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Ladylike

Ingrid Noll

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600353 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[5] 1

Ich hatte immer eine Nagelfeile im Auto liegen. Bei jedem Stau, vor jeder roten Ampel habe ich mir einen anderen Finger vorgeknöpft. Niemals habe ich Zeit vergeudet, immer war ich in Eile und bei allen meinen Tätigkeiten schneller als andere.

Heute ist es damit vorbei. Und wenn es mir schon schwerfällt, meine diversen Alterserscheinungen gelassen hinzunehmen, so trifft mich der Verlust meines Tempos am härtesten. Meine Tage sind zu kurz, um alles zu erledigen, was ich mir vorgenommen habe. Meine Lebenszeit reicht nicht mehr aus, um alle Bücher zu lesen, die in der Warteschleife liegen, um eine neue Sprache zu lernen oder um alle Leichen im Keller zu entsorgen. Und doch treibt mich so vieles um, selbst die zartesten Düfte können an bittere Kränkungen erinnern.

Wahrscheinlich sind die prächtig blühenden Fliederbüsche gerade wegen ihrer vergänglichen Pracht so beliebt; kaum freut sich die wintermüde Seele an den weißen, lila oder violetten Dolden, am süßlichen Geruch, an Vasen voll üppiger Zweige, da [6] beginnt es schon zu rieseln. Erst sind es nur zarte blaßblaue Sterne, die auf die Gartenwege wehen, dann regnen sie massenweise herunter und kleben am Ende braun wie Teeblätter an unseren Schuhsohlen. Schließlich lassen nur noch dunkle Samenstände an den stets zu kurzen Frühling denken.

Bis zu jenem verhängnisvollen Abend vor 24 Jahren liebte ich blühenden Flieder und hielt unsere Ehe für stabil; ich schmiedete gerade Pläne für eine große Feier zu unserer Silberhochzeit.

Naturgemäß hatten Udo und ich uns im Laufe der Jahre verändert, aber wie hatten sich erst die Zeiten gewandelt! Die prüden Nachkriegsjahre, in denen wir uns kennengelernt hatten, sind heute so gut wie vergessen, viele junge Leute leben ohne Trauschein zusammen. Als wir uns 1963 Das Schweigen von Bergman ansahen, waren wir schockiert. Nach und nach dachten wir über viele Dinge anders als in früheren Jahren, trennten uns von Vorurteilen und besuchten im Urlaub sogar den Sylter Nacktbadestrand. Als die 68er revoltierten, fühlten wir uns schon zu alt, um uns noch für die umstürzlerischen Ideen der Studenten, und sei es bloß für die freie Liebe, begeistern zu können. Erst viel später erkannte ich, wie groß der Sexualneid in Udos Generation auf die später Geborenen war, wie sehr diese Männer darunter litten, daß sie in ihrer Jugend [7] bereits zum Establishment gehört und mehr oder weniger stets mit derselben gepennt hatten.

Jener Sonntag im Mai, als ich den Fliederduft zum letzten Mal mit leichtem Herzen einatmete, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir saßen abends auf der Terrasse, denn es war noch hell und warm.

»Eigentlich sollten wir wieder einmal eine Waldmeisterbowle ansetzen«, überlegte ich, als mir plötzlich bewußt wurde, daß ich seit einer Stunde die Alleinunterhalterin war. Mein Mann hatte die ganze Zeit ins Leere gestarrt. Das war allerdings nichts Besonderes, wenn er durch berufliche Probleme stark in Anspruch genommen wurde.

Unvermutet begann er jedoch zu sprechen, und mir dämmerte, daß ihn die Maibowle nicht im geringsten interessierte.

»Ich muß dir etwas sagen, Lore«, begann er.

»Der Flieder ist fast abgeblüht, wie schade«, unterbrach ich ihn, denn ich hatte die Gefahr durch den veränderten Klang seiner Stimme erkannt. Um den Lauf des Schicksals noch für ein paar Minuten anzuhalten, holte ich einen Handfeger aus der Küche und kehrte die abgefallenen Blüten von der Wachsdecke des Gartentischs.

Doch dann gab es kein Entrinnen mehr, ich mußte mir alles anhören. Udo forderte die Scheidung, weil [8] er eine wesentlich jüngere Frau ehelichen wollte; sie war schwanger.

Nur nicht heulen, dachte ich. Alles wird wieder gut. Nur nicht provozieren und seinen Trotz hervorrufen. Vernünftig bleiben. Wir haben bis jetzt noch alle Krisen überstanden. Er wird bald einsehen, daß er mich nicht einfach umtauschen kann. Sachlich bleiben, jetzt auf keinen Fall mit Porzellan herumschmeißen. Vielleicht sollte unser Christian seinem Papa mal die Leviten lesen!

»Ein Kind ist heutzutage kein Heiratsgrund mehr«, versuchte ich den ersten zaghaften Einwand.

Er schaute auf. »Für dich vielleicht nicht«, sagte er, »aber sie stammt aus einer erzkatholischen Bauernfamilie, da ist ein uneheliches Kind nach wie vor eine Schande.«

In diesem Fall kam auch keine Abtreibung in Frage. Lange war ich still. Meine Wut auf die fromme Bauerntochter, die sich einen Familienvater als Geliebten erkoren hatte, steigerte sich zusehends. Ich kannte Udo schon seit einer Ewigkeit, er war meiner Meinung nach alles andere als ein stürmischer Verführer, der sich an unschuldige Landpomeranzen heranmachte.

»Die hat dich reingelegt«, sagte ich.

»Wie auch immer«, meinte mein Mann unbestimmt, aber er freue sich auf den Nachwuchs. Als [9] unser Sohn geboren wurde, habe er so um die eigene Karriere kämpfen müssen, daß er gar nicht mitbekam, wie schnell ein kleines Kind heranwächst.

»Kann man das im Großvateralter noch nachholen?« fragte ich.

»Bei einer Frau ist das anders«, belehrte er mich, »aber ein Mann ist mit fünfzig noch nicht alt.«

Diese Worte waren es wohl, die mich ausrasten ließen. Ich fegte ihm mit dem borstigen Handbesen die Brille von der Nase, und rannte laut weinend ins Haus. Leider ging weder die Nase noch die Brille zu Bruch.

Seitdem mag ich keinen Flieder mehr, ja der Frühling kommt mir von Grund auf verdächtig vor. In Annelieses Garten hat der Fliederbusch zum Glück bereits seine braunen Nägelchen angesetzt; hier blühen schon die ersten Sommerblumen – Rittersporn, Akelei, Rosen und Glockenblumen. Bald wird auch der wuchernde Felberich in fröhlichem Dottergelb leuchten. Meine Freundin und ich kosten diesen Sommer aus: Im Moment essen wir tagtäglich auf der warmen Terrasse. Meine liebste Jahreszeit ist und bleibt jedoch der Herbst, obwohl der Winter besser zu meinem Alter und meinen weißen Haaren passen würde.

[10] Damals, vor 24 Jahren, waren meine Haare noch dunkel, aber ich war verzweifelt. Immer wieder hat mich Anneliese trösten müssen. Und dazu gehörte auch, daß sie mir unsere gemeinsame Zukunft in warmen Worten ausmalte. Meine Freundin hatte eine Tante im Altersheim besucht und war seitdem entschlossen, niemals aus ihrem Häuschen auszuziehen.

»Ein Leben ohne meinen Garten ist mir unvorstellbar. Aber was ist, wenn Hardy den Rasen nicht mehr mäht und die Hecke nicht mehr schneidet? Ich habe da eine Vision: Was hieltest du von einer Frauen-WG

Tatsächlich war ihr Mann, der eigentlich Burkhard hieß, nicht mehr bei bester Gesundheit. Anneliese war sich sicher, ihren Hardy um Jahrzehnte zu überleben, und sparte nie mit entsprechenden Andeutungen. Spaßeshalber dachten wir uns schon damals aus, wie wir als Witwen gemeinsam residieren würden: Sie sollte im unteren, ich im oberen Stockwerk je zwei Zimmer bewohnen, die Küche und das Kochen wollten wir uns teilen, die zwei Mansarden konnten unseren Kindern und deren Anhang als Gästezimmer dienen.

Alle paar Jahre kamen wir wieder auf unseren Plan zu sprechen, der jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben werden mußte, denn Burkhard erwies [11] sich trotz seines kränklichen Zustands als überraschend zählebig. Als er schließlich doch unter der Erde lag, wollte ich meine spät begonnene Berufstätigkeit nicht gleich aufgeben. Außerdem kehrte Annelieses jüngste Tochter nach einer gescheiterten Frühehe ins Elternhaus zurück, um eine Zeitlang ein kostenloses Studierzimmer zu bewohnen.

Nun sind wir seit vier Wochen glücklich vereint und meinen immer noch, daß es die beste Entscheidung unseres Lebens war, auch wenn sich einige Kleinigkeiten erst einspielen müssen. Der ganze Stress, den man im Zusammenleben mit einem Mann nun einmal hat, fällt völlig weg. Frauen sind belastbarer, friedlicher, kompromißbereiter.

Ein befreundeter Architekt hatte ein Konzept für die erforderlichen Umbauten entworfen. Für ein zweites Bad im Parterre hätten Flur und Garderobe verkleinert werden müssen. Viel zu teuer, meinte Anneliese, das könne sie sich nicht leisten. Selbst auf meine Rechnung wollte sie es nicht machen lassen, und auf keinen Fall wollte ich ihr zu spüren geben, daß ich besser bei Kasse bin als sie. Nun hat Anneliese zwar den Wohn- und Eßraum im Erdgeschoß behalten, zusätzlich aber im ersten Stock ein Schlafzimmer neben meinem bezogen. Das Bad muß ich [12] mit ihr teilen. Mir wäre es anders lieber gewesen – aber, mein Gott, es ist halt nicht mein eigenes Haus! Und wegen solcher Lappalien werde ich mich bestimmt nicht aufregen.

Viel wichtiger ist mir, daß wir in der warmen Jahreszeit so oft draußen sitzen können, den üppig blühenden Salbeistrauch direkt vor unseren Nasen. Es ist lange her, daß ich selbst einen Garten hatte. Nach der Scheidung hat Udo das Haus verkauft, und später besaß ich nur noch einen kleinen Balkon.

Außer der Miete für meine Privaträume bezahle ich die Putzfrau und den Gärtner, der die anstrengenden Arbeiten übernimmt. Bis jetzt hat Anneliese schon oft und gut gekocht; wenn ich an der Reihe bin, greife ich gelegentlich in die Kühltruhe und schiebe ein Fertiggericht in die Mikrowelle. Einmal habe ich auch den Pizza-Service bestellt, aber das hält Anneliese für allzu frivol. Eigentlich führen wir ein paradiesisches Leben.

Mein Sohn Christian wohnt in Berlin. Als ich noch in Wiesbaden lebte, kam er auf seinen Geschäftsreisen immer mal vorbei, denn vom Frankfurter Flughafen bis...