein Bündel Geldscheine hineingeworfen und die Lade wieder geschlossen hatte, schaute er auf und bemerkte nach kurzer Pause: »Sieh an, Robin Hood aus Istanbul.«

Die Tür öffnete sich zum zweiten Mal, und Slibulsky und ein Mann, den ich nicht kannte, kamen heraus. Slibulsky stutzte. »Kayankaya … was machst du denn hier?«

»Trinke Bier, und Schlumpi erzählt mir alte Witze.«

»Ah …«

Während sich Slibulsky von dem Mann, den ich nicht kannte, verabschiedete, lehnte sich Schlumpi über die Theke, deutete auf meinen Anzug und hauchte durch sein lippenloses vernarbtes Loch: »Ich kenn noch einen – ganz neu: Kayankaya hat ’ner Fotze die Regel weggeleckt.«

»Unheimlich komisch. Aber das komischste daran ist …«

Slibulsky zog mich am Ärmel. »Komm, wir gehen.« Und zu der Frau hinter der Theke: »Schreib sein Bier auf meine Rechnung.«

Die Frau nickte.

»Wußte gar nicht, daß du Schlumpi kennst.«

»Und ich nicht, daß du Roulette spielst.«

[92] Wir liefen über die Kaiserstraße Richtung Bahnhof. Hinter den drei Bögen ging die Sonne unter, und links und rechts hingen Abendrotfetzen. Ein Hauch von Frühling lag in der Luft.

»Wer hat dir gesagt, daß ich da drin bin?«

»Jemand von der Straße.«

Wir drängten uns an einer Gruppe Fixer vorbei, die versuchten, ›We are the world‹ im Chor mit Kammbegleitung anzustimmen.

»Eigentlich wollte ich nur fragen, wo du dir den Arm gebrochen hast.«

Slibulsky blieb stehen. »Deshalb hast du mich gesucht?«

Ich nickte. Er machte den Mund auf, schloß ihn seufzend, um ihn dann von neuem zu öffnen und sagte »Im Center.«

»Wo da?«

»Sag mal, spinnst du?«

Ich wies mit dem Kinn zur nächsten Kneipe. »Laß uns ’n Bier trinken.«

»Keine Zeit. Ich muß arbeiten.«

»Später?«

»Heute nicht und morgen nicht. Es kommen neue Frauen.« Er sah auf die Uhr. »Eigentlich sollte ich schon längst da sein.«

»Na, schön. Sag mir wenigstens, wie das Spiel ausgegangen ist.«

»Welches Spiel?«

»Becker gegen …«

»Ach das … hab’s nicht zu Ende gesehen. Übrigens, ein Typ hat angerufen, ’n Name wie Baum.«

[93] »Weidenbusch?«

»Kann sein. Sollst dich dringend melden. Also …«

Als Slibulsky im Passantengewühl verschwunden war, hielt vor mir ein älterer Herr mit roter Samtfliege und zeigte eine Weste voller Armbanduhren. »Echt Schweizer Fabrikat, Monsieur.«

Ich entschied mich für eine besonders protzige, ging in die Kneipe und bestellte Bier und Korkenzieher. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Wie tief mußte Slibulsky im Schlamassel stecken, daß ich ihn nicht mehr rausholen wollen würde? Mittenrein in meine Überlegungen brachte der Kellner die Bestellung. Ein kleiner Dicker mit schmutziger Schürze und zurückgekämmten fettigen Haaren. Nachdem er kassiert hatte, wies er auf den Korkenzieher und fragte unwirsch: »Wolle Se sisch dademit die Fingäneschl säubern?«

Ich schüttelte...