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Zügellos

Dick Francis

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600155 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[7] 1

Der abgemagerte alte Mann, der langsam an Knochenkrebs starb, saß wie immer in seinem großen Armsessel, und Tränen einsamen Schmerzes liefen an seinen eingefallenen Wangen hinunter.

An diesem Dienstag, seinem letzten, verstärkte er in anhaltendem Schweigen krampfhaft den harten Griff um mein Handgelenk, während ich sah, wie seine Lippen unter der immensen Anstrengung, etwas zu sagen, zitterten und bebten.

»Pater.« Endlich brachte er die Worte heraus, ein verzweifeltes Flüstern, geboren aus höchster Not. »Pater, ich muß beichten. Ich muß um Vergebung bitten.«

Überrascht und voll Mitgefühl sagte ich: »Aber… ich bin doch kein Priester.«

Er hörte nicht zu. Die schwache Stimme, die seine Verfassung besser spiegelte als die grimmig zupackende Hand, wiederholte einfach: »Pater… vergeben Sie mir.«

»Valentine«, sagte ich ruhig, »ich bin Thomas Lyon. Wissen Sie nicht mehr? Ich bin hier, um Ihnen vorzulesen.«

Sein äußeres Gesichtsfeld war noch halbwegs intakt, aber er konnte nichts mehr sehen, geschweige denn lesen, was er direkt vor Augen hatte. Ich kam so etwa alle acht Tage vorbei, um ihm das Neueste aus den Rennsportbeilagen vorzutragen, und auch, damit seine geplagte, chronisch erschöpfte alte Schwester in Ruhe einkaufen gehen und ein Schwätzchen halten konnte.

Diesmal hatte ich ihm gar nicht vorgelesen. Als ich gekommen war, hatte er unter einem seiner in Abständen auftretenden Schmerzanfälle gelitten: Seine Schwester Dorothea hatte ihm [8] einen Teelöffel flüssiges Morphin eingeflößt und danach Whisky mit Wasser, um die Wirkung zu beschleunigen.

Nach Rennsportneuigkeiten hatte ihm nicht der Sinn gestanden.

»Setzen Sie sich einfach zu ihm«, bat Dorothea. »Wie lange können Sie bleiben?«

»Zwei Stunden.«

Sie hatte sich auf die Zehen gestellt, mich dankbar auf die Wange geküßt und war davongeeilt, korpulent, Ende siebzig, immer offen und direkt.

Ich saß wie gewohnt auf einem Frisierhocker gleich neben dem alten Mann, der die Körpernähe suchte, als ob sie ihm das Sehen ersetzte.

Die flatterige Stimme kam wieder, drang angestrengt in den stillen Raum, entschlossen und vertraulich: »Ich bekenne vor Gott dem Allmächtigen und vor dir, mein Vater, daß ich maßlos gesündigt habe… und ich muß beichten… bevor ich… bevor…«

»Valentine«, wiederholte ich lauter, »ich bin kein Priester.«

Es war, als hätte er es nicht gehört. Er schien sich mit aller ihm noch verbliebenen Energie auf ein geistiges Würfelspiel ganz besonderer Art zu konzentrieren, auf einen Wurf, mit dem er am Rand des Abgrunds noch die Hölle besiegen konnte.

»Ich bitte um Vergebung für meine Todsünde… bitte um Frieden mit Gott…«

Ich protestierte nicht mehr. Der alte Mann wußte, daß er sterben würde, daß der Tod nahe war. In den vergangenen Wochen hatten wir mit Gleichmut, ja sogar mit Humor über seine mangelnden Zukunftsaussichten gesprochen. Er dachte an sein langes Leben zurück. Er sagte mir, daß er mir testamentarisch alle seine Bücher vermacht habe. Wenn er überhaupt einmal eine religiöse Überzeugung geäußert hatte, dann die, daß der Gedanke an ein Leben nach dem Tod abergläubischer Quatsch sei.

Ich hatte nicht gewußt, daß er katholisch war.

[9] »Ich bekenne«, sagte er, »…daß ich ihn umgebracht habe… Gott verzeihe mir. Demütig bitte ich um Vergebung… Ich bete zu Gott dem Allmächtigen, er sei mir gnädig…«

»Valentine…«

»Ich habe Derry das Messer gegeben, und ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht und über die ganze Sache nie ein Wort gesagt, und dafür klage ich mich an… und ich habe nur Lügen erzählt… mea culpa… was habe ich ihnen angetan… ihr Leben habe ich zerstört… und sie wußten es nicht, sie haben mich weiter gemocht… nur ich habe mich verachtet… bis heute. Pater, lassen Sie mich Buße tun… und sprechen Sie mich los… sagen Sie es… Ego te absolvo… Ich vergebe deine Sünden im Namen des Vaters… bitte… ich bitte Sie…«

Ich hatte von den Sünden, die er bekannte, noch nie etwas gehört. Seine Worte sprudelten hervor, als spräche er im Fieber, ohne erkennbaren Zusammenhang. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß er von einer schweren Schuld phantasierte, die es nicht gab.

Die Verzweiflung hinter seinem wiederholten Flehen stand jedoch außer Frage.

»Pater, sprechen Sie mich los. Bitte, Pater, sagen Sie die Formel… sprechen Sie.«

Ich konnte keinen Schaden darin sehen. Er wünschte sich verzweifelt, in Frieden zu sterben. Jeder Priester hätte ihm die Absolution erteilt: Sollte ich so hartherzig sein, sie ihm zu verweigern? Ich war nicht seines Glaubens, aber das konnte ich auch nachher noch mit meiner unsterblichen Seele abmachen.

Also kam ich seinem Wunsch nach. Ich sagte die Formel, förderte die Worte aus dem Gedächtnis zutage. Sagte sie auf Latein, da er sie offensichtlich so kannte und weil es mir weniger geflunkert erschien, als wenn ich sie unverblümt auf englisch ausgesprochen hätte.

»Ego te absolvo«, sagte ich.

[10] Ein Schauer lief durch meinen Körper. Aberglaube, dachte ich.

Weitere Wörter stellten sich ein. Sie gingen mir von den Lippen. »Ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.«

Ich vergebe dir deine Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Die bislang größte Gotteslästerung in meinem Leben. Möge Gott mir den Frevel verzeihen, dachte ich.

Die fürchterliche Gespanntheit des alten Mannes ließ nach. Die fast blinden, entzündeten Augen schlossen sich. Der Griff um mein Handgelenk lockerte sich – die alte Hand fiel herab. Sein Gesicht erschlaffte. Er lächelte leise und lag dann still.

Erschrocken tastete ich unter seiner Kinnbeuge nach dem Puls und fühlte erleichtert das dünne Klopfen. Er lag regungslos da. Ich schüttelte ihn ein wenig, doch er wachte nicht auf. Nach fünf Minuten schüttelte ich ihn noch einmal fester, und wieder reagierte er nicht. Unschlüssig stand ich von dem Platz an seiner Seite auf, ging zum Telefon und wählte die dick auf einem Block notierte Nummer seines Arztes.

Der Medizinmann war alles andere als erfreut.

»Ich hab dem alten Narren gesagt, daß er ins Krankenhaus gehört«, versetzte er. »Ich kann doch nicht in einer Tour rauskommen und ihm die Hand halten. Wer sind Sie überhaupt? Und wo ist Mrs. Pannier?«

»Ich bin zu Besuch«, sagte ich. »Mrs. Pannier ist einkaufen.«

»Leidet er?« wollte der Arzt wissen.

»Jetzt nicht mehr. Mrs. Pannier hat ihm ein Schmerzmittel gegeben, bevor sie weg ist. Dann hat er geredet. Jetzt liegt er in einer Art Schlaf, aber ich kriege ihn nicht wach.«

Der Arzt legte mit einem halblaut geknurrten Fluch auf und überließ es mir, seine Absichten zu erraten.

Ich hoffte nur, daß er nicht schnurstracks einen [11] Krankenwagen schickte mit heulender Sirene, geschäftigen Sanitätern und all dem unsanften Drumherum, das man den Todkranken anzutun pflegt. Valentine hatte friedlich in seinem Bett sterben wollen. Während ich dort wartete, bedauerte ich den Anruf beim Arzt und dachte, daß ich wahrscheinlich genau das in Gang gesetzt hatte, was Valentine unter allen Umständen vermeiden wollte.

Meine Dummheit bereuend, setzte ich mich dem ruhig schlafenden Mann gegenüber in einen Sessel, der bequemer war als der Hocker neben ihm.

Im Zimmer war es warm. Er trug einen blauen Baumwollpyjama und hatte eine Wolldecke über den Knien. Die noch kahlen Zweige der Bäume draußen vor dem Fenster, an dem er saß, verhießen einen Frühling, den er nicht mehr erleben würde.

Der wie ein Arbeitszimmer gestaltete Raum, ganz von ihm geprägt, spiegelte eine ungewöhnliche Reise durch die Zeit wider, die mit körperlicher Schwerarbeit begonnen und im Journalismus geendet hatte. Als Sohn eines Hufschmieds war er von klein auf in das Schmiedehandwerk eingeführt worden, schon als Knirps hatte er in der Werkstatt des Vaters den Blasebalg bedient, so gut er es mit seinen dünnen Armen nur konnte, die jungen Augen erregt von dem Lärm und dem Feuer. Es hatte nie ein Zweifel bestanden, daß er diesen Beruf ergreifen würde, und erst nachdem er lange Jahre als Schmied tätig gewesen war, hatte er sich anderen Dingen zugewandt.

Gerahmte, schon verblaßte Fotos an den Wänden zeigten einen jungen Valentine mit der Arm- und Brustmuskulatur eines Riesen, einen mehrfach ausgezeichneten Kraftmeier mit dem fröhlichen breiten Grinsen der Unschuld. Aber mit dem Idyll von der Dorfschmiede unterm Kastanienbaum war es schon damals vorbei. Der ältere Valentine war mit Werkzeug und tragbarer Kohlenpfanne im Auto von Kunde zu Kunde gefahren. Jahrelang hatte er auch die Pferde im Rennstall meines [12] Großvaters beschlagen. Er hatte nach den Füßen der Ponys gesehen, die ich reiten durfte. Obwohl er mir damals schon wie ein weiser Mann von sagenhaftem Alter vorgekommen war, wußte ich jetzt, daß er, als ich zehn war, erst fünfundsechzig gewesen war.

Seine Bildung hatte sich ursprünglich auf das Lesen von Rennsportzeitungen, das Schreiben von Lieferscheinen für die Kunden und das Rechnen für die Kosten-Nutzen-Kalkulation beschränkt. Erst als er in den Vierzigern war, hatte er seinen Horizont erweitert und geistige Fähigkeiten entwickelt, die seiner Muskelkraft entsprachen. Auslösend dafür, so hatte er mir in den vergangenen Wochen der Entkräftung erzählt, war die moderne Art des...