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Nobiltà - Commissario Brunettis siebter Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600667 , 304 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[11] 2

Nie verbreiten sich Neuigkeiten auf dem Lande schneller, als wenn sie mit Tod oder Unglück zu tun haben, und so hatte sich die Kunde, daß im Garten des alten Orsez-Hauses menschliche Gebeine gefunden worden waren, noch vor dem Abendessen überall in Col di Cugnan verbreitet. Seit vor sieben Jahren der Sohn des Bürgermeisters bei diesem Verkehrsunfall unten bei der Zementfabrik ums Leben gekommen war, hatte keine Nachricht mehr so schnell die Runde gemacht; selbst die Geschichte von Graziella Rovere und dem Elektriker hatte zwei Tage gebraucht, um sich herumzusprechen. Aber an diesem Abend schalteten die Dörfler, alle vierundsiebzig, ihren Fernseher aus oder übertönten ihn, während sie beim Essen hin und her spekulierten, wie es sich zugetragen haben mochte und, noch interessanter, wer es war.

Die Nachrichtensprecherin von RAI 3, die Blonde mit dem Nerzpullover, die jeden Abend eine andere Brille trug, blieb unbeachtet, als sie die neuesten Schreckensmeldungen aus Ex-Jugoslawien verlas, und niemand interessierte sich einen Deut für die Festnahme des früheren Innenministers wegen Korruption. Beides war inzwischen Normalität, aber ein Schädel in einer Ackerfurche hinter dem Haus des Ausländers, das war eine Neuigkeit. Bis zur Schlafenszeit war der Schädel schon abwechselnd durch einen Axthieb oder eine Kugel zertrümmert worden oder wies Anzeichen dafür auf, daß jemand versucht habe, ihn [12] in Säure aufzulösen. Die Polizei sollte festgestellt haben, daß es sich um die Knochen einer Schwangeren, eines jungen Burschen oder des Ehemannes von Luigina Menegaz handelte, der vor zwölf Jahren nach Rom gegangen war, worauf man nie wieder etwas von ihm gehört hatte. In dieser Nacht schlossen die Bewohner von Col di Cugnan ihre Türen ab, und diejenigen, die schon vor Jahren ihre Schlüssel verlegt und nie danach gesucht hatten, schliefen unruhiger als die anderen.

Am nächsten Morgen um acht kamen zwei mit Carabinieri besetzte Geländewagen zum Haus von Doktor Litfin, fuhren über den frisch eingesäten Rasen und parkten rechts und links von den beiden langen, tags zuvor gepflügten Furchen. Erst eine Stunde später brachte ein Wagen aus der Provinzhauptstadt Belluno den medico legale. Er hatte von den Gerüchten über die Todesursache oder die Identität des Toten, dessen Knochen hier lagen, nichts mitbekommen und tat darum das Naheliegende: Er ließ seine beiden Assistenten die Erde nach weiteren Überresten durchsieben.

Während diese Arbeit langsam ihren Lauf nahm, fuhr bald der eine, bald der andere Carabinieriwagen über den binnen kurzer Zeit verwüsteten Rasen zurück in den Ort, wo die sechs Beamten erst einmal in der kleinen Bar Kaffee tranken und anschließend bei den Dorfbewohnern herumfragten, ob jemand vermißt werde. Daß die Knochen offenbar schon seit Jahren in der Erde lagen, hielt sie nicht davon ab, sich nur nach neuesten Geschehnissen zu erkundigen, und so blieben ihre Nachforschungen ergebnislos.

Auf dem Feld unterhalb des Dorfes hatten Doktor [13] Bortots Gehilfen ein feinmaschiges Sieb schräg aufgestellt. Langsam schütteten sie eimerweise Erde hindurch und bückten sich hin und wieder, um einen kleinen Knochen herauszuholen, oder was danach aussah. Den zeigten sie dann ihrem Chef, der mit den Händen auf dem Rücken neben der Furche stand. Zu seinen Füßen lag eine lange Plastikfolie, und sowie man ihm einen Knochen gezeigt hatte, sagte er seinen Gehilfen, an welche Stelle er gelegt werden sollte. So setzten sie nach und nach ihr makabres Puzzle zusammen.

Hin und wieder ließ der Arzt sich von einem der Männer einen Knochen geben und betrachtete ihn kurz, bevor er sich bückte und ihm auf der Folie seinen Platz zuwies. Zweimal korrigierte er sich, einmal, indem er ein Knöchelchen von der rechten auf die linke Seite legte, das andere Mal verschob er mit einer leisen Unmutsäußerung eines vom unteren Ende des Mittelfußknochens ans Ende eines ehemaligen Handgelenks.

Um zehn Uhr traf Doktor Litfin ein, der am Abend zuvor von der Entdeckung in seinem Garten unterrichtet worden und die ganze Nacht von München durchgefahren war. Er parkte vor dem Haus und stieg steifbeinig aus. Hinter dem Haus sah er die unzähligen tiefen Reifenspuren auf dem frischen Rasen, den er vor drei Wochen mit solcher Freude eingesät hatte. Dann bemerkte er die drei Männer weiter hinten auf dem Grundstück, etwa da, wo er zur selben Zeit die aus Deutschland mitgebrachten Himbeersträucher gesetzt hatte. Er wollte über den verwüsteten Rasen gehen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als irgendwo von rechts ein Kommandoruf ertönte. Er blickte [14] um sich, sah aber nur die drei alten Apfelbäume um die Reste des früheren Brunnens und schickte sich an, weiter auf die drei Männer zuzugehen. Er hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als unter dem nächsten Apfelbaum zwei Männer in der drohenden schwarzen Uniform der Carabinieri hervorgestürmt kamen, die Maschinenpistolen im Anschlag.

Doktor Litfin hatte die russische Besetzung Berlins miterlebt, und obwohl das gut fünfzig Jahre her war, erinnerte sein Körper sich an den Anblick bewaffneter Männer in Uniform. Er hob beide Hände über den Kopf und blieb stocksteif stehen.

Nun traten sie ganz aus dem Schatten, und es kam dem Doktor wie eine Halluzination vor, als er ihre todesschwarzen Uniformen vor dem unschuldigen Rosa der Apfelblüten sah. Ihre glänzenden Stiefel zertrampelten einen Teppich frisch herabgefallener Blütenblätter, während die Männer auf ihn zukamen.

»Was machen Sie hier?« fragte der erste barsch.

»Wer sind Sie?« blaffte der zweite im selben Ton.

Die Angst machte Litfins Italienisch unbeholfen: »Io sono… dottor Litfin, sono il padrone…«

Die Carabinieri wußten schon, daß der neue Besitzer ein Deutscher war, und der Akzent paßte, also ließen sie ihre Waffen sinken, behielten aber den Finger in der Nähe des Abzugs. Litfin verstand das als Erlaubnis, die Hände herunterzunehmen, was er aber ganz langsam tat. Von früher wußte er, daß Waffengewalt stets vor Recht ging, und so wartete er, bis sie bei ihm waren, jedoch nicht ohne kurz zu den drei Männern auf dem frisch gepflügten Feld [15] hinüberzuspähen, die ebenso versteinert dastanden wie er und nur Augen für ihn und die näherkommenden Carabinieri hatten.

Angesichts des Mannes, der es sich leisten konnte, dieses Haus und das ganze Grundstück drumherum wiederherzurichten, wurden die Carabinieri plötzlich ganz klein, und während sie näherkamen, verschoben sich die Machtverhältnisse. Litfin merkte das und machte es sich zunutze.

»Was soll das hier eigentlich?« fragte er, wobei er über das Grundstück zeigte und es den beiden Carabinieri überließ, ob sie das auf seinen ruinierten Rasen oder die drei Männer im Hintergrund bezogen.

»Auf Ihrem Acker liegt ein Skelett«, antwortete der eine.

»Das weiß ich schon, aber was soll diese ganze…« Er suchte nach dem passenden Wort, und ihm fiel nur »distruzione« ein.

Die Reifenspuren schienen unter den Blicken der drei Männer immer tiefer zu werden, bis schließlich einer der Carabinieri sagte: »Wir mußten ja auf den Acker fahren.«

Obwohl das eindeutig eine Ausrede war, ging Litfin darüber hinweg. Er wandte sich von den beiden Carabinieri ab und schritt so rasch auf die anderen drei zu, daß keiner der beiden ihn aufzuhalten versuchte. Als er das Ende der ersten Furche erreicht hatte, rief er zu dem Mann, der hier offensichtlich das Kommando führte, hinüber: »Was ist es?«

»Sind Sie Doktor Litfin?« fragte der Arzt, der schon von dem Deutschen gehört hatte und wußte, was er für das Haus bezahlt und wieviel er bisher für die Renovierung ausgegeben hatte.

[16] Litfin nickte, und als die Antwort des anderen auf sich warten ließ, fragte er noch einmal: »Was ist es?«

»Ein junger Mann in den Zwanzigern, würde ich sagen«, antwortete Dr. Bortot und gab seinen Gehilfen gleichzeitig ein Zeichen weiterzumachen.

Litfin brauchte einen Moment, um diese kurz angebundene Antwort zu verdauen, aber dann überquerte er die umgepflügte Erde und stellte sich neben den anderen Arzt. Eine ganze Weile sagten beide nichts, während sie Seite an Seite standen und den beiden anderen zusahen, die in der Furche langsam das Erdreich durchsuchten.

Nach einigen Minuten reichte einer von ihnen Dr. Bortot einen weiteren Knochen, den dieser nach einem kurzen Blick ans Ende des zweiten Handgelenks legte. Es folgten zwei weitere Knochen, die beide rasch ihren Platz fanden.

»Da, links von Ihnen, Piazzetti«, sagte Bortot und zeigte auf einen kleinen weißen Klumpen, der ihm gegenüber aus der Furche hervorlugte. Der Angesprochene bückte sich, um den Knochen aufzuheben, und reichte ihn dem Arzt. Bortot hielt ihn vorsichtig zwischen zwei Fingern, betrachtete ihn kurz und wandte sich an den Deutschen: »Lateralis cuneiformis?« fragte er.

Litfin spitzte die Lippen und sah den Knochen an, und noch ehe er etwas sagen konnte, reichte ihn Bortot an ihn weiter. Litfin drehte ihn einen Moment hin und her, dann warf er einen Blick auf die Skeletteile, die schon auf der Folie lagen. »Möglich, vielleicht der intermedius«, antwortete er, mit dem Lateinischen vertrauter als mit dem Italienischen.

»Ja, das kann sein«, meinte Bortot. Er zeigte auf die [17] Folie, und Litfin bückte sich, um das kleine Stück ans Ende des langen Schienbeinknochens zu legen. Er richtete sich auf, und beide Männer blickten auf das Ergebnis...