dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Selbs Justiz

Bernhard Schlink, Walter Popp

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600513 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[37] 7

Kleine Panne

Am nächsten Tag stand die Luft über Mannheim und Ludwigshafen. Es war so schwül, daß mir ohne jede Bewegung die Kleider am Leib klebten. Die Fahrerei war stockend und hektisch, ich hätte für Kuppeln, Bremsen und Gasgeben drei Füße brauchen können. Auf der Konrad-Adenauer-Brücke war alles aus. Es hatte einen Auffahrunfall gegeben und nach dem einen gleich den nächsten. Ich stand zwanzig Minuten im Stau, sah dem Gegenverkehr und den Zügen zu und rauchte, um nicht zu ersticken.

Der Termin mit Schneider war um halb zehn. Der Pförtner am Tor 1 erklärte mir den Weg. »Das sind keine fünf Minuten. Gehen Sie geradeaus, und wenn Sie an den Rhein kommen, noch mal hundert Meter links. Die Labors sind in dem hellen Gebäude mit den großen Fenstern.«

Ich machte mich auf den Weg. Unten am Rhein sah ich den kleinen Jungen, der mir gestern begegnet war. Er hatte eine Schnur an sein Sandeimerchen gebunden und schöpfte damit Wasser aus dem Rhein. Das Wasser schüttete er in den Gully.

»Ich mache den Rhein leer«, rief er, als er mich sah und erkannte.

»Hoffentlich klappt’s.«

»Was machst du hier?«

[38] »Ich muß da vorne ins Labor.«

»Darf ich mit?«

Er schüttete sein Eimerchen aus und kam. Kinder machen sich oft an mich ran, ich weiß nicht, warum. Ich habe keine, und die meisten nerven mich.

»Komm schon«, sagte ich, und wir gingen zusammen auf das Haus mit den großen Fenstern zu.

Wir waren ungefähr fünfzig Meter entfernt, als aus dem Eingang ein paar Weißgewandete hasteten. Sie rannten das Rheinufer runter. Dann kamen mehr, nicht nur im weißen Kittel, sondern auch im Blaumann, und die Sekretärinnen in Rock und Bluse. Es war putzig anzuschauen, und ich verstand nicht, wie man bei dieser Schwüle rennen konnte.

»Guck mal, der winkt uns«, sagte der kleine Junge, und in der Tat, einer von den Weißkitteln fuchtelte mit den Armen und rief uns etwas zu, was ich nicht verstand. Aber ich mußte auch nicht mehr verstehen; offensichtlich galt es, sich so schnell wie möglich davonzumachen.

Die erste Explosion schüttete eine Kaskade von Glassplittern über die Straße. Ich griff nach der Hand des kleinen Jungen, aber der riß sich los. Einen Moment war ich wie gelähmt: Ich spürte keine Verletzung, hörte trotz des weiterklirrenden Glases eine große Stille, sah den Jungen rennen, auf den Glassplittern ausrutschen, sich noch einmal fangen, nach zwei schiefen Schritten endgültig fallen und, von seiner Bewegung vorangetrieben, sich überschlagen.

Dann kam die zweite Explosion, der Schrei des kleinen Jungen, der Schmerz im rechten Arm. Dem Knall folgte ein scharfes, gefährliches, bösartiges Zischen. Ein Geräusch, das mich in Panik versetzte.

[39] Den Sirenen, die in der Ferne einsetzten, verdanke ich, daß ich handeln konnte. Sie weckten die im Krieg eingeübten Reflexe des Flüchtens, Helfens, Schutzsuchens und -gebens.

Ich rannte auf den Jungen zu, zog ihn mit meiner linken Hand hoch, zerrte ihn in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Seine kleinen Füße konnten nicht Schritt halten, aber er strampelte und ließ nicht los. »Los, Bübchen, lauf, wir müssen hier weg, mach nicht schlapp.« Ehe wir um die Ecke bogen, sah ich zurück. Wo wir gestanden hatten, wuchs eine grüne Wolke in den bleigrauen Himmel.

Den Sanitätswagen, die vorbeirasten, winkte ich vergebens. An Tor 1 nahm sich der Pförtner unser an. Er kannte den kleinen Jungen, der sich blaß, verschrammt und verschreckt an meiner Hand festhielt.

»Richard, um Gottes willen, was ist denn mit dir passiert? Ich ruf gleich deinen Großvater.« Er ging zum Telefon. »Und für Sie hol ich am besten die Sanität. Das sieht böse aus.«

Ein Glassplitter hatte den Arm aufgerissen, und das Blut färbte den Ärmel der hellen Jacke rot. Mir war flau. »Haben Sie einen Schnaps?«

An die nächste halbe Stunde erinnere ich mich nur schwach. Richard wurde abgeholt. Sein Großvater, ein großer, breiter, schwerer Mann mit kahlem, hinten und an der Seite glattrasiertem Schädel und buschigem weißem Schnurrbart, nahm den Enkel mühelos auf den Arm. Die Polizei versuchte, in das Werk zu kommen und den Unfall zu untersuchen, wurde aber zurückgewiesen. Der Pförtner gab mir noch einen zweiten und einen dritten Schnaps. Als [40] die Sanitäter kamen, nahmen sie mich mit zum Werksarzt, der meinen Arm nähte und in eine Schlinge legte.

»Sie sollten noch ein bißchen im Nebenzimmer abliegen«, sagte der Arzt. »Raus kommen Sie jetzt nicht.«

»Wieso komme ich nicht raus?«

»Wir haben Smogalarm, und der gesamte Verkehr ist unterbunden.«

»Wie habe ich das zu verstehen? Sie haben Smogalarm und verbieten, das Zentrum des Smog zu verlassen?«

»Das verstehen Sie ganz falsch. Smog ist ein meteorologisches Gesamtereignis und kennt nicht Zentrum oder Peripherie.«

Ich hielt das für völligen Unsinn. Was es sonst auch für Smog geben mochte – ich hatte eine grüne Wolke gesehen, und die wuchs, und sie wuchs hier auf dem Werksgelände. Auf dem sollte ich bleiben? Ich wollte mit Firner reden.

In seinem Büro war ein Krisenstab eingerichtet worden.

Durch die Tür sah ich Polizisten in Grün, Feuerwehrleute in Blau, Chemiker in Weiß und einige graue Herren von der Direktion.

»Was ist eigentlich passiert?« fragte ich Frau Buchendorff.

»Wir hatten eine kleine Panne auf dem Gelände, nichts Ernstes. Nur haben die Behörden dummerweise Smogalarm ausgelöst, und das hat ziemliche Aufregung gegeben. Aber was ist mit Ihnen passiert?«

»Ich hab bei Ihrer kleinen Panne ein paar kleine Kratzer abbekommen.«

»Was hatten Sie denn dort… Ach, Sie waren auf dem Weg zu Schneider. Er ist übrigens heute gar nicht da.«

[41] »Bin ich der einzige Verletzte? Hat es Tote gegeben?«

»Aber wo denken Sie hin, Herr Selb. Ein paar Erste-Hilfe-Fälle, das ist alles. Können wir noch etwas für Sie tun?«

»Sie können mich hier rausschaffen.« Ich hatte keine Lust, mich zu Firner vorzukämpfen und mich mit »Grüß Sie, Herr Selb« begrüßen zu lassen.

Aus dem Büro kam ein Polizist mit diversen Rangabzeichen.

»Sie fahren doch nach Mannheim rüber, Herr Herzog, würden Sie bitte Herrn Selb mitnehmen? Er hat ein paar Kratzer abbekommen, und wir wollen ihm nicht zumuten, noch länger hier zu warten.«

Herzog, ein markiger Typ, nahm mich mit. Vor dem Werkstor standen einige Mannschaftswagen und Reporter.

»Vermeiden Sie doch bitte, sich photographieren zu lassen mit dem Verband.«

Ich hatte überhaupt keine Lust, mich photographieren zu lassen, und als wir an den Reportern vorbeifuhren, bückte ich mich nach dem Zigarettenanzünder unten am Armaturenbrett.

»Wie kommt es, daß der Smogalarm so schnell ausgelöst wurde?« fragte ich auf der Fahrt durch das ausgestorbene Ludwigshafen.

Herzog zeigte sich gut informiert. »Nach den vielen Smogalarmen im Herbst 1984 haben wir in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz einen Modellversuch gestartet, mit neuen Technologien, auf neuer gesetzlicher Grundlage, kompetenz- und länderübergreifend. Die Idee ist, die Emissionen direkt zu erfassen, mit dem Meteorogramm zu [42] korrelieren und den Smogalarm nicht erst dann auszulösen, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Heute ist die Feuertaufe unseres Modells, bisher haben wir nur Probeläufe gehabt.«

»Und wie klappt die Zusammenarbeit mit dem Werk? Ich habe mitbekommen, daß die Polizei an der Pforte zurückgewiesen wurde.«

»Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Die chemische Industrie bekämpft das Gesetz auf allen Ebenen. Zur Zeit läuft die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Rechtlich hätten wir in das Werk hineingekonnt, aber wir wollen in diesem Stadium die Sache nicht auf die Spitze treiben.«

Der Rauch meiner Zigarette störte Herzog, und er machte das Fenster auf. »O je«, sagte er und kurbelte sofort wieder hoch, »machen Sie doch bitte Ihre Zigarette aus.« Ein stechender Geruch war durch das offene Fenster gedrungen, meine Augen begannen zu tränen, auf der Zunge hatte ich einen beißenden Geschmack, und wir beide bekamen einen Hustenanfall.

»Ist schon gut, daß die Kollegen draußen ihre Atemschutzgeräte aufhaben.« In der Ausfahrt zur Konrad-Adenauer-Brücke passierten wir eine Straßensperre, und die beiden Polizeibeamten, die den Verkehr anhielten, hatten Gasmasken auf. Am Rand der Auffahrt standen fünfzehn oder zwanzig Fahrzeuge, der Fahrer des ersten redete gerade gestikulierend auf die Polizeibeamten ein und gab, ein buntes Tuch vors Gesicht gepreßt, ein lustiges Bild ab.

»Wie soll das heute abend mit dem Berufsverkehr werden?«

[43] Herzog zuckte die Achseln. »Wir müssen abwarten, wie sich das Chlorgas entwickelt. Wir hoffen, im Lauf des Nachmittags die Arbeiter und Angestellten der RCW rausschleusen zu können, das würde das Problem des Berufsverkehrs schon erheblich entlasten. Ein Teil der sonstwo Beschäftigten muß vielleicht am Arbeitsplatz übernachten. Wir würden das dann über Radio und Lautsprecherwagen bekanntmachen. Ich war vorhin erstaunt, wie rasch wir die Straßen leer gekriegt haben.«

»Denken Sie an Evakuierung?«

»Wenn die Chlorgaskonzentration in den nächsten zwölf Stunden nicht um die Hälfte sinkt, müssen wir östlich der Leuschnerstraße und vielleicht auch in der Neckarstadt und im Jungbusch räumen. Aber die Meteorologen machen uns Hoffnung. Wo soll ich Sie...