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Schwefelhochzeit

Barbara Vine

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601152 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[5] ERSTER TEIL

1

»Die Kleider der Toten halten nicht lang. Sie trauern dem nach, der sie getragen hat.« Stella lachte, als ich das sagte. Sie legte den Kopf nach hinten und ließ dieses erstaunlich mädchenhafte Lachen hören. Ich hatte ihr erzählt, daß in der Nacht Edith Webster gestorben war und volle Kleiderschränke hinterlassen hatte, und sie lachte und sagte, etwas so Abergläubisches wie ich wäre ihr noch nie vorgekommen.

»Ihre Enkelin ist jetzt hier«, sagte ich, »und verteilt das Zeugs an alle, die was haben wollen. Man sagt ja auch: Wie der Leib zerfällt, so zerfallen die Kleider.«

»Und wer ist ›man‹, Genevieve?«

Ich antwortete nicht, weil ich wußte, daß sie nur Spaß gemacht hatte. Aber ich hab es gern, wenn sie Genevieve zu mir sagt, denn seit ich auf der Welt bin, nennen mich zwar alle nur Jenny, aber getauft bin ich auf Genevieve. Mein Vater hat mich nach einem Oldtimer in einem Film genannt, das muß man sich mal vorstellen, und den meisten Leuten ist das ein bißchen peinlich, aber so, wie Stella den Namen sagt, klingt er richtig hübsch. Dazu kommt natürlich, daß sie eine hübsche Stimme hat, ja eine schöne Stimme, auch wenn sie über das Alter hinaus ist, wo von Hübschsein die Rede sein kann.

[6] Ich erzählte noch ein bißchen von Edith, Sharon hatte sie um sieben gefunden, als sie mit dem Tee zu ihr kam, und eine Stunde später war die Enkelin schon da, so eilig hat sie’s mit dem Herkommen zu Lebzeiten ihrer Großmutter nie gehabt. Ich bin nicht besonders taktlos oder unsensibel und hätte sofort aufgehört, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, der Tod einer anderen alten Dame könnte Stella zu sehr an die Nieren gehen. Aber was ich erzählte, interessierte sie echt, vielleicht weil sie meint, im Vergleich mit Edith noch richtig jung zu sein – die war nämlich vierundneunzig –, und weil sie denkt, daß sie noch viel Zeit vor sich hat, daß sie zu den Leuten gehört, die jahrelang mit ihrem Krebs leben können.

Sie ist jetzt seit einem halben Jahr in Middleton Hall. Theoretisch sind wir Pflegerinnen für alle Heimbewohner zuständig, aber jede von uns hat drei spezielle Pfleglinge, in meinem Fall waren das Stella und Arthur und Edith. Jetzt, wo Edith tot ist, werde ich wohl jemand anders bekommen, hoffentlich nicht jemanden, der allzuviel Pflege braucht. Nicht, daß ich die Arbeit scheue, ich bin während meiner Achtstundenschicht fast die ganze Zeit auf den Beinen – zu £ 3,50 die Stunde, was ja nicht gerade üppig ist –, und Arthur klingelt andauernd nach mir, nein, es ist einfach so, daß es schade wär, wenn ich weniger Zeit für Stella hätte. Ich hab sie nämlich wirklich gern, und das kann ich von Arthur oder Maud Vernon und den anderen so nicht sagen. Sie tun mir leid, ich versuche es ihnen so nett wie möglich zu machen, aber gern haben kann man die nicht mehr. Es ist, als wenn sie in eine Dämmerwelt abgetaucht wären, wo sie alles vergessen haben. Meist wissen sie gar nicht, wo sie sind, [7] und reden dich mit den Namen von irgendwelchen Angehörigen an, bis du ihnen sagst, daß du Jenny bist. Stella ist da anders, Stella ist noch voll da. Neulich hat sie zu mir gesagt: »Ich sehe in Ihnen nicht die Schwester, Genevieve, sondern die Freundin.«

Darüber habe ich mich gefreut, wahrscheinlich weil sie das ist, was Granny eine Lady nennen würde, oder doch jedenfalls jemand aus einer anderen Schicht, aber gesagt habe ich nur, daß es ganz richtig ist, mich nicht als Schwester zu sehen, weil ich nur Altenpflegerin bin. Ich hab die Erfahrung, aber nicht die nötigen Prüfungen.

Sie lächelte. Sie hat ein nettes Lächeln, alles noch eigene, ganz weiße Zähne. »Sie wissen ja, daß ich Ihretwegen hergekommen bin.«

Das sagt sie immer. Es ist natürlich Unfug, es ist gar nicht wahr, aber sie hat ihren Spaß daran. Ihr Sohn hat mit ihr eine Reihe von Altersheimen in Suffolk und Norfolk abgeklappert, sie sollte sich eins aussuchen, das ihr auch wirklich gefiel. Ich war mit Edith im Salon, als sie kamen, und nun sagt Stella immer aus Spaß, ich hätte ihr auf den ersten Blick gefallen und deshalb hätte sie sich für Middleton Hall entschieden. Ausschlaggebend sei nicht das Haus oder der Garten gewesen, nicht das Essen oder das eigene Badezimmer, sondern ich.

»Wie man sieht, habe ich es richtig gemacht«, sagte Stella. »Was täte ich ohne Sie!«

Sie hat es gern, wenn ich von unserem Dorf erzähle und von meiner vielköpfigen Familie, ich erzählte von meiner Mutter und ihrem Freund Len und von dessen Mutter, die von ihrer Schwester einen Pelzmantel geerbt hatte, und als [8] sie ihn zum erstenmal anziehen wollte, waren es nur noch lauter Fetzen. Ich erzählte ihr gerade, daß in den Kleidern von einer Toten plötzlich Löcher waren, als wenn die Motten reingekommen wären, da griff sie zu meiner Überraschung nach meiner Hand, drückte sie, hielt sie gut und gern fünf Minuten fest, dann drückte sie noch einmal zu und ließ los.

In diesem Augenblick steckte Lena den Kopf zur Tür herein und guckte mich auf diese besondere Art an, ich wußte natürlich, was los war, und stand auf, aber nicht mit einem Ruck, den Gefallen tat ich ihr nicht.

Stella zwinkerte mir zu. Sie lächelte dabei, und in dem Moment konnte man sich vorstellen, wie sie in meinem Alter ausgesehen hatte. Hoffentlich zeigt sie mir irgendwann mal Fotos von sich als junger Frau, die würde ich zu gern sehen. Daß man in ihrem Alter nicht mehr von Hübschsein sprechen kann, habe ich vorhin gesagt, aber man soll nicht verallgemeinern. Für Siebzig sieht sie nämlich noch toll aus. Kaum Falten im Gesicht, nur um die Augen, und die sind noch strahlend blau. Gewiß, das Haar ist weiß, aber dicht und wellig, eine Perücke, wie so viele sie hier tragen, hat Stella nicht nötig. Und leider wird sie auch nicht mehr so lange leben, daß sie je eine bräuchte. Sie zieht sich immer nett an, trägt Kleider und Strümpfe und anständige Schuhe, und irgendwie fuchst das Lena. Hinter ihrem Rücken – und nicht immer nur hinter ihrem Rücken! – nennt sie Stella »Lady Newland« oder »die Herzogin«, und dazu grinst sie, damit es nicht ganz so bösartig wirkt. Wahrscheinlich wär’s ihr lieber, wenn Stella wie die anderen in Jogginganzug und Strickjacke rumlaufen würde. Ich kann’s nicht erklären, [9] aber ich finde, gerade wenn die Leute älter werden, müßten sie sich um so mehr pflegen und das Beste aus sich machen. Stella bittet mich manchmal, ihr die Nägel zu maniküren und ihr das Haar zu legen, und das mache ich immer gern.

Sie ist also schon was Besonderes. Wenn sie eine Freundin in mir sieht, so gilt das auch umgekehrt, obgleich ich bisher noch kaum was über sie weiß. Dafür weiß sie sehr viel über mich: wie lange ich verheiratet bin zum Beispiel, daß ich mein ganzes Leben hier in Stoke Tharby verbracht habe, daß mein Mann Mike heißt und Maurer ist, daß meine Mutter ein Pub betreibt und mein Vater in Diss wohnt – und noch viele andere Sachen. Eins weiß sie nicht, das Größte und Wichtigste in meinem Leben, auch wenn es das gar nicht sein dürfte, aber vielleicht erzähle ich ihr auch das irgendwann mal. Von Stella weiß ich nur, daß sie ihr Haus in Bury St. Edmunds verkaufen mußte, um sich hier einzumieten. Daß sie zwei Kinder hat, weiß ich auch, weil die sie besuchen kommen. Was heißt Kinder… Der Sohn ist so alt wie ich, und die Tochter hat selber schon Nachwuchs im Teenageralter.

Bury St. Edmunds liegt zwanzig Meilen südlich von hier, hinter den Brecklands und der Gegend, die wir den Plough nennen. Stella hat ihr Haus dort verkauft, als sie zu krank geworden war, um allein zu leben, und sich allmählich mit dem Gedanken anfreunden mußte, daß sie Pflege brauchte. Es ist ein gesellschaftliches Phänomen – so hab ich es mal irgendwo gelesen –, wie viele Altersheime es heutzutage gibt und wie viele Alte, Hunderte und Aberhunderte, die darauf warten, einen Platz zu bekommen. Und fast alle mußten ihre Häuser verkaufen, um sich das Heim leisten zu [10] können, und haben damit, wenn man so will, die Nachkommen um ihr Erbe gebracht.

Das Geld stecken dann Leute wie Lena ein. Dabei gehört Middleton Hall wirklich zur Spitzenklasse. Früher war es ein Herrenhaus, es hat einen wunderschönen Park mit herz- und rautenförmigen Blumenbeeten, Thujen- und Eibenhecken, einem Seerosenteich und einem großen Bestand alter Kastanien. Für Lena spricht, daß sie tierlieb ist, wir haben zwei Labradorhunde und drei Katzen im Haus, die ja so gut für alte Leute sein sollen. Allerdings können unsere Alten für das viele Geld, das sie zahlen, ja auch allen modernen Komfort, Haustiere und Gourmet-Mahlzeiten verlangen. Mindestens. An meinem ersten Tag hab ich nicht schlecht gestaunt, als Sharon vor dem Abendessen Aperitifs gereicht hat, Dry Martinis, wie sie immer in amerikanischen Büchern vorkommen, mit japanischem Reisgebäck und Macadamianüssen in kleinen Schälchen. Aber warum nicht? Ich finde es furchtbar, wenn man alte Leute wie Kinder behandelt.

Stella hat ein schönes Zimmer mit Blick über die Wiesen auf den Fluß und die Wälder. Wenn sie will, kann sie von ihrem Zimmer aus direkt auf die Terrasse und in den Garten gehen, aber das macht sie selten. Sie sitzt mit den anderen im Salon, zum Aperitif ist sie immer da und trinkt Gin mit was drin, das war wohl in ihrer Jugend modern. Meist ißt sie auch im Speisesaal, aber an einem Einzeltisch, sie ist sehr zurückhaltend. Ansonsten ist sie viel auf ihrem Zimmer, liest, guckt Fernsehen und macht jeden Tag eins dieser Kreuzworträtsel, bei denen man um die Ecke denken muß und...