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Schikanen

Dick Francis, Felix Francis

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600131 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] Prolog

März 2008

»Schuldig.«

Ich beobachtete den Sprecher der Jury bei der Bekanntgabe des Geschworenenspruchs. Er trug ein helles Tweedsakko über einem blauweiß gestreiften Hemd. Zu Beginn des Prozesses hatte er noch stets eine nüchtern gestreifte Krawatte umgehabt, die ihm angesichts der sehr saloppen Kleidung seiner elf Mitgeschworenen dann aber wohl doch zu steif vorkam, und jetzt trug er das Hemd mit offenem Kragen. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er grau an den Schläfen und hielt sich gerade. Vielleicht war er deshalb zu ihrem Sprecher ernannt worden. Er hatte etwas von einem pensionierten Lehrer an sich, der es gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen und in einer Klasse voll ungebärdiger Jugendlicher für Ruhe zu sorgen.

»Schuldig«, sagte er noch einmal, etwas nervös zwar, aber mit fester, tiefer Stimme. Sein Blick ruhte einzig auf dem Richter in Talar und Perücke, der ein wenig erhöht zu seiner Linken saß. Nicht ein einziges Mal sah er zu dem jungen Mann auf der Anklagebank hinüber, der ebenfalls etwas erhöht, aber rechts von ihm saß. Wir waren in Saal 3 am Old Bailey, einem der alten viktorianischen Gerichtssäle des Central Criminal Court, erbaut zu einer Zeit, als man bei Übeltätern noch auf Einschüchterung und bei [8] Unbescholtenen auf Abschreckung setzte. Bei aller formellen Strenge war es jedoch ein kleiner Saal, nicht größer als ein geräumiges Wohnzimmer. Der Richter oben in seiner langen Bank beherrschte den Raum und thronte über den anderen Beteiligten – dem Angeklagten, den Anwälten und Geschworenen –, die so eng beieinandersaßen, dass sie sich kaum bewegen konnten, ohne sich zu berühren, doch das vermieden sie nach Möglichkeit.

Insgesamt wiederholte der lehrerhafte Sprecher achtmal dasselbe Wort, bevor er sich mit einem Seufzer spürbarer Erleichterung darüber, dass die Sache ausgestanden war, wieder hinsetzte.

Die Jury hatte den jungen Mann in allen acht Anklagepunkten für schuldig befunden: Körperverletzung in vier Fällen, gefährliche Körperverletzung in drei Fällen und ein Mordversuch.

Es überraschte mich kaum. Sogar ich als der Verteidiger des jungen Mannes war von seiner Schuld überzeugt.

Warum hatte ich dann die schönste Zeit des Jahres im Old Bailey herumgehockt und versucht, einen Kerl, der es nicht verdiente, vor einem ziemlich langen Aufenthalt hinter Schloss und Riegel zu bewahren?

Des Geldes wegen, nehme ich an. Dabei wäre ich wegen der Renntage viel lieber in Cheltenham gewesen. Zumal ich geplant hatte, an diesem Nachmittag meinen zwölfjährigen braunen Wallach im Foxhunters Chase, dem »Gold Cup der Amateure«, zu reiten.

Die britische Justiz geht seit fünfhundert Jahren davon aus, dass Menschen unschuldig sind, bis ihre Schuld erwiesen ist. Deshalb braucht der Angeklagte nicht seine Unschuld[9]  nachzuweisen, sondern sich lediglich gegen Anschuldigungen zu wehren, Anschuldigungen, die erst anerkannt werden, wenn kein berechtigter Zweifel mehr an ihrer Richtigkeit besteht. Der Angeklagte wird je nach Titel als Mister, Doctor oder Sir, wenn nicht als Hochwürden, Euer Gnaden oder Euer Ehren angeredet. Sprechen die Geschworenen ihn aber schuldig, fallen diese hübschen Unterscheidungen sofort weg, und der Angeklagte wird zum »Täter«. Statt um höfliche Wahrheitsfindung und Aufdeckung der relevanten Fakten geht es nunmehr um Strafe und Vergeltung für nachgewiesene Vergehen.

Noch ehe der Geschworenensprecher richtig Platz genommen hatte, erhob sich auch schon der Staatsanwalt, um das Gericht über die Vorstrafen des Täters in Kenntnis zu setzen. Das waren nicht wenige. Bereits viermal war er wegen Gewalttätigkeit verurteilt worden, allein zweimal wegen gefährlicher Körperverletzung. Zweimal hatte der junge Mann dafür in einer Jugendstrafanstalt gesessen.

Ich beobachtete, wie die Geschworenen die Neuigkeit aufnahmen. Fast eine Woche lang hatten sie sich vor der Abgabe ihres Urteils beraten. Jetzt waren einige von ihnen sichtlich entsetzt über den zutage tretenden wahren Charakter des elegant gekleideten Dreiundzwanzigjährigen auf der Anklagebank, der aussah, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Konnte mir jemand verraten, was ich hier machte? Zum x-ten Mal fragte ich mich, warum ich einen so hoffnungslosen Fall übernommen hatte. Ich kannte die Antwort. Weil der Freund eines Freundes der Eltern des jungen Mannes mich dazu gedrängt hatte. Weil alle mich bekniet hatten,[10]  seinen Fall zu übernehmen, mir versichert hatten, er sei unschuldig, den gegen ihn erhobenen Vorwürfen liege eine Verwechslung zugrunde. Und auch, wie gesagt, weil sie anständig zahlten.

Ich fand jedoch schnell heraus, dass der einzige Irrtum hier in dem unerschütterlichen Glauben der Eltern lag, ihr Goldjunge könne unmöglich mit einem Baseballschläger auf eine ganze Familie losgegangen sein. Das einzige Motiv für den abscheulichen Überfall bestand darin, dass sich der Familienvater bei der Polizei beschwert hatte, der junge Mann benutze die Straße vor ihrem Haus allnächtlich bis um zwei oder drei Uhr früh als Dragster-Rennpiste.

Alles, was ich über meinen Klienten herausgefunden hatte, bestätigte mir nur immer wieder, dass es ein Fehler gewesen war, den Fall anzunehmen. Seine Schuld lag für mich so klar auf der Hand, dass ich dachte, der Prozess würde im Nu vorbei sein und ich könnte leichten Herzens mit dicker Brieftasche nach Cheltenham zum Pferderennen fahren. Dass die Geschworenen aus unerfindlichen Gründen so lange gebraucht hatten, um zu dem einzig möglichen Schluss zu gelangen, war leider nicht zu ändern gewesen.

Ich hatte zwar mit dem Gedanken gespielt, mich krankzumelden und nach Cheltenham abzusetzen, aber der Richter war selbst turfbegeistert und hatte mir am Vorabend noch sein Mitgefühl dafür ausgesprochen, dass ich am Foxhunters nicht würde teilnehmen können. Hätte ich Krankheit vorgeschützt und wäre in dem Rennen gestartet, hätte er mich wahrscheinlich wegen Missachtung zu sich bestellt, und damit hätte ich alle Hoffnung, einmal Kronanwalt zu werden, begraben können.

[11] »Es findet ja auch nächstes Jahr statt«, hatte der Richter mit einem irritierenden Lächeln gesagt.

Aber zum Foxhunters konnte man sich nicht einfach anmelden, man musste sich durch Rennsiege dafür qualifizieren, und das war mir nach zehnjährigem Bemühen jetzt zum ersten Mal gelungen. Nächstes Jahr wären Pferd und Reiter wieder ein Jahr älter, und wir standen beide nicht mehr in der Blüte unserer Jugend. Vielleicht kam die Chance für uns nie wieder.

Ich sah auf meine Armbanduhr. In einer halben Stunde ging das Rennen los. Mein Pferd würde zwar starten, aber mit einem anderen Jockey, und der Gedanke daran war mir zuwider. Wie oft hatte ich das Rennen im Kopf durchgespielt, und jetzt nahm jemand anderes meinen Platz ein. Ich hätte in diesem Augenblick in der Jockeystube in Cheltenham die leichte Reithose, den bunten Seidendress überziehen sollen, statt in Nadelstreifen, Talar und Perücke hier zu sitzen, weit weg vom jubelnden Publikum, deprimiert und ohne einen Funken freudiger Erregung.

»Mr. Mason«, riss mich der Richter aus meiner Träumerei. »Ich habe gefragt, ob die Verteidigung vor der Urteilsverkündung noch etwas sagen möchte.«

»Nein, Euer Ehren.« Ich erhob mich halb und setzte mich wieder hin. Soweit ich sah, gab es keine mildernden Umstände, auf die ich das Gericht hätte hinweisen können. Weder ließ sich behaupten, der junge Mann stamme aus ärmlichen oder zerrütteten Verhältnissen, noch ließ sein Verhalten sich auf irgendeinen erlittenen Missbrauch zurückführen. Im Gegenteil. Seine glücklich verheirateten Eltern liebten ihn, und er hatte eine namhafte englische Privatschule besucht, [12] jedenfalls bis er mit siebzehn hinausgeworfen wurde, weil er die jüngeren Mitschüler schikaniert und den Lehrer, der ihn dafür zur Rechenschaft zog, mit einer zerbrochenen Flasche bedroht hatte.

»Der Angeklagte erhebe sich«, rief der Gerichtsschreiber.

Fast aufreizend langsam erhob sich der junge Mann. Auch ich stand auf.

»Julian Trent«, sprach ihn der Richter an, »dieses Gericht hat Sie des gewaltsamen Überfalls auf eine unschuldige Familie für schuldig befunden und legt Ihnen einen Mordversuch zur Last. Sie haben keine Reue für Ihre Taten gezeigt, und ich betrachte Sie als eine Gefahr für die Gesellschaft. Da Sie bereits mehrfach wegen Gewaltdelikten verurteilt worden sind, hat es den Anschein, als könnten oder wollten Sie aus Ihren Fehlern nicht lernen. Ich bin mir bewusst, dass ich die Pflicht habe, die Öffentlichkeit zu schützen. Daher verurteile ich Sie zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren. Nach unten mit ihm.«

Achselzuckend ließ sich Julian Trent von zwei stämmigen Vollzugsbeamten in den Zellentrakt hinunterbringen. Im Publikum brach seine Mutter in Tränen aus und wurde von Mr. Trent, der nie von ihrer Seite wich, beschwichtigt. Ich fragte mich, ob sie nach der achttägigen Gerichtsverhandlung und den erdrückenden Beweisen immer noch so ein rosiges Bild von ihrem Sprössling hatten.

Im Stillen hatte ich gehofft, der Richter würde Julian lebenslang einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Denn spätestens nach der Hälfte der ihm zugemessenen acht Jahre würde er wieder auf freiem Fuß sein und selbstherrlich mit [13] seinem Baseballschläger irgendeinen armen Tropf, der ihm über den Weg lief, bedrohen und verprügeln.

Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass er lange vor Ablauf der vier Jahre schon wieder draußen sein könnte und dass ich der...