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Schöner Schein - Commissario Brunettis achtzehnter Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600766 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[26] 2

»Warum um Himmels willen sollte er in China investieren?«, wollte Brunetti wissen.

Sie machte abrupt halt. Sie standen vor der Kantine der Feuerwehr; die Fenster waren zu dieser Stunde dunkel, keine Essensgerüche strömten auf die calle hinaus. Ihm war das wirklich ein Rätsel. »Warum China?«, wiederholte er.

Sie schüttelte betont fassungslos den Kopf und sah sich um, als suche sie verständnisvolle Ohren. »Bitte, kann mir jemand sagen, wer dieser Mann da ist? Ich glaube, morgens sehe ich ihn manchmal neben mir im Bett, aber mein Mann kann das nicht sein.«

»Ach, hör auf, Paola. Erklär es mir einfach«, sagte er plötzlich müde und nicht in der Stimmung für Scherze.

»Wie kannst du täglich zwei Zeitungen lesen und keine Ahnung haben, warum jemand daran interessiert sein könnte, in China zu investieren?«

Er nahm ihren Arm und ging los. Es hatte keinen Sinn, das auf offener Straße zu besprechen; das konnten sie auch auf dem Heimweg tun oder zu Hause im Bett. »Natürlich weiß ich das alles«, sagte er. »Die boomende Wirtschaft, glänzende Gewinnaussichten, rasant steigende Aktienkurse, kein Ende in Sicht. Aber warum sollte dein Vater sich daran beteiligen?«

Wieder wurden Paolas Schritte langsamer; da er weitere Sticheleien fürchtete, behielt er sein Tempo bei und zog sie mit . »Weil mein Vater den Kapitalismus im Blut hat, Guido. [27] Weil die Faliers seit Jahrhunderten Kaufleute sind und weil Kaufleute von Natur aus auf Geldvermehrung aus sind.«

»Und das«, bemerkte Brunetti, »aus dem Mund einer Literaturprofessorin, der Geld angeblich wenig bedeutet.«

»Weil ich der letzte Spross der Familie bin, Guido. Ich werde die Letzte sein, die unseren Namen trägt. Unsere Kinder tragen deinen.« Ihre Schritte verlangsamten sich, ebenso ihre Stimme, aber sie hörte nicht auf zu reden. »Mein Vater hat sein Leben lang Geld gemacht und ermöglicht damit mir und unseren Kindern den Luxus, kein Interesse am Geldmachen zu haben.«

Brunetti, der mit seinen Kindern schon Tausende Partien Monopoly gespielt hatte, war allerdings davon überzeugt, dass sie das kapitalistische Gen geerbt hatten und an Geld mehr als interessiert waren.

»Und er meint, er kann dort Geld machen?«, fragte Brunetti und fügte, um weiteren Erkundigungen nach seinem Geisteszustand vorzubeugen, rasch hinzu: »Sicheres Geld?«

Sie sah ihn an. »Sicheres?«

»Na ja«, sagte er und merkte selbst, wie dumm sich das anhörte. »Sauberes Geld?«

»Immerhin akzeptierst du, dass es da einen Unterschied gibt«, sagte sie mit dem Sarkasmus einer Frau, die jahrelang die Kommunisten gewählt hatte.

Er schwieg eine Weile. Plötzlich blieb er stehen und fragte: »Was sollte eigentlich die Bemerkung deiner Mutter von wegen ›Essgewohnheiten‹? Und der ganze Unsinn, was die Kinder angeblich alles nicht essen?«

»Cataldos Frau ist Vegetarierin«, sagte Paola. »Und weil meine Mutter sie nicht in Verlegenheit bringen wollte, habe [28] ich – wie ihr Polizisten sagt – mich schuldig bekannt.« Sie drückte seinen Arm.

»Und daher auch das Märchen von meinem Appetit?«, rutschte ihm unwillkürlich heraus.

Zögerte sie kurz? Wie auch immer, sie zog an seinem Arm und bestätigte lächelnd: »Ja. Daher das Märchen von deinem Appetit.«

Wäre ihm Franca Marinello nicht durch ihre Unterhaltung sympathisch geworden, hätte er sich die Bemerkung wohl kaum verkniffen, dass sie keine besonderen Essgewohnheiten brauchte, um aufzufallen. Doch dank Cicero hatte er seine Voreingenommenheit gegen sie abgelegt und fühlte sich sogar berufen, diese Frau in Schutz zu nehmen.

Sie kamen an Goldonis Haus vorbei, dann ging es scharf links und wieder rechts und geradeaus bis San Polo. Als sie auf den Campo gelangten, blieb Paola stehen und schaute über den weiten Platz. »Seltsam, wenn es hier so menschenleer ist.«

Brunetti liebte den Campo, hatte ihn schon als kleiner Junge geliebt, wegen der Bäume, die es dort gab, und weil der Platz so groß und offen war. SS Giovanni e Paolo war zu klein, außerdem stand das Reiterstandbild im Weg, und die Fußbälle landeten ständig im Kanal; Santa Margherita hatte eine seltsame Form, außerdem war es ihm da immer zu laut gewesen, und jetzt erst recht, seit der Platz in Mode gekommen war. Vielleicht liebte er den Campo San Polo deshalb so sehr, weil dort nicht so viel Kommerz getrieben wurde; nur an zwei Seiten lagen Geschäfte, die anderen hatten den Lockungen des Mammons widerstanden. Die Kirche natürlich nicht, dort nahm man jetzt Eintrittsgeld, [29] nachdem man entdeckt hatte, dass Schönheit einträglicher war als Tugend. Nicht dass es dort sonderlich viel zu sehen gab: ein paar Tintorettos, den Kreuzweg von Tiepolo und sonst noch allerlei.

Paola zog ihn am Arm. »Komm, Guido, es ist schon fast eins.«

Er akzeptierte den Waffenstillstand, den sie ihm damit anbot, und sie gingen einträchtig nach Hause.

Am nächsten Tag bekam Brunetti in der Questura einen Anruf von seinem Schwiegervater. Das war ungewöhnlich. Brunetti dankte ihm noch einmal für den Abend und wartete dann ab, was der Conte ihm zu sagen hatte.

»Nun, was meinst du?«, fragte der Conte.

»Wie bitte?«, fragte Brunetti zurück.

»Was hältst du von ihr?«

»Von Franca Marinello?«, fragte Brunetti und suchte seine Überraschung zu verbergen.

»Ja, natürlich. Du hast doch den ganzen Abend mit ihr gesprochen.«

»Ich habe nicht gewusst, dass ich sie verhören sollte«, beteuerte Brunetti.

»Aber du hast es getan«, erwiderte der Conte spitz.

»Leider nur über Cicero«, sagte Brunetti.

»Ja, ich weiß«, sagte der Conte, und Brunetti fragte sich, ob es tatsächlich Neid war, was er heraushörte.

»Worüber hast du denn mit ihrem Mann gesprochen?«, erkundigte sich Brunetti.

»Über Erdbaumaschinen«, sagte der Conte mit einem bemerkenswerten Mangel an Enthusiasmus, »und derlei [30] mehr.« Nach einer winzigen Pause fuhr er fort: »Cicero ist unendlich viel interessanter.«

Brunetti erinnerte sich, dass seine Ausgabe von Ciceros Reden ein Weihnachtsgeschenk des Conte gewesen war und dass dieser in seiner Widmung auf der Titelseite erklärt hatte, es handele sich um eins seiner Lieblingsbücher. »Aber?«, hakte er nach.

»Aber Cicero«, antwortete der Conte, »ist unter chinesischen Geschäftsleuten nicht besonders gefragt.« Er überdachte seine Bemerkung und fügte mit einem theatralischen Seufzer hinzu: »Vielleicht, weil er so wenig über Erdbaumaschinen zu sagen hatte.«

»Haben chinesische Geschäftsleute mehr zu sagen?«

Der Conte lachte. »Du kannst das Verhören wirklich nicht lassen, stimmt’s, Guido?« Bevor Brunetti protestieren konnte, sprach der Conte weiter: »Ja, die wenigen, die ich kenne, sind sehr daran interessiert, vor allem an Bulldozern. Genau wie Cataldo und genau wie sein Sohn – der Sohn aus seiner ersten Ehe –, der ihre Baumaschinenfirma leitet. Die Bauwirtschaft in China boomt wie verrückt, und die Firma bekommt mehr Aufträge, als sie abwickeln kann; und deshalb hat er mich gefragt, ob ich als Teilhaber mit beschränkter Haftung bei ihm einsteigen möchte.«

Brunetti hatte im Lauf der Jahre gelernt, auf alles, was sein Schwiegervater über seine Geschäfte verlauten ließ, mit Vorsicht zu reagieren, und so ließ er auch jetzt nur ein aufmerksames »Aha« vernehmen.

»Aber das kann dich unmöglich interessieren«, sagte der Conte, und damit hatte er ziemlich recht. »Also, was hältst du von ihr?«

[31] »Darf ich fragen, warum du das wissen willst?«

»Weil ich vor einigen Monaten einmal beim Essen neben ihr gesessen habe und es mir wie dir gegangen ist, nachdem ich sie hier schon seit Jahren gesehen, aber nie wirklich mit ihr gesprochen hatte. Wir unterhielten uns zunächst über einen aktuellen Zeitungsartikel, und plötzlich erörterten wir die Metamorphosen. Wie wir darauf gekommen sind, weiß ich nicht mehr, aber es war wunderbar. Und in all den Jahren hatten wir kein Wort gewechselt, jedenfalls nichts von Belang. Deshalb schlug ich Donatella vor, dich und sie einander gegenüberzusetzen, damit ich mit ihrem Mann reden konnte.« Mit erstaunlicher Selbsterkenntnis fügte der Conte hinzu: »Du warst so viele Jahre gezwungen, mit unseren langweiligen Freunden zusammenzusitzen, und ich dachte mir, du hast mal eine Abwechslung verdient.«

»Vielen Dank«, sagte Brunetti und unterließ es, auf die Bemerkung des Conte über seine Freunde näher einzugehen. »Es war tatsächlich sehr interessant. Sie hat sogar die Anklage gegen Verres gelesen.«

»Oh, das freut mich für sie«, flötete der Conte.

»Kanntest du sie schon vorher?«, fragte Brunetti.

»Vor der Ehe oder vor dem Lifting?«, fragte der Conte sachlich.

»Vor der Ehe.«

»Ja und nein. Sie war mehr Donatellas Freundin als meine. Ein Verwandter hatte Donatella gebeten, ein Auge auf Franca zu haben, als sie zum Studium hierherkam. Byzantinische Geschichte, du liebe Zeit. Aber nach zwei Jahren musste sie fort. Schwierigkeiten in der Familie. Ihr Vater starb, und sie musste nach Hause zurück und sich einen Job [32] suchen, weil ihre Mutter keinen Beruf erlernt hatte.« Und dann fügte er noch unverbindlich hinzu: »Ich erinnere mich nicht an alle Einzelheiten. Donatella wahrscheinlich schon.«

Der Conte räusperte sich und sagte selbstkritisch: »Klingt wie der Plot einer schlechten Fernsehserie. Willst du das...