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Drei Stunden zwischen zwei Flügen - und andere Meistererzählungen

F. Scott Fitzgerald

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601442 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[7] Hundert Fehlstarts

Peng!, macht die Pistole, und der Läufer startet. Hin und wieder kriegt er das richtig gut hin, häufiger allerdings war es ein Fehlstart. Dann läuft er, wenn er Glück hat, zehn, zwölf Meter, schaut sich um und trottet verlegen zurück zum Start. Nur zu oft aber umrundet er einmal die ganze Bahn in der Meinung, dass er die Spitze hält, nur um beim Endspurt festzustellen, dass keiner hinterherkommt. Der Lauf muss wiederholt werden.

Trainieren Sie fleißiger, machen Sie einen langen Spaziergang, streichen Sie Ihren Schlaftrunk, verzichten Sie aufs Fleisch beim Dinner und belasten Sie sich nicht mehr mit politischen Fragen…

So weit ein Interview mit einem Fehlstart-Champion der schreibenden Zunft – mit mir. Ich greife zu einem ledergebundenen Müllbehälter, von mir albernerweise »Notizbuch« genannt, und hole aufs Geratewohl ein dreieckiges Fetzchen Packpapier heraus. Auf einer Seite klebt eine abgestempelte Briefmarke, auf der anderen steht:

[8] Boopsie Dee war pfiffig

Mehr nicht. Kein Hinweis darauf, was auf diese absurde Feststellung hätte folgen sollen. Boopsie Dee – dass ich nicht lache! – konfrontiert mich mit dieser einen dogmatischen Aussage über ihre Person. Nie werde ich erfahren, was aus ihr geworden ist, wo und wann ihr dieser grässliche Name angehängt wurde und ob die Tatsache, dass sie pfiffig war, ihr viel Ärger gebracht hat.

Ich nehme einen anderen Zettel zur Hand:

Artikel – »Unerfreuliche Sachen, die Frauen anstellen« plus Artikel einer Frau als Gegenstück: »Unerfreuliche Sachen, die Männer anstellen.«

Nr. 1: Bei Tisch Glasauge herausnehmen.

Mehr steht da nicht. Offenbar eine Idee, die sich in Gelächter aufgelöst hat, noch ehe sie richtig Gestalt angenommen hatte. Was sind das für unerfreuliche Sachen, die junge Frauen anstellen? Generell und heutzutage – meine ich. Oder was stellt eine große Mehrheit von ihnen an oder eine starke Minderheit? Ich hätte da schon ein paar vage Vorstellungen – aber nein, die Idee ist gestorben. Ich erinnere mich nur an einen Artikel, in dem es um eine Frau ging, die sich von ihrem Mann hatte scheiden lassen, weil [9] es sie störte, wie er sein Kotelett anging, und dass ich damals überlegte, warum sie ihn nicht schon vor der Heirat ein Kotelett zur Probe hatte essen lassen. Nein, all das gehört in ein Goldenes Zeitalter, in dem sich die Leute einen Nervenzusammenbruch leisten konnten, weil Daddys Schuhe quietschten.

Es gibt Hunderte solcher Ideen – nicht alle haben mit Literatur zu tun. Mal ging es darum, eine Ouled-Naïl-Tanztruppe aus Afrika zu importieren, dann wieder, den Grand Guignol aus Paris nach New York zu bringen oder den Football in Princeton wiederzubeleben (ich hätte da zwei torreiche Spiele zu bieten, mit denen der Trainer sich innerhalb einer Saison einen Namen machen könnte); schließlich finde ich noch einen vergilbten Vermerk »D. W. Griffith klarmachen, dass Kostümstücke wiederkommen« sowie meinen Plan für eine Verfilmung von H. G. Wells’ Geschichte unserer Welt.

Diese kurzen Geistesblitze belasteten mich nicht weiter – es waren die Träume eines Opiumessers, die gleichsam mit dem Rauch aus der Pfeife verflogen. Mich gedanklich mit ihnen zu beschäftigen kam dem Vergnügen gleich, sie in eine vollendete Form gebracht zu haben. Es sind vielmehr die sechsseitigen, zehnseitigen, dreißigseitigen Konvolute, die mir beruflich Kummer machen, als wären es erfolglose Ölbohrungen – sie sind meine eigentlichen Fehlstarts.

[10] Da gibt es beispielsweise einen, den ich mindestens zehn-, zwölfmal hingelegt habe – eine Short Story oder vielmehr ein Text, der versucht, die Form einer Short Story anzunehmen. Im Lauf der Zeit habe ich so viele Worte davon zu Papier gebracht, dass man durchaus einen vorzeigbaren Roman daraus hätte machen können, die derzeitige Version aber umfasst nur an die zweitausendfünfhundert Worte und liegt seit zwei Jahren unberührt da. Der jetzige Titel – die Story lief schon unter mehreren Decknamen – lautet Die Familie Barnaby.

Von klein auf beschäftigt mich ein Tagtraum – was für ein Wort für einen Mann, der sein ganzes Leben damit verbringt, Tagträume aufzuschreiben! –, auf einer einsamen Insel bei null anzufangen und aus dem vorhandenen Material eine relativ hochstehende Zivilisation zu schaffen. Ich fand schon immer, dass Robinson Crusoe geschummelt hat, als er die Werkzeuge aus dem Schiffswrack rettete, und das Gleiche gilt für die Schweizer Familie Robinson, die Zwei kleinen Wilden und die mit dem Ballon Gestrandeten der Geheimnisvollen Insel. In meiner Geschichte würde es nicht nur keine praktischerweise an Land geschwemmten Weizenkörner, keine Winchesterbüchse, keinen 4000-PS-Dieselmotor oder technokratischen Butler geben, sondern meine Figuren würden hilflose Städter sein, die von der [11] Holzbearbeitung nicht mehr Ahnung hätten als der Kuckuck in der Uhr.

Solche Figuren zu erfinden war ein Klacks, sie an Land zu schwemmen das Einfachste von der Welt.

Drei  lange Stunden lagen sie erschöpft am Strand. Dann stand Donald auf.

»Da wären wir nun«, sagte er benommen.

»Wo?«, fragte seine Frau gespannt.

»Amerika kann es nicht sein, und die Philippinen sind es auch nicht, denn von dem einen Land sind wir aufgebrochen und in dem anderen noch nicht angekommen.«

»Ich habe Durst«, sagte das Kind.

Donalds Blick ging rasch zum Ufer.

»Wo ist das Floß?« Er sah Vivian einigermaßen vorwurfsvoll an. »Wo ist das Floß?«

»Als ich aufwachte, war es weg.«

»Typisch!«, sagte er erbittert. »Jemand hätte daran denken müssen, den Wasserkrug an Land zu bringen. Wenn ich mich nicht um alles kümmere, passiert in diesem Haus überhaupt nichts. In dieser Familie, meine ich.«

Und wie weiter? Freiwillige vor! Du da in der zehnten Reihe, aufstehen! Erzähl einfach die Geschichte [12] weiter. Wenn du dich festfährst, kannst du immer noch die tropische Flora und Fauna im Lexikon nachschlagen – oder einen Nachbarn anrufen, der einen Schiffbruch hinter sich hat.

Genau an dieser Stelle beginnt meine Geschichte (und den Plot finde ich nach wie vor großartig), vor Unglaubwürdigkeit zu ächzen und zu knirschen. Nach einer Weile mache ich mit einem unbehaglichen Gefühl kehrt – wer soll einem den Unsinn von den Affen abnehmen, die mit Kokosnüssen schmeißen? –, trotte zurück zum Start und gehe wieder in die Hocke. Tagelang.

An solchen Tagen brüte ich manchmal über einem Packen von Blättern mit der Überschrift »Ideen für Storys«. Da finde ich dann unter anderem:

Badewasser in Princeton oder Florida.

Plot – Selbstmord, Luxus, Hass, Leber und besondere Umstände.

Brüskieren oder Brüskiertwerden.

Tänzerin merkt, dass sie fliegen kann.

Eigenartigerweise sind das für mich verständliche, wenn auch vielleicht nicht unbedingt erhellende Vorschläge. Aber sie sind alle uralt und ungefähr so aufregend wie meine Unterschrift oder der Klang meiner Schritte auf dem Fußboden. Einer gab mir [13] jahrelang Rätsel auf, er ist nicht weniger mysteriös als Boopsie Dee.

Geschichte: DER WINTER WAR KALT

Figuren

Victoria Cuomo

Mark de Vinci

Alice Hall

Jason Tenweather

Notarzt

Stark, Wachmann

Worum ging es da? Wer waren diese Menschen mit den finsteren Namen? Bestimmt sollte jemand ermordet werden beziehungsweise selbst einen Mord begehen, ansonsten habe ich den Plot längst vergessen.

Ich blättere weiter und stoße auf einen Text, bei dem ich ein wenig länger verweile: Ein vielversprechender Ansatz, der mich womöglich sogar über die volle Distanz hätte bringen können.

WORTE

Wenn man einen teureren Artikel in Betracht zieht, um dann doch den billigeren zu nehmen, ist der Verkäufer meist so nett, einen in der Wahl zu bestätigen. »Der ist bestimmt besonders haltbar«, sagt [14] er tröstend. Oder gar: »Den hätte ich auch genommen.«

So machten es die Trimbles – Experten in der Kunst, das Zweitbeste zum Besten hochzureden.

»Das kann man gut im Haus tragen«, pflegten sie zu sagen, oder: »Wir warten lieber, bis wir uns was wirklich Schönes kaufen können.«

Als ich so weit gekommen war, wurde mir klar, dass ich über die Trimbles nicht würde schreiben können. Es waren sympathische Leute, und eine Geschichte über ihr weiteres Schicksal hätte ich mit Vergnügen gelesen, aber ich selbst schaffte es nicht, unter die äußere Hülle ihres Lebens zu sehen, ich kam nicht dahinter, warum sie sich damit zufriedengaben, aus den Umständen das Beste zu machen, statt die Umstände zu ändern. Deshalb habe ich sie aufgegeben.

Ein anderes Thema sind Hundegeschichten. Ich mag Hunde und würde gern wenigstens eine Hundegeschichte im Stil von Mr. Terhune schreiben, aber sehen Sie mal, was passiert, wenn ich zur Feder greife:

[15] DOG
Die Geschichte eines Hündchens

An der Ecke nur ein Zeitungsverkäufer mit verwittertem Gesicht, der seine Blätter feilbot. Ein großer...