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Geschichten von natürlichen und unnatürlichen Katastrophen

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601497 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[9] Der geheimnisvolle Friedhof

Am Rande der Kleinstadt G. im Osten von Österreich liegt ein geheimnisvoller Friedhof, kaum einen Hektar groß. Hier ruhen vor allem die sterblichen Überreste der Armen, in Gräbern ohne Grabsteine – oder bestenfalls mit Bruchstücken solcher Steine versehen, von denen sich inzwischen keines mehr an der richtigen Stelle befindet. Und doch ist der Friedhof für seine seltsamen Gewächse oder Wucherungen berühmt geworden: Knollige kleine Figuren, blaugrün oder cremeweiß, ragen auf unheimliche Weise aus dem Boden. Manche erreichen eine Höhe von gut zwei Metern, andere dieser pilzartigen Wucherungen sind nur fünfzig Zentimeter groß, ein paar sogar kleiner. Alle aber wirken sie grotesk, nichts anderem in der Natur vergleichbar, nicht einmal Korallenformationen. Als sich einige dieser kleinen Wucherungen über dem matschigen, grasbewachsenen Boden zeigten, machte der Friedhofswärter eine Schwester aus dem gleich gegenüberliegenden Allgemeinen Krankenhaus darauf aufmerksam. Der Friedhof lag hinter dem roten Backsteingebäude des Hospitals, deshalb war er leicht zu übersehen, wenn man sich ihm auf der einzigen Straße näherte, die daran vorbeiführte. Eine Abzweigung verband sie mit dem Krankenhauseingang.

Der Friedhofswart, Andreas Silzer, berichtete, er habe [10] ein paar dieser Wucherungen mit der Hacke abgeschlagen und sie auf den Komposthaufen geworfen, wo sie verrotten sollten. Aber sie waren nicht verrottet.

»Das ist nur ein Pilz, doch da kommt noch mehr von dem Zeug«, sagte er. »Ich habe Unkrautvernichter versprüht – was Stärkeres will ich nicht nehmen, damit die Blumen nicht eingehen.« Andreas kümmerte sich treusorgend um die Stiefmütterchen, Buschrosen und anderen Blumen, die ein paar Verwandte von Verstorbenen gepflanzt hatten. Ab und zu bekam er ein Trinkgeld für seine Mühen.

Die Krankenschwester antwortete nicht gleich. Dann sagte sie: »Ich spreche mit Dr. Müller. Danke, Andreas.«

Die Schwester, Susanne Richter, gab jedoch nicht weiter, was Andreas ihr berichtet hatte. Sie hatte ihre Gründe (oder besser, Ausreden) dafür: Zum einen übertrieb Andreas wahrscheinlich – er dürfte ein paar große Schwämme auf den Grabsteinen gesehen haben, wegen des vielen Regens der letzten Wochen; zum anderen wußte sie, wo ihr Platz war (schlecht war er nicht), und wollte ihre Arbeit behalten und nicht in den Ruf geraten, eine Wichtigtuerin zu sein, die dort herumschnüffelte, wo sie nichts zu suchen hatte, auf dem Friedhof nämlich.

Praktisch betrat nämlich niemand das dunkle Feld hinter dem Allgemeinen Krankenhaus, außer eben Andreas. Er war etwa fünfundsechzig und wohnte mit seiner Frau in der Stadt. An drei Tagen in der Woche radelte er zum Friedhof hinaus. Andreas arbeitete auf Altersteilzeit (er war schon halb im Ruhestand) und erhielt zusätzlich zu seiner Rente monatlich ein kleines Gehalt für die Pflege der Grünanlagen des Krankenhauses und des Friedhofs. Die Begräbnisse [11] dort, durchschnittlich drei pro Monat, wurden gewöhnlich von dem örtlichen Pfarrer erledigt, der ein paar Worte sagte, und von den Totengräbern begleitet, die neben dem Grab standen, um es später aufzufüllen. Nur in etwa der Hälfte der Fälle waren auch Verwandte der Verstorbenen anwesend. Manche der alten Männer und Frauen, die im Spital starben, waren ganz allein auf der Welt – oder ihre Kinder lebten weit weg. Ein trauriger Ort, das Allgemeine Krankenhaus von G.

Allerdings nicht für einen jungen Medizinstudenten der Universität G. namens Oktavian Ziegler. Zweiundzwanzig war er, groß und schlank, und steckte voll Energie und Humor, was ihn bei den Mädchen beliebt machte. Außerdem war er als Student geradezu brillant und stand bei seinen Professoren hoch im Kurs. Oktavian – der Name kam daher, daß sein Vater, ein Oboist, den Komponisten Richard Strauss regelrecht anbetete und gehofft hatte, sein Sohn werde ebenfalls Komponist werden – Oktavian also war sogar eingeladen worden, an einigen Experimenten mitzuwirken, die Ärzte des Spitals zusammen mit ein paar Medizinprofessoren an Patienten mit Krebs im Endstadium durchführten. Diese Versuche fanden in einem großen Raum im obersten Stockwerk des Spitals statt; dort gab es lange Operationstische, mehrere Spülbecken und gutes Licht. Die sanitären Bedingungen waren nicht weiter wichtig, weil die Versuche in diesem Geschoß an Leichen stattfanden. Oder aber an Krebsgewebe, das noch lebenden Patienten entnommen worden war. Oder an einer Leiche vor deren Überführung auf den Friedhof. Die Ärzte wollten mehr über die Ursachen und mögliche Heilung von Krebs [12] erfahren, auch über die Gründe für das Wachstum der Tumore, sobald sich der Krebs eingenistet hatte. In diesem Jahr hatten amerikanische Forscher entdeckt, daß ein bestimmter genetischer Defekt einer jener Faktoren war, die zu Krebs führten, doch die gefürchtete Krankheit benötigte noch einen zweiten Faktor, damit sich bösartige Tochterzellen bilden und metastasieren konnten: Karzinogene, so hieß der Sammelbegriff für alle Substanzen, die bei Meerschweinchen oder bei jedem anderen Lebewesen Krebs auslösen konnten, sofern der Wirtsorganismus von Natur aus den ersten Faktor, den Gendefekt, mitbrachte. Soweit war alles bekannt. Die Ärzte und Forscher am Allgemeinen Krankenhaus in G. wollten nun mehr herausfinden, mehr über die Gründe für das Wachstum der Tochterzellen und deren Vermehrungsrate, mehr über die Reaktion des bösartigen Tumors, wenn massive Dosen karzinogener Stoffe in bereits vom Krebs befallenes Gewebe injiziert wurden. Solche Experimente ließen sich an lebenden Menschen nur schwer durchführen, aber mühelos an einem Organ oder einem Stück menschlichen Gewebes, das unabhängig vom Körper etwa an einer kleinen Pumpe hing, die für die Blutzirkulation sorgte. Reinigen ließ sich das Blut, ganz gleich, wie wenig es war, nur durch ein Filtersystem (oder indem man ständig frisches Blut nachpumpte), doch keiner der Ärzte wollte ein einzelnes Experiment über Wochen fortführen.

Allerdings beobachteten die Ärzte und Oktavian bei einer krebsbefallenen Lebergewebeprobe eines verstorbenen Patienten, daß das kranke Gewebe nach Zugabe karzinogener Substanzen noch weiter wuchs, selbst als die [13] Blutzufuhr unterbrochen und alles Blut abgesaugt worden war. Die Ärzte sahen keinen Sinn darin, herauszufinden, wie groß der Tumor werden würde; jedoch bewahrten sie Gewebeproben auf, um sie unter dem Mikroskop zu betrachten – nur für den Fall, daß sich daraus neue Erkenntnisse gewinnen lassen sollten. Die letztlich nicht mehr benötigten Überreste dieser Gewebeproben wurden im Keller des Krankenhauses entsorgt, wo sich ein ausreichend großer Brennofen befand, der vom normalen Heizungskreislauf abgekoppelt war und ausschließlich für die Verbrennung von Verbänden und anderem verschmutzen Material aller Art verwandt wurde.

Anders war das bei den durchschnittlich anfallenden drei Leichen pro Monat; sie wurden auf dem Friedhof begraben, ohne einbalsamiert worden zu sein, manchmal nur in einem Leichentuch statt in einem Holzsarg. Bei ein paar Krebspatienten injizierten die Ärzte in den letzten Lebenstagen, wenn das Morphium die Sinne der Sterbenden betäubt und die Lokalanästhesie den Rest erledigt hatte, karzinogene Substanzen in der Hoffnung auf das, was Journalisten einen »sensationellen Durchbruch« nennen würden – die Ärzte dagegen hätten solche Worte nie in den Mund genommen. Die Krebsgeschwülste wuchsen, die sowieso todgeweihten Patienten starben, und wegen der Versuche sogar nicht in jedem Fall schneller. Manchmal wurden die gewachsenen Tumore herausgeschnitten, manchmal aber auch nicht.

Oktavian wurde die Aufgabe übertragen (passend für einen Studenten, denn sie galt als niedere Arbeit), dafür zu sorgen, daß die »Testleichen« über den großen alten Lift hinten vom obersten Stockwerk zum Friedhof [14] hinuntergeschafft wurden – nach einem kurzen Zwischenstopp im Keller (wegen des Sarges oder des Leichentuchs). Die Totengräber erledigten nebenbei auch andere Arbeiten; Oktavian mußte ein paar von ihnen anrufen, nicht selten kurzfristig, und sie taten, was sie konnten. Einer der Männer war gewöhnlich angetrunken, doch das nahm Oktavian hin, er scherzte mit den Männern und sorgte dafür, daß sie das Grab tief genug aushoben. Manchmal mußten sie eine Leiche auf oder neben eine andere legen; manchmal mußten sie ungelöschten Kalk streuen. All das war natürlich nur für die ärmeren Toten vorgesehen, die keine Verwandten hatten, die zur Beisetzung kommen konnten. Es war bei einer dieser Beerdigungen, im Herbst, als Oktavian die knubbeligen Wucherungen bemerkte, die Andreas nur wenige Tage zuvor der Krankenschwester gemeldet hatte. Oktavian entdeckte sie, als er, wegen der Kälte mit den Füßen aufstampfend, eine seiner seltenen Zigaretten rauchte. Er wußte sofort, was diese Dinger waren und woher sie kamen. Aber er sagte kein Wort zu den neben ihm grabenden Arbeitern. Einmal allerdings wollte er der Sache bei einer Wucherung nahebei auf den Grund gehen (mindestens zehn konnte er sehen) – er ging hin und stolperte unterwegs über einen umgestürzten Grabstein – die Nacht war ziemlich finster. Das eine Gebilde war bläulichweiß, rund fünfzehn Zentimeter hoch und oben halbkugelförmig abgerundet. Bis etwa zur Mitte ragte eine Kerbe oder Falte am Stamm empor, die in der Erde verschwand. Oktavian war zugleich verblüfft, amüsiert und besorgt: Im Vergleich zu dem, was seine Vorgesetzten und er im Labor zustande gebracht hatten, waren diese Wucherungen riesig. Und wie groß mußten sie erst [15] unter der Erde sein,...