dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Der Maler des Verborgenen - Roman über Leonardo da Vinci

John Vermeulen

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601640 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

12,99 EUR


 

[15] 2

Leonardo saß auf einem Hocker in der Scheune und schaute gebannt auf die emsigen Hände der drei Frauen, die hier Weidenkörbe flochten. Die flinken, routinierten Bewegungen ihrer Finger hatten wirklich etwas Hypnotisierendes. Wenn man lange genug darauf blickte, schien es, als hätten die Hände ein Eigenleben.

»Was kritzelst du denn da wieder?«

Leonardo wurde von der tiefen, fast männlichen Stimme Bertolias aufgeschreckt. Bertolia war die Dienstmagd von Ser Piero, aber sie dirigierte praktisch den gesamten Haushalt. Ser Piero wurde vollauf von seinem Notariat beansprucht, und Leonardos Stiefmutter Albiera zeigte keinerlei Ambitionen, für irgendetwas Verantwortung zu übernehmen. So war es ihr nur recht, dass Bertolia ihr einiges abnahm, und es störte sie nicht, dass die Magd sich auch um Leonardos Erziehung kümmerte.

Leonardo senkte den Blick beinahe schuldbewusst auf das Blatt Papier und den Kohlestift, die auf seinem Schoß lagen. »Ich habe Geschichten geschrieben.«

»Geschichten? Wozu soll das gut sein?«

»Ach… nur so.«

Bertolia stemmte die Hände in die Seiten. Sie war klein, aber kräftig gebaut und erinnerte Leonardo ein wenig an [16] eine Kopfweide. Sie trug immer bodenlange Röcke, die sie hochstecken musste, um bei der Arbeit nicht darüber zu stolpern. »Musst du heute nicht in die Schule?«

Leonardo schüttelte den Kopf. »Es sind Ferien. Wegen der Olivenernte.«

»Ach ja. Und wovon handeln deine Geschichten denn so?«

Leonardo hielt den Blick starr auf seine Notizen geheftet. Er hasste solche Fragen. Was immer er auch darauf erwiderte, es führte meist nur zu weiteren Fragen und oft auch hämischen Bemerkungen. Unwillig sagte er: »Von Dingen, die ich sehe, Gedanken und dergleichen.«

»Und was soll ich mir darunter vorstellen?« Bertolia schnappte sich Leonardos Aufzeichnungen und betrachtete sie argwöhnisch, obwohl sie gar nicht lesen konnte. »Das sind doch wohl keine Schimpfwörter, oder?«

Er schüttelte entrüstet den Kopf. »Da geht es um eine schlafende Katze, eine Drossel, die rote Beeren frisst, einen Bock und eine Ziege, einen Milan, der mit einem Kind in einem Wagen spricht…«

»Und daraus machst du Geschichten?«

Leonardo nickte nur.

Bertolias Neugierde schien wider Willen geweckt. »Lies mir mal was vor!«

Sie gab Leonardo das Geschriebene zurück. Obwohl er noch sehr jung war, konnte er manchmal ungemein witzige Bemerkungen machen, das war ihr schon aufgefallen. Er war intelligent und nicht auf den Mund gefallen und konnte mit seinen verrückten Einfällen eine ganze Gesellschaft zum Lachen bringen.

Leonardo zögerte. Seine Beziehung zu Bertolia gründete [17] auf praktischen Notwendigkeiten. Sie sorgte dafür, dass er zu essen und zu trinken bekam, und sie wusch ihm den Sand und den Schmutz aus den Wunden, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte. Er half ihr manchmal bei alltäglichen kleinen Arbeiten oder begleitete sie auf den Markt, um die Einkäufe zu tragen. Falls er sich nicht mehr rechtzeitig verdrücken konnte, denn Leonardo war eher faul. Was körperliche Aktivitäten betraf jedenfalls, denn sein Geist war fortwährend in Bewegung, sogar nachts in seinen Träumen.

»Na los, Junge, ich habe noch zu arbeiten!«

»Wer große Sprünge machen kann, muss kein Bock sein.«

Unsicher schaute Leonardo vom Blatt auf.

Bertolia grinste breit. »Das ist gut«, räumte sie ein. »Hast du noch so was?«

»Wer den Stier bei den Hörnern packt, darf nicht davon ablassen.«

»Das kann man wohl sagen«, sagte die Magd ernst. »Noch was?«

»Hohe Bäume fangen viel Wind, was sie aber damit machen, weiß niemand.«

Bertolia runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, was daran witzig sein soll. Was soll denn ein Baum mit dem Wind anstellen?«

»Wieso fängt er ihn dann?«

»Du hältst mich zum Narren«, sagte die Magd vorwurfsvoll.

Leonardo seufzte demonstrativ und schaute wieder auf seine Notizen. »Es heißt immer, dass einem Hund die Flöhe fehlen würden, aber woher will man das wissen? Hat je einer den Hund gefragt?«

[18] »Keine Ahnung«, sagte Bertolia. »Wenn du genug geträumt hast, kannst du in die Küche kommen und mir helfen.« Sie drehte sich abrupt um und schlurfte davon.

Leonardo schaute der Magd nicht nach, sondern griff zu seinem Stift und schrieb: »Streiten sich zwei Hunde um einen Knochen, gibt ihr Herr ihnen nicht genug zu fressen…«

Die Küche hatte er sofort wieder vergessen.

Die Oliven wurden von Oktober bis Dezember mit Stangen aus Schilfrohr, das reichlich am Fluss wuchs, von den Bäumen geschlagen. Die Nachbarn halfen, die Früchte in große Körbe zu sammeln und zum Molino della Doccia, der Ölmühle vor den Toren der Stadt, zu tragen. Das dort mittels Mühlsteinen und Pressen gewonnene Öl fand vielerlei Verwendung, vor allem in der Küche, aber auch als Schmiermittel, als Lampenöl oder für medizinische Zwecke.

Wenn Leonardo nicht in die Schule musste, hielt er sich gern in der Ölmühle auf, ungeachtet der streng riechenden, feuchten Luft und des gefährlich rutschigen Bodens dort. Er war fasziniert von den Pressen, die mit dem Wasser des Flusses angetrieben wurden, und fertigte detaillierte Zeichnungen davon an. Solange er nicht im Weg war, nahm niemand an dem elfjährigen Knaben Anstoß. Und Leonardo war nicht im Weg, denn er hatte gelernt, sich mehr oder weniger unsichtbar zu machen. So konnte er Menschen und Dinge beobachten, ohne dass man es bemerkte. Nicht nur Menschen und Dingen galt im Übrigen seine Aufmerksamkeit, sondern oft auch Tieren. Pferden und Hunden und vor allem Vögeln. Freilebenden Vögeln, denn im Käfig taten sie ihm nur leid. Im Käfig konnten sie nicht fliegen, und gerade [19] das machte ja die Besonderheit der Vögel aus. Sie einzusperren war in seinen Augen ein Verbrechen. Er hatte schon einmal heimlich eine gefangene Amsel befreit. Seither saß jeden Morgen eine vor dem Fenster seines Zimmers und sang, und Leonardo redete sich gern ein, dass das seine Amsel war.

Einen besonderen Stellenwert hatten für ihn auch die Pferde. In Vinci hatte praktisch jeder einigermaßen gutsituierte Bürger eines im Stall. Ser Piero besaß sogar zwei, und Leonardo durfte auf dem kleineren davon reiten. Sein Onkel Francesco, der um einiges jüngere Bruder seines Vaters, hatte ihm beigebracht, wie man das Tier aufzäumte und die Steigbügel einstellte. Ein einziges Mal hatte er ihm in den Sattel geholfen und ihm einige simple Dinge erklärt, alles Weitere war Leonardo selbst überlassen gewesen. Und er hatte den Bogen erstaunlich schnell herausgehabt. Oft genug hatte er Reiter beobachtet, und da er ein geborener Autodidakt war, lernte er vieles einfach dadurch, dass er es anderen abguckte. So wusste er schon, bevor er zum ersten Mal selbst im Sattel saß, genau, welche Kommandos man dem Pferd mit den Beinen geben musste, damit es tat, was man wollte.

Was ihn an Pferden vor allem faszinierte, war ihre Kraft. Manchmal fuhr er mit der Hand über den Körper eines Tieres und folgte dem Verlauf seiner Muskeln. Er versuchte zu verstehen, wie sie die Beine des Tieres antrieben und woher jene große Kraft kommen mochte. Wenn er Pferde zeichnete, sahen sie aus, als wären sie aus Holz oder Metall, und erinnerten eher an mechanische Gebilde als an lebendige Wesen. Das war für ihn ein Mittel, sich den Gesamtmechanismus vor Augen zu führen. Und Mechanismen waren [20] besser zu verstehen als all die lebenden Wesen, die er in der weiten Umgebung Vincis beobachtete.

Leonardo streifte gern an den Ländereien mit ihren in der Sonne schimmernden Olivenbäumen vorüber, und noch lieber durch unkultiviertes und urwüchsiges Gebiet. Wenn man sich versteckt hielt und leise war, bekam man mit der nötigen Geduld die verschiedensten Vögel und andere Tiere zu sehen, die dem unaufmerksamen Wanderer entgingen. Ihre Namen und Beschreibungen versuchte er anschließend in der Bibliothek seines Vaters nachzuschlagen. Da er ein fabelhaftes Gedächtnis für Formen und Farben hatte, lernte er so mit der Zeit, Dutzende von Vogelarten zu bestimmen. Und immer wieder begeisterten ihn ihre kunstvollen Flugbewegungen.

»Ich wünschte, ich könnte fliegen«, sagte er einmal zu seinem Vater, als er ihn in seiner Kanzlei aufsuchte, nachdem er sich zuvor vergewissert hatte, dass gerade kein Mandant da war. Der Notar hatte ihm nämlich strikt verboten, ihn zu stören, wenn er einen Besucher hatte.

Ser Piero, der gerade etwas in einem dünnen Buch notierte, brummte nur vor sich hin, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.

»Warum haben Menschen keine Flügel? Es wäre so schön und bequem, wenn man einfach von einem Ort zum anderen fliegen könnte. Auf dem Wind segeln wie der Milan…« Leonardo starrte auf den gesenkten Kopf seines Vaters. »Die Menschen sind doch so viel gescheiter als die Vögel, wieso können die Vögel da etwas so Bedeutsames, was wir nicht können?«

Jetzt schaute sein Vater auf. »Leonardo, Leonardo, was phantasierst du dir nur alles zurecht!«

[21] Da er beruflich stark eingespannt war, hatte Ser Piero gewöhnlich wenig Zeit für Leonardo, zumal er in seiner knapp bemessenen Freizeit lieber Wurfzabel spielte, als sich seiner Familie zu widmen. So schaute er Leonardo nun mit leichtem Erstaunen an. Der Junge wird erwachsen, stellte er fest, als hätte er ihn schon lange nicht mehr gesehen. Das heißt, gesehen schon, aber nicht wahrgenommen, sagte er sich, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu...