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Garp und wie er die Welt sah

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601503 , 848 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[51] 2

Blut und Blau

T.S. Garp hatte immer das Gefühl, er werde früh sterben. »Ich glaube«, schrieb Garp, »ich habe wie mein Vater einen Hang zur Kürze. Ich bin ein Ein-Schuss-Mann.«

Garp entging mit knapper Not dem Schicksal, auf dem Gelände einer reinen Mädchenschule aufzuwachsen seiner Mutter war dort die Stelle der Schulschwester angeboten worden. Aber Jenny Fields sah die möglichen Probleme, die damit verbunden gewesen wären: ihr kleiner Garp von Frauen umgeben. (Jenny und Garp sollten eine Wohnung in einem der zur Schule gehörenden Wohnheime bekommen.) Sie malte sich die ersten sexuellen Erfahrungen ihres Sohnes aus eine vom Anblick und von dem Geruch der Waschräume beflügelte Phantasie: Die Mädchen würden, nur so zum Spaß, das Kind in weichen Bergen weiblicher Unterwäsche begraben. Die Arbeit hätte Jenny gefallen, aber sie lehnte das Angebot Garp zuliebe ab. Stattdessen nahm sie eine Stellung an der großen, berühmten Steering School an. Dort würde sie allerdings nur eine von vielen Schulschwestern sein, und die Wohnung, die sie und Garp bekommen sollten, lag in dem kalten, mit vergitterten Fenstern versehenen Seitenflügel des Nebengebäudes, in dem die Krankenstation untergebracht war.

[52] »Mach dir nichts draus«, sagte ihr Vater. Es passte ihm nicht, dass Jenny überhaupt arbeiten wollte. Geld war genug da, und er wäre glücklicher gewesen, wenn sie sich auf dem Familiensitz in Dog’s Head Harbor versteckt hätte, bis ihr kleiner Bastard herangewachsen war und eigene Wege ging. »Wenn der Junge ein Fünkchen angeborener Intelligenz hat«, sagte er zu ihr, »sollte er später eventuell die Steering School besuchen, aber bis dahin gibt es meiner Meinung nach keine bessere Umgebung, in der ein Junge aufwachsen könnte.«

»Angeborene Intelligenz« – das war eine der vornehmen Formulierungen, mit denen ihr Vater auf Garps zweifelhafte genetische Herkunft anspielte. Die Steering School, die Jennys Vater und ihre Brüder besucht hatten, war damals eine reine Jungenschule. Jenny glaubte, das Beste für ihren Sohn zu tun, indem sie die Gefangenschaft dort aushielt, bis der kleine Garp das Gymnasium hinter sich gebracht hätte. »Ein Akt der Wiedergutmachung, weil du ihm einen Vater verweigerst«, wie ihr Vater sich ihr gegenüber ausdrückte.

»Es ist doch sonderbar«, schrieb Garp, »dass meine Mutter, die sich selbst gut genug kannte, um zu wissen, dass sie unter keinen Umständen mit einem Mann zusammenleben wollte, am Ende mit achthundert Jungen zusammenlebte.«

So wuchs der kleine Garp bei seiner Mutter im Nebengebäude der Krankenstation der Steering School auf. Er wurde nicht ganz wie ein »Lehrerbalg« – so nannten die Schüler alle minderjährigen Kinder der Lehrer und Mitarbeiter der Schule – behandelt. Eine Schulschwester gehörte [53] irgendwie nicht zur gleichen Schicht oder Kategorie wie die Lehrerschaft. Überdies machte Jenny keinen Versuch, einen Mythos um Garps Vater aufzubauen – um für sich selbst eine Heiratsgeschichte zurechtzulegen und ihren Sohn als ehelich auszugeben. Sie war eine Fields, und sie legte Wert darauf, den Leuten ihren Namen zu sagen. Ihr Sohn war ein Garp. Und sie legte Wert darauf, den Leuten seinen Namen zu sagen. »Es ist sein eigener Name«, sagte sie.

Alle bekamen es mit. In der Steering School wurden gewisse Formen der Arroganz nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert; dabei war akzeptable Arroganz eine Frage des Geschmacks und des Stils. Der Grund, weshalb man arrogant war, musste als lohnend – einem höheren Zweck dienend – empfunden werden, und die Art, wie man arrogant war, sollte charmant sein. Jenny Fields war nicht von Natur aus geistreich. Garp schrieb, dass seine Mutter »nie beschloss, arrogant zu sein, sondern nur unter Druck arrogant wurde«. Stolz war an der Steering School hoch angesehen, aber Jenny Fields schien auf ein uneheliches Kind stolz zu sein. Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, aber ein bisschen Demut hätte sie doch zeigen können.

Jenny war indessen nicht nur stolz auf Garp, sondern sie freute sich ganz besonders über die Umstände, wie sie ihn bekommen hatte. Die Welt kannte diese Umstände noch nicht – Jenny hatte ihre Autobiographie noch nicht veröffentlicht, sie hatte noch nicht einmal angefangen, sie zu schreiben. Sie wartete, bis Garp alt genug war, um die Geschichte würdigen zu können.

Garp kannte die Geschichte nur so, wie Jenny sie [54] jedem erzählte, der den Mut hatte, sie zu fragen. Jennys Geschichte war drei nüchterne Sätze lang.

1. Garps Vater war Soldat.

2. Er fiel im Krieg.

3. Wer nahm sich im Krieg schon die Zeit zum Heiraten?

Präzis und geheimnisvoll, wie sie war, entbehrte die Geschichte nicht einer gewissen Romantik. Aufgrund der drei Sätze hätte der Vater immerhin ein Kriegsheld gewesen sein können. Eine tragische Liebesaffäre war vorstellbar. Schwester Fields hätte eine Lazarettschwester gewesen sein können. Sie hätte sich »an der Front« verlieben können. Und Garps Vater hätte meinen können, er schulde »der Menschheit« einen letzten Einsatz. Aber bei Jenny Fields malte sich niemand ein solches Melodram aus. Zunächst einmal schien sie ihr Alleinsein viel zu sehr zu genießen; sie trauerte der Vergangenheit offenbar nicht im mindesten nach. Sie war nie zerstreut, sie bemühte sich einfach, für den kleinen Garp da zu sein – und eine gute Krankenschwester zu sein.

Natürlich war der Name Fields an der Steering School bekannt. Der berühmte Schuhkönig aus Neuengland war ein großzügiger Ehemaliger, und eines Tages sollte er, ob man es nun damals vermutete oder nicht, sogar Mitglied des Beirats werden. Sein Geld war nicht das älteste, aber auch nicht das neueste in Neuengland, und seine Frau, Jennys Mutter – eine geborene Weeks aus Boston, war an der Steering School womöglich noch bekannter. Einige der älteren Lehrer konnten sich noch erinnern, dass jahrelang, [55] ohne Unterbrechung, immer irgendein Weeks gerade seine Abschlussprüfung gemacht hatte. Trotzdem hatte man an der Steering School nicht den Eindruck, dass Jenny Fields all die guten Eigenschaften geerbt hatte. Sie sah zugegebenermaßen ganz gut aus, aber sie war nichts Besonderes. Sie trug ihre Schwesterntracht sogar, wenn sie etwas Schickeres hätte anziehen können. Und überhaupt, die Sache mit dem Schwesternberuf, auf den sie auch noch stolz zu sein schien, war irgendwie merkwürdig. Wenn man an ihre Familie dachte… Krankenpflege war kein Beruf für eine Fields oder eine Weeks.

In Gesellschaft legte Jenny jene unelegante Ernsthaftigkeit an den Tag, bei der leichtlebigeren Leuten unwohl zumute wird. Sie las viel und rannte ständig in die Schulbibliothek. Wenn jemand ein Buch haben wollte, das gerade nicht da war, stellte sich jedes Mal heraus, dass es an Schwester Fields ausgeliehen war. Diesbezügliche Anrufe wurden höflich beantwortet: Oft bot Jenny an, das Buch dem Interessenten vorbeizubringen, sobald sie es ausgelesen hätte. Sie las die Bücher dann schnell zu Ende, aber sie hatte nichts über sie zu sagen. In einer Schulgemeinschaft ist jemand, der aus irgendwelchen verborgenen Gründen liest, jedenfalls nicht, um darüber zu sprechen, ein Sonderling. Wozu las sie eigentlich?

Dass sie in ihren Freistunden Kurse besuchte, war noch sonderbarer. In der Satzung der Steering School stand, dass Lehrer und Mitarbeiter sowie ihre Ehegatten kostenlos jeden angebotenen Kurs besuchen durften – sie brauchten nur die Erlaubnis des Unterrichtenden einzuholen. Und wer hätte eine Krankenschwester abhalten wollen – von den [56] Elisabethanern, dem viktorianischen Roman, der Geschichte Russlands bis 1917, von einer Einführung in die Genetik oder von der Abendländischen Zivilisation I und II? Im Laufe der Jahre sollte Jenny Fields von Cäsar bis zu Eisenhower marschieren, vorbei an Luther und Lenin, Erasmus und der Zellteilung, der Osmose und Freud, an Rembrandt und den Chromosomen und Vincent van Gogh – vom Styx zur Themse, von Homer bis zu Virginia Woolf. Von Athen nach Auschwitz. Sie sagte nie ein Wort. Sie war die einzige Frau in den Kursen. In ihrer weißen Uniform hörte sie so ruhig zu, dass die Jungen und schließlich auch die Lehrer sie vergaßen; sie setzten den Unterricht fort, während Jenny schneeweiß und still unter ihnen saß, eine Zeugin, der nichts entging – die zwar nichts zu melden hatte, sich aber dennoch über alles ein Urteil bildete.

Jenny Fields erhielt die Bildung, auf die sie gewartet hatte; jetzt schien die Zeit reif zu sein. Aber ihre Motive waren nicht nur egoistisch; sie prüfte die Steering School für ihren Sohn. Wenn Garp alt genug war, würde sie ihm eine Menge Ratschläge geben können – sie kannte die Nieten in jedem Fach, die Kurse, die sich dahinschleppten, und diejenigen, die im Fluge vergingen.

Ihre winzige Wohnung im Seitenflügel des Nebengebäudes der Krankenstation quoll über von Büchern. Sie verbrachte zehn Jahre an der Steering School, bevor sie herausfand, dass die Buchhandlung den Lehrern und Mitarbeitern der Schule einen Nachlass von zehn Prozent gewährte (den man ihr nie angeboten hatte). Das erzürnte sie. Sie war auch sehr großzügig mit ihren Büchern – am Ende standen Regale in jedem Zimmer des trostlosen Seitenflügels. Aber [57] sie sprengten die Regale und glitten hinüber ins Hauptgebäude der Krankenstation, ins Wartezimmer und in den Röntgenraum, wo sie die Zeitungen und Zeitschriften zunächst bedeckten und...