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Ehrenwort

Ingrid Noll

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600315 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[5] 1

»Kopf oder Schwanz?«, fragte die Großmutter immer, wenn sie den Vanillepudding aus der Form gestürzt hatte und anschließend verteilte. Da Mizzi mit der Antwort schneller war als ihr kleiner Bruder, landete der Schwanz bei Max. Mit kindlicher Grausamkeit malte ihm seine Schwester aus, was da alles auf seinem Teller lag. Daraufhin verekelte Max ihr den Kopf: Im Maul steckte bestimmt ein Wurm, und erst die glotzenden Fischaugen! Die Eltern und die beiden Alten machten sich ungerührt über den Bauch her.

Nachdem die Großmutter gestorben war, wurde die Fischform nicht mehr gebraucht, doch sie hing immer noch in der Küche. Mittlerweile wusste Max auch, was sich dahinter verbarg: der Schlüssel für den kleinen Tresor, der in den Tiefen des Küchenbuffets angeschraubt war. Noch heute, viele Jahre später, erinnerte sich Max bei jedem Besuch an Großmutters leckeren Vanillepudding und daran, wie es nach Zimt, Äpfeln und Zitrone duftete. Heute roch es leider anders, der Witwer lüftete kaum und rauchte ständig.

[6] Seit Max einen Führerschein besaß, war er für seinen Opa zuständig, tauschte Glühbirnen aus, mähte Rasen oder brachte einen Luftpostbrief zur Post. Auch die an Altersschwäche gestorbene Katze hatte er beerdigt. Mit der Zeit kamen weitere Aufgaben hinzu. Nach vollbrachter Tat nickte der Alte immer wohlwollend, angelte den Schlüssel aus der Fischform, öffnete sein Schatzkästchen und zog einen einzelnen Geldschein aus dem dicken Stoß heraus. Er ging nur selten zur Bank und hob dann stets eine größere Summe ab.

Meistens hatte sein Großvater einen lateinischen Spruch auf den Lippen, dessen Bedeutung Max mit der Zeit erfasste. Nicht zuletzt pecunia non olet: Auch Max fand, dass Geld nicht stank.

Max wartete immer hoffnungsvoll auf dem grünen Küchensofa, das dort stand, seit er denken konnte. Seine Großmutter hatte es jahrelang mit einer Katze geteilt, die am weichen Mohairstoff ihre Krallen schärfte, wovon er mit der Zeit wie Kunstrasen aussah. In seiner Kindheit war ein Besuch bei den Großeltern stets ein Abenteuer gewesen, inzwischen war es eher eine Pflicht oder, besser gesagt, ein lukrativer Job.

Schon immer wollte der Großvater seinem Enkel gefallen und redete mit ihm in beinahe [7] vertraulichem Ton, auch wenn seine Sprache längst aus der Mode gekommen war.

»Junge, ob du es glaubst oder nicht, ich war mal ein toller Hecht – so wie du –, und deine Großmutter eine kesse Biene!«

Max kannte das vergilbte Foto von Hecht und Biene. Willy in Uniform, Ilse im Dirndlkleid. Er streng und kantig, sie verträumt und hausbacken, alle beide dünn und hochgewachsen.

Meistens steckte ihm sein Opa 100 Euro fürs Benzin und für Zigaretten zu, weil sie unter Männern waren. Mit neunzehn hatte Max sich das Rauchen zwar weitgehend abgewöhnt, doch das brauchte sein Großvater nicht unbedingt zu wissen.

Eines Tages flog es beinahe auf: »Max, deine Mutter hat gesagt, du rauchst schon seit einem Jahr nicht mehr!«

Max wurde rot und stotterte: »Mütter wissen auch nicht alles…«

Der Alte grinste zwar verständnisvoll, rückte aber keinen einzigen Schein heraus. Und das ausgerechnet an jenem Tag, als Max ihm zum ersten Mal – mühselig und mehr schlecht als recht – die gelblich verfärbten, steinharten Zehennägel abgeknipst hatte.

Es kann verhängnisvoll sein, wenn man eine [8] gewisse Summe fest eingeplant hat, weil man sie einem gnadenlosen Typen pünktlich abliefern muss. Nachdem Max recht verzweifelt das großväterliche Haus verlassen hatte, kehrte er noch einmal um. Schließlich wusste er, wo »Barthel den Most holt«.

Einen Hausschlüssel besaß Max schon seit zwei Jahren. Der Opa hörte fast nie, wenn sein Enkel hereinkam, und falls doch, konnte er sich immer noch herausreden. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, wie gewöhnlich unerträglich laut. Max angelte sich den Schlüssel aus der Puddingform, schloss den Tresor auf und bediente sich.

Einen Monat später erzählte ihm seine Mutter mit besorgter Miene, dass Opa seine Frau Künzle entlassen habe. Max wunderte sich nicht weiter darüber: In letzter Zeit sah es beim Großvater aus wie im Schweinestall. Doch dann erfuhr er, dass die Frau Geld gestohlen habe. Seine Mutter wollte das allerdings nicht recht glauben; sie dachte, der Alte hätte seine Moneten verlegt und die Haushaltshilfe zu Unrecht beschuldigt.

»Das passiert in Altenheimen fast täglich«, sagte sie, »die Senioren können ihren Schmuck nicht finden, weil sie ihn unter der Matratze gebunkert haben, sie suchen vergeblich nach Fotos, Briefen oder Bargeld und erinnern sich nicht, wo sie es [9] diesmal hingesteckt haben. Die Pflegerinnen sind an Verdächtigungen gewöhnt, aber Frau Künzle, die sich so viele Jahre lang für Opa und Oma abgerackert hat, ist bis ins Mark getroffen.«

Wenn das Geld noch in seinem Besitz gewesen wäre, hätte Max es heimlich wieder hingebracht.

Seine Mutter meinte noch: »Wir müssen uns wohl bald einmal eine andere Lösung einfallen lassen.«

»Eine Polin«, schlug Max vor.

»Bei seinen Vorurteilen gegen Ausländer? Aber du kannst ein gutes Werk tun«, meinte sie und schob ihrem Sohn einen Fünfziger hin, »und ihm einen Korb mit Wäsche bringen. Vielleicht könntest du ihm auch sonst ein bisschen mehr unter die Arme greifen.«

»Man müsste mal die Wände weißeln«, sagte Max und dachte dabei an einen größeren Auftrag.

Aber seine Mutter fand, es lohne sich nicht, im Grunde dürfe der Opa überhaupt nicht mehr allein wohnen.

»Okay«, sagte Max, »dann kann er ja in Mizzis Zimmer einziehen.«

Seine Mutter lachte nur. »Bring das mal deinem Vater bei!«

Der hoffte nämlich immer noch, dass seine Tochter ins elterliche Nest zurückkehren würde.

[10] 1975, zur Silberhochzeit, hatte der Alte seiner Frau einen Pelzmantel geschenkt, der allerdings nicht ganz neu war. Damals kursierte gerade der Kalauer: »Wenn einer von uns beiden stirbt, dann ziehe ich nach Mallorca.« Insbesondere die Frauen fanden das witzig, weil sie in der Regel ihre Männer überlebten. Willy wäre es nie in den Sinn gekommen, im höheren Alter die Heimat zu verlassen und sich auf eine fremde Sprache einzustellen. Er wäre aber auch nicht auf die Idee gekommen, dass seine Ilse vor ihm sterben könnte. Schließlich war sie fünf Jahre jünger und von robuster Gesundheit, wie er jedenfalls glaubte. Welch grausame Vorstellung, dass sie in ihrer Todesstunde ganz allein gewesen war. Womöglich hatte sie drei Tage lang im Nachthemd auf den kalten Fliesen gelegen, konnte sich nicht bewegen, nicht um Hilfe rufen, während ihr Mann mit den letzten mobilen Klassenkameraden ein Abituriententreffen feierte. Als er zurückkam, fand er eine Tote.

Damals war er noch fit genug gewesen, um allein zu verreisen. Das würde er sich heute gar nicht mehr zutrauen, er konnte kaum begreifen, wie schnell er in der letzten Zeit gealtert war. Das hatte man davon, wenn einem plötzlich die Frau wegstarb. Ideale Partner waren sie zwar nie gewesen, [11] denn er wünschte sich eigentlich eine Frau, die auch seinen intellektuellen Ansprüchen genügte. Trotzdem hatte er sich nie beklagt. Ilse hatte andere Vorzüge, war eine Sanfte, die nie laut wurde oder ungehörige Ausdrücke in den Mund nahm. Nach über fünfzig Ehejahren schwiegen sich Paare sowieso die meiste Zeit an, immerhin besser als Streit. Vor allem aber waren Willy und Ilse ein perfektes Gespann gewesen. Sie hatte keinen Führerschein, konnte keine Überweisungsformulare ausfüllen und hatte keine Ahnung, wie hoch seine Rente war. Ilse bekam pünktlich ihr Haushaltsgeld abgezählt und war es zufrieden. Willy konnte wiederum weder kochen noch bügeln und hatte sich nie um die zahlreichen sozialen Kontakte gekümmert, die Ilse über Jahre hinweg aufrechterhielt.

Nach Ilses Tod hatte der Alte gelernt, ein Fertigprodukt in die neue Mikrowelle zu schieben und Tee oder Kaffee zu kochen. Leider gab es nicht mehr – wie in der Nachkriegszeit – ein eingemachtes Huhn zu kaufen, was nach seiner Meinung die einzige gute amerikanische Erfindung war. Wenn man die Riesendose öffnete, glitschte der sülzige Vogel mit einem schmatzenden Geräusch heraus, und die Knochen waren so weich, dass man sie fast mitessen konnte. Manchmal sehnte er sich sehr nach diesem pampigen Mahl.

[12] Nach Ilses Tod besorgte seine Putzfrau auch den Abwasch und die Wäsche, zuletzt kam sie sogar dreimal in der Woche. Allerdings hatte ihm seine Frau schon vor Jahren verboten, dieses Wort zu benutzen, »Frau Künzle« oder »unsere gute Fee« sollte er sagen.

Am meisten vermisste er seine Frau an warmen Tagen, wenn sie den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt hatte. Ihre ganze Liebe galt dem Steingarten, wo sie Stunden um Stunden herumzupfte. Es hatte ihn immer verwundert, wie sehr sie sich über ein winziges Blümchen freute, wie glücklich sie über eine Eidechse auf den warmen Steinen oder ein Eichhörnchen in der Tanne sein konnte. Wenn der Wind gelbe Blätter von den Bäumen wehte, rief sie voller Entzücken: »Schau doch, Willy! Sterntaler wie im Märchen!«

Für ihn war es die reinste Qual geworden, Laub aufzukehren, Unkraut zu rupfen oder den Rasen zu mähen, und der Garten sah inzwischen dementsprechend aus. Heute aß er auch bei schönstem Wetter nur noch vor laufendem Fernseher. Kürzlich war ihm dabei das fettige Spiegelei vom Teller geglitten, zum Glück fiel das Gelb auf Ilses rosa Plüschsessel kaum auf. Wenn der Junge nicht wäre, der ihm gelegentlich...