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Liebeswahn

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600278 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[5] Eins

Es läßt sich leicht sagen, wann alles begann. Wir saßen im Sonnenschein unter einer Zerr-Eiche, die uns notdürftig gegen den starken, böigen Wind abschirmte. Ich kniete im Gras, einen Korkenzieher in der Hand, und Clarissa reichte mir die Flasche – einen 1987er Daumas Gassac. Dies war der Augenblick, der Nullpunkt auf der Zeitachse: Ich streckte die Hand aus, und als der kühle, mit schwarzem Stanniol eingefaßte Flaschenhals meinen Handteller berührte, hörten wir einen Mann aufschreien. Wir drehten uns um und sahen die Gefahr am anderen Ende der Wiese. Und schon rannte ich ihr entgegen. Es war wie ein Schnitt: Ich erinnere mich nicht, daß ich den Korkenzieher fallen gelassen hätte, aufgesprungen wäre, eine Entscheidung getroffen oder Clarissas Warnung gehört hätte, die sie mir nachrief. Warum mußte ich auch so kopflos in das Labyrinth dieser Geschichte hineinhetzen – fort von unserem Glück unter der Eiche im frischen Frühlingsgras! Wieder ertönte der Schrei und, trotz des Windes, der in den hohen Bäumen entlang den Hecken toste, das schwache Rufen eines Kindes. Ich rannte schneller. Und plötzlich strebten von verschiedenen Punkten auf der Wiese, wie ich in schnellem Lauf, vier weitere Männer zum Schauplatz des Geschehens.

Ich sehe uns aus hundert Metern Höhe, mit den Augen [6] des Bussards, den wir eben noch beobachtet hatten, wie er im Strudel der Luftströmungen aufstieg, kreiste und herabstieß: fünf Männer, die lautlos auf den Mittelpunkt einer etwa einen halben Quadratkilometer großen Wiese zurennen. Ich kam von Südosten und hatte Rückenwind. Etwa zweihundert Meter links von mir liefen zwei Männer Seite an Seite. Es waren Landarbeiter, die den Zaun entlang der Straße am Südrand der Wiese geflickt hatten. Wieder zweihundert Meter weiter rannte John Logan herbei, dessen Auto mit weitgeöffneter Tür oder -geöffneten Türen auf dem grasigen Randstreifen geparkt war.

Am mir gegenüberliegenden Ende der Wiese, etwa einen halben Kilometer von mir entfernt, löste sich, gegen den Wind ankämpfend, aus einer Buchengruppe die Gestalt von Jed Parry, der – und das zu schildern ist nach allem, was ich mittlerweile weiß, ein sonderbares Gefühl – geradewegs in meine Richtung lief. Für den Bussard waren Parry und ich winzige Umrisse, deren leuchtendweiße Hemden sich gegen das Gras abhoben und die wie Liebende aufeinander zueilten, schuldlos an dem Leid, das aus dieser Verstrickung hervorgehen sollte. Das Zusammentreffen, das unser Leben aus der Bahn werfen sollte, stand unmittelbar bevor, doch noch verbarg sich seine Ungeheuerlichkeit nicht nur hinter der Zeitschranke, sondern auch hinter dem Koloß in der Mitte der Wiese, der uns kraft seiner gigantischen Größe und der armseligen Not der Menschen unter ihm mit unwiderstehlicher Logik anzog.

Was tat Clarissa unterdessen? Hinterher sagte sie, sie sei zügig zur Mitte der Wiese gegangen. Ich weiß nicht, wie sie dem Drang zu rennen widerstand. Als es geschah, das [7] Ereignis, von dem ich erzählen will – der Absturz –, hatte sie uns beinahe eingeholt und befand sich, außerhalb der schlecht koordinierten Hilfsaktion, jenseits von Seilen und Geschrei, in einer ausgezeichneten Beobachterposition. Meine Schilderung ist auch von dem bestimmt, was Clarissa sah, von dem, was wir einander erzählten in der Zeit geradezu zwanghafter Nachprüfungen, der Nachwirkungen und Nachwehen. Vielleicht ist ja »Nachmahd« das passende Wort für das, was dem Geschehen auf der Wiese, die auf ihre frühsommerliche Mahd wartete, nachfolgte. Die Nachmahd oder das Grummet, das, was nachwächst, nach dem ersten Schnitt im Mai.

Ich halte an mich, zögere die Informationen hinaus. Ich verweile bei dem Augenblick davor, denn zu diesem Zeitpunkt wäre noch ein anderer Ausgang möglich gewesen; aus der Sicht des Bussards besitzt das Zusammentreffen von sechs Gestalten auf dem Grün eine tröstliche Geometrie, die klar definierte Fläche des Billardtisches. Ausgangsanordnung, aufgewendete Kraft und deren Richtung sind entscheidend für den weiteren Verlauf, sämtliche Winkel von Auf- und Rückprall, und das Licht von oben taucht die Wiese, den Grünteppich, und alle sich bewegenden Körper in eine beruhigende Klarheit. Ich glaube, daß wir, während wir noch aufeinander zuliefen, ehe wir noch miteinander in Berührung kamen, uns mathematisch im Stand der Gnade befanden. Ich verweile bei unserer Aufstellung, den relativen Entfernungen und den Himmelsrichtungen, aus denen wir kamen – denn dies war, im Gegensatz zu dem, was folgte, das letzte, was ich noch klar begriff.

Worauf rannten wir zu? Ich glaube nicht, daß irgendeiner [8] von uns es jemals voll und ganz herausfinden wird. Oberflächlich betrachtet lautet die Antwort: auf einen Ballon. Nicht auf einen Luftballon und auch nicht auf einen einfachen Heißluftballon. Dieser riesige Ballon war mit Helium gefüllt, jenem ursprünglichen Gas, das im atomaren Schmelzofen der Sterne aus Wasserstoff gewonnen wird, der erste Schritt auf dem Weg zur Erzeugung der vielfältigen Erscheinungsformen von Materie im All, einschließlich unser selbst und all unserer Gedanken.

Wir rannten auf eine Katastrophe zu. Diese war selbst eine Art Schmelzofen, in dessen Hitze Identitäten und Schicksale sich verformten. Unter dem Ballon hing ein Korb mit einem Jungen darin, und neben dem Korb hing, an ein Tau geklammert, ein Mann, der unserer Hilfe bedurfte.

Selbst ohne diesen Ballon hätte der Tag sich mir eingeprägt, wenn auch auf allerangenehmste Weise, denn nach sechs Wochen sahen wir uns endlich wieder. So lange waren Clarissa und ich in unseren sieben Jahren noch nie getrennt gewesen. Auf dem Weg nach Heathrow hatte ich einen Abstecher nach Covent Garden gemacht und genau vor Carluccio’s einen nicht ganz offiziellen Parkplatz gefunden. Ich ging hinein und stellte ein Picknick zusammen, rund um ein Prachtstück von einem Mozzarella, den der Verkäufer mit einer hölzernen Schöpfkelle aus einem Steingutkübel fischte. Dazu kaufte ich schwarze Oliven, gemischten Salat und Focaccia. Dann eilte ich den Long Acre hinauf zu Bertram Rota’s, um Clarissas Geburtstagsgeschenk abzuholen. Abgesehen von unserer Wohnung und unserem Wagen war es die teuerste Anschaffung, die ich je gemacht hatte. Das [9] kleine rare Büchlein schien eine solche Hitze auszustrahlen, daß es mir, noch durch das dicke braune Packpapier hindurch, förmlich in der Hand brannte, als ich wieder die Straße hinaufging.

Vierzig Minuten später suchte ich die Anzeigetafeln nach der Ankunftszeit ab. Das Flugzeug aus Boston war soeben gelandet, und ich machte mich auf eine halbe Stunde Wartezeit gefaßt. Wer nach Beweisen für Darwins Behauptung sucht, daß die diversen Ausdrucksmöglichkeiten menschlichen Empfindens überall auf der Welt gleich sind und genetisch kodiert, dem seien einige Minuten in Heathrow, Terminal 4, empfohlen. Ich sah dieselbe Freude, dasselbe unbezähmbare Lächeln im Gesicht einer nigerianischen Urmutter, einer dünnlippigen schottischen Oma und eines bleichen, korrekten japanischen Geschäftsmannes, als sie ihre Kofferkulis herausschoben und in der erwartungsvollen Menge ein bekanntes Gesicht erspähten. Menschliche Vielfalt kann ein schöner Anblick sein, doch Gemeinsamkeit nicht minder. Immer wieder, wenn sich zwei Menschen vordrängten, um einander in die Arme zu fallen, hörte ich denselben im Ton abfallenden Seufzer, oft gleichzeitig mit dem Namen gehaucht. War es eine große Sekunde, eine kleine Terz, oder lag es irgendwo dazwischen? Pa-pa! Yolan-ta! Ho-bi! Nz-e! Es gab auch eine aufsteigende Tonfolge, von Vätern oder Großeltern nach langer Abwesenheit in die feierlich-skeptischen Gesichter von Kleinkindern gegurrt, mit der sie eine sofortige Erwiderung ihrer Liebe erschmeichelten, erflehten. Hann-ah? Tom-mii? Laß dich drücken!

Vielfältig wiederum waren die privaten Dramen: Ein Vater und sein halbwüchsiger Sohn, vielleicht Türken, [10] standen in langer, stummer Umklammerung, verziehen einander oder beklagten einen Verlust, ohne auf die Gepäckwägelchen zu achten, die sich um sie her verkeilten; eineiige Zwillinge, Frauen um die Fünfzig, begrüßten sich mit offensichtlichem Widerwillen, berührten sich an den Händen und küßten sich, ohne wirklich miteinander in Kontakt zu kommen; ein kleiner amerikanischer Junge, auf die Schultern eines Vaters gehoben, den er nicht wiedererkannte, verlangte schreiend, wieder hinuntergelassen zu werden, womit er bei seiner erschöpften Mutter einen Wutanfall auslöste.

Aber meistens waren es lächelnde Umarmungen, und in fünfunddreißig Minuten wohnte ich mehr als fünfzig theatralischen Happy-Ends bei, von denen jedes wirkte, als sei es ein bißchen weniger gut gemimt als das zuvor, bis ich mich emotional ermattet fühlte und argwöhnte, daß selbst die Kinder unaufrichtig seien. Gerade überlegte ich, wie überzeugend ich wirken würde, wenn ich Clarissa begrüßte, als sie mir auf die Schulter klopfte. Sie war in der Menschenmenge umhergeirrt und hatte mich zunächst übersehen. Meine innere Distanz war auf der Stelle verflogen, und ich rief ihren Namen, so wie alle anderen auch.

Nicht einmal eine Stunde später parkten wir an einem Waldweg, der in der Nähe von Christmas Common durch einen Buchenwald in den Chiltern Hills führt. Während sich Clarissa andere Schuhe anzog, stopfte ich unser Picknick in einen Rucksack. Von unserem Wiedersehen noch immer in Hochstimmung versetzt, machten wir uns Arm in Arm auf den Weg. Was an Clarissa vertraut war – die Größe ihrer Hand und wie sie sich anfühlte, die ruhige Wärme in ihrer Stimme, die blasse Haut und die grünen Augen der...