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Beweise, daß es böse ist - Commissario Brunettis dreizehnter Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600735 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Sie war ein altes Ekel, und er haßte sie. Da er Arzt war und sie seine Patientin, drückte dieser Haß auf sein Gewissen, wenn auch nicht so schwer, daß er sie darum weniger gehaßt hätte. Wer so boshaft, habgierig und zänkisch war wie Maria Grazia Battestini – die zudem unentwegt über ihre Beschwerden klagte und über die wenigen Menschen, die ihre Gesellschaft noch ertrugen –, für den fand schließlich niemand, nicht einmal die großmütigste Seele, mehr ein gutes Wort. Der Pfarrer hatte sie schon lange aufgegeben, und ihre Nachbarn äußerten sich ablehnend, ja manchmal unverhohlen feindselig über sie. Ihre Familie blieb nur noch um der Erbschaft willen mit ihr in Kontakt. Er aber war Arzt und mithin zu seiner allwöchentlichen Visite verpflichtet, die sich freilich inzwischen auf eine flüchtige Erkundigung nach ihrem Befinden beschränkte und auf das rasche Messen von Puls und Blutdruck. In den fünf Jahren, die er nun schon zu ihr kam, war sie ihm so zuwider geworden, daß er es irgendwann aufgab, gegen seine Enttäuschung über das Ausbleiben jeglicher Krankheitssymptome anzukämpfen. Sie war mittlerweile über achtzig; nach Aussehen und Gebaren hätte man ihr gut und gern zehn Jahre mehr gegeben, und doch würde sie ihn, ja sie alle miteinander überleben.

Er hatte einen Schlüssel und war es gewohnt, sich selbst einzulassen. Das Haus, ein dreistöckiges Gebäude, gehörte ihr allein. Und obwohl nur mehr ein Teil der zweiten Etage bewohnt war, erhielt sie in ihrer Bosheit und Raffgier die [8] Fiktion aufrecht, sie würde alle Räumlichkeiten nutzen, bloß um zu verhindern, daß die Tochter ihrer Schwester Santina im Stockwerk über oder unter ihr einzog. Er hätte nicht sagen können, wie oft sie in den Jahren seit dem Tod ihres Sohnes wüste Beschimpfungen gegen ihre Schwester ausgestoßen und ihm beteuert hatte, welche Genugtuung es ihr bereite, die Ansprüche ihrer Familie auf das Haus zu vereiteln. Die Gehässigkeit, mit der sie von ihrer Schwester sprach, hatte seit der gemeinsamen Kindheit ständig neue Nahrung bekommen.

Er drehte den Schlüssel nach rechts, und weil venezianische Türen die Eigenart haben, nicht gleich beim ersten Versuch nachzugeben, zog er unwillkürlich die Klinke an. Dann stieß er die Tür auf und betrat den schummrigen Hausflur. Kein Sonnenstrahl durchdrang die verkrustete Schmutz- und Fettschicht, die sich jahrzehntelang auf den beiden schmalen Fenstern über dem Eingang abgelagert hatte. Dem Doktor fiel die schlechte Beleuchtung schon gar nicht mehr auf, und da Signora Battestini es seit Jahren nicht mehr die Treppe hinunter schaffte, würden die Fenster wohl auf absehbare Zeit ungeputzt bleiben. Die Feuchtigkeit, die in den Mauern nistete, hatte die Stromleitungen angegriffen, aber sie weigerte sich, einen Elektriker zu bezahlen, und so hatte er es sich abgewöhnt, den Lichtschalter zu betätigen.

Beschwingten Schrittes machte er sich auf den Weg nach oben. Für den heutigen Vormittag war dies sein letzter Hausbesuch; sobald er die alte Schreckschraube versorgt hatte, würde er sich einen Aperitif genehmigen und anschließend zum Mittagessen gehen. Er mußte erst wieder [9] um fünf zur Sprechstunde in seine Praxis und war froh, daß ihm die Klagen seiner Patienten und der Anblick ihrer verbrauchten, aufgedunsenen Körper solange erspart bleiben würden.

Auf dem zweiten Treppenabsatz fiel ihm unversehens die neue Haushaltshilfe ein – wohl eine Rumänin, so jedenfalls hatte er die Alte verstanden, und es blieb ja keine lange genug, als daß er sich ihren Namen hätte merken können –, aber nun hoffte er, die neue würde eine Ausnahme machen. Seit ihrer Ankunft war die alte Xanthippe zumindest immer gewaschen und stank nicht mehr nach Urin. Im Lauf der Jahre hatte er die Mädchen kommen und gehen sehen; kommen, weil die Aussicht auf Arbeit und Lohn sie anlockte, auch wenn sie dafür eine Signora Battestini sauberhalten und füttern und ihre unablässigen Beschimpfungen ertragen mußten; gehen, weil eine jede irgendwann so ausgelaugt war, daß selbst die bitterste Not nicht so schwer wog wie die boshaften Attacken der Alten.

Als wohlerzogener Mensch klopfte er an der Wohnungstür; eine Artigkeit, die sich eigentlich erübrigte, da der plärrende Fernseher, der bis auf die Straße hinaus zu hören war, sein Pochen gewiß übertönte: Selbst die jüngeren Ohren der Rumänin – wie hieß sie doch gleich? – bemerkten sein Kommen nur selten.

Er nahm den zweiten Schlüssel, drehte ihn zweimal im Schloß und betrat die Wohnung. Wenigstens war es jetzt reinlich hier. Einmal, ungefähr ein Jahr nach dem Tod ihres Sohnes, hatte sich über eine Woche lang niemand blicken lassen, und die alte Frau war ganz auf sich allein gestellt. Er erinnerte sich bis heute an den Gestank, der ihm [10] entgegenschlug, als er beim nächsten seiner damals vierzehntägigen Besuche die Tür aufgesperrt hatte und in der Küche einen Tisch voller Schüsseln und Teller mit verdorbenen Speisen fand, die in der brütenden Julihitze vor sich hin faulten. Und an den Anblick des von Fettwülsten gepanzerten Körpers der Alten, wie sie nackt und mit Essensresten besudelt in einem Sessel vor dem ewig plärrenden Fernseher hockte. Damals war sie, vollkommen dehydriert und geistig verwirrt, im Krankenhaus gelandet, wo man ihrer freilich schon nach drei Tagen überdrüssig wurde und sie, ihrem eigenen Wunsch gemäß, nur zu gern nach Hause entließ. Dann war die Ukrainerin gekommen, die einen knappen Monat später mitsamt einem silbernen Serviertablett verschwand, und seine Visiten wurden auf einmal pro Woche erhöht. Ansonsten hatte sich nichts verändert: Das Herz der Alten schlug weiter, ihre Lunge sog unverdrossen die stickige Wohnungsluft ein, und die Fettwülste wurden immer dicker.

Der Tisch am Eingang, auf dem er seine Tasche abstellte, war erfreulich sauber, ein sicheres Zeichen dafür, daß die Rumänin immer noch da war. Er nahm das Stethoskop, hakte es hinter die Ohren und ging ins Wohnzimmer.

Wäre der Fernseher nicht gelaufen, hätte er das Geräusch vermutlich schon vom Flur aus gehört. Aber auf dem Bildschirm verlas die mehrfach geliftete Blondine mit den Shirley-Temple-Locken gerade den Verkehrsbericht, warnte die Autofahrer im Veneto vor den zu erwartenden Behinderungen durch traffico intenso auf der A4 und übertönte das emsige Summen der Fliegen, die geschäftig den Kopf der Alten umschwirrten.

[11] An den Anblick toter Greise war er gewöhnt, nur ging das Sterben im hohen Alter normalerweise gesitteter vonstatten als hier. Alte Menschen scheiden leise aus der Welt oder qualvoll, je nachdem, aber weil sie den Tod kaum noch als Bedrohung empfinden, widersetzen sich ihm die wenigsten mit Gewalt. Das hatte auch sie nicht getan.

Wer immer sie getötet hatte, mußte sie völlig überrumpelt haben, denn die leere Tasse und die Fernbedienung auf dem Tisch neben ihr waren unversehrt geblieben. Die Fliegen kreisten rastlos zwischen einer Schale mit frischen Feigen und Signora Battestinis Kopf. Die Arme der Toten waren nach vorne ausgestreckt, die linke Wange berührte den Boden. Die Wunde am Hinterkopf erinnerte ihn an einen Fußball, den der Hund seines Sohnes einmal so zerbissen hatte, daß zur Hälfte die Luft entwich. Im Gegensatz zum Kopf der Alten hatte die Hülle jedoch keinen Schaden genommen; nichts war ausgelaufen.

Er blieb in der Tür stehen und ließ den Blick suchend durch den Raum schweifen. Allein er war so benommen, daß er nicht recht wußte, wonach. Vielleicht nach dem Leichnam der Rumänin; vielleicht fürchtete er auch, daß plötzlich aus einem anderen Zimmer der Mörder auftauchen könnte. Doch nein, dem war, wie ihm die Fliegen verrieten, reichlich Zeit zur Flucht geblieben. Endlich drang der Klang einer menschlichen Stimme in sein Bewußtsein, und er schaute auf, aber alles, was er erfuhr, war, daß sich auf der A3 unweit von Cosenza ein Unfall mit einem Laster ereignet hatte.

Er durchquerte das Zimmer und stellte den Fernseher ab. Die Stille, die nun den Raum erfüllte, war weder [12] gedämpft noch pietätvoll. Er überlegte, ob er in den anderen Zimmern nach der Rumänin suchen sollte, um ihr, sofern sie noch am Leben war, Beistand zu leisten. Statt dessen ging er zurück in den Flur, nahm das telefonino aus seiner Tasche, wählte die 113 und meldete einen Mord in Cannaregio.

Die Polizei hatte wenig Mühe, das Haus zu finden, denn der Arzt hatte am Telefon erklärt, die Wohnung des Opfers befände sich am Anfang der calle rechts vom Palazzo del Cammello. Geschmeidig legte die Barkasse am Südufer des Canale della Madonna an. Zwei uniformierte Beamte sprangen ans Ufer, von denen einer sich gleich wieder zum Boot hinunterbeugte und den drei Kriminaltechnikern beim Entladen ihrer Ausrüstung half.

Inzwischen war es fast eins geworden. Den Männern rann der Schweiß von der Stirn, und bald klebten ihnen die Jacken am Leib. Während sie über die Hitze fluchten und sich ein ums andere Mal den Schweiß abtrockneten, schleppten vier von den fünfen die Ausrüstung zur Calle Tintoretto und weiter bis zu dem Haus, vor dem ein hochgewachsener, schlanker Mann sie erwartete.

»Dottor Carlotti?« fragte der Uniformierte, der beim Entladen des Bootes nicht mit angefaßt hatte.

»Ja.«

»Sie haben uns angerufen?« Beide Männer wußten, daß die Frage überflüssig war.

»Ja.«

»Können Sie mir Näheres sagen? Warum waren Sie hier?«

»Ich wollte zu einer Patientin – ich besuche sie einmal die [13] Woche –, Maria Grazia...