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Heuschrecken

Barbara Vine

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601220 , 656 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Sie haben mich hierhergeschickt, weil das mit dem Mast passiert ist. Oder vielleicht, damit ich nicht jedesmal, wenn ich aus dem Haus gehe oder auch nur aus dem Fenster gucke, den Mast sehe.

»Wir haben überlegt, ob wir das Haus verkaufen und wegziehen sollen«, hatte mein Vater gesagt. »Glaub nur ja nicht, daß wir uns darüber keine Gedanken gemacht hätten. Aber du bist ja schließlich…«

Weiter kam er nicht, aber ich wußte, wie der Satz weitergegangen wäre. Du bist ja schließlich nicht ewig hier. In deinem Alter bleibt man nicht mehr lange zu Hause wohnen, du wirst zum Studium an die Uni gehen oder zu arbeiten anfangen und ein eigenes Zuhause haben. Aus den Augen, aus dem Sinn – auch das hatte er damit gemeint. Mit der Zeit werden die Leute aufhören, in uns die Eltern von diesem Mädchen zu sehen, sie werden aufhören, sich zu fragen, was für Eltern so eine wohl hat, sie werden aufhören, uns anzustarren und mit dem Finger auf uns zu zeigen. Vor allem, wenn du dich nicht allzuoft zu Hause sehen läßt. Vielleicht denken sie dann, daß du tot bist. Vielleicht erzählen wir ihnen das sogar.

Die letzten beiden Sätze sind reine Phantasie. Ich behaupte nicht, daß sie wünschten, ich wäre tot. Mein Wohlergehen liegt ihnen am Herzen, wie meine Mutter zu sagen [8] pflegt. Und deshalb war sie wohl so froh und glücklich – seit der Geschichte mit dem Hochspannungsmast habe ich sie nicht mehr so froh und glücklich gesehen –, als Max mit seinem Angebot herausrückte. Bestenfalls hatten sie gehofft, ich würde ein Zimmer im Studentenwohnheim ergattern oder als viertes Mädchen in einer Wohngemeinschaft unterkommen.

»Eine Wohnung für dich allein!« sagte meine Mutter. »Und in einer so angenehmen Gegend.«

Damals sah ich im Geist reihenweise Pseudofachwerkhäuser vor mir, schwarzweiß gestreift wie Zebras, mit Pampasgras im Vorgarten und einem Audi vor der Garage, wie wir sie in Mengen gesehen hatten, Daniel und ich, als wir auf seiner alten Motoguzzi über die lange, breite North Circular Road gegondelt waren. Unser London, das waren die äußeren Vororte, Waltham Cross und Barnet, Colindale und Edgware, Uxbridge und Richmond und Purley. Wir zählten die Hochspannungsmaste und fotografierten die stacheldrahtbewehrten Klettersperren an ihren Beinen. Bis Maida Vale sind wir nie vorgedrungen, und von Little Venice hatten wir noch nicht mal gehört, aber ich stellte mir »eine angenehme Gegend« wie bei mir daheim vor, mit Häusern wie unser Haus. Wie Max darin eine abgetrennte Wohnung unterbringen konnte, war mir ein Rätsel. Wohnungen waren in großen Blocks, auch davon gab es viele an der nördlichen Ringstraße, ausgedehnte Flachdachbauten in Puddingfarben, auf denen die Namen in schwarzen oder silbernen Buchstaben standen: Ferndean Court und Summerhill und Brook House. Auf das, was ich heute nachmittag bei meiner Ankunft hier vorfand, war ich völlig unvorbereitet.

[9] Eigentlich hatte mein Vater mich hinbringen sollen. Üblicherweise machen die Eltern das so, wenn ein Kind auszieht, um zu studieren, ich habe es oft genug miterlebt. Sie packen den Kofferraum und auch die Rückbank voll – mit Klamotten und Sportsachen und Büchern, Radio und CD-Spieler und vielleicht einem Computer, und natürlich mit einem Freßkorb. Es ist ein freudiges Ereignis, ein Wendepunkt: Der Vater fährt das Kind, und die Mutter bleibt zurück, sie lächelt unter Tränen und ruft »Alles Gute«, läßt sich von dem scheidenden Kind versprechen, daß es anrufen wird, sobald es sich eingerichtet hat, und mahnt, es solle das kalte Huhn und den selbstgebackenen Kuchen im Freßkorb nicht vergessen.

Als ich mein Elternhaus verließ, lief das nicht so, ich hatte es auch nicht erwartet und wußte von jeher, daß man auf die Versprechen meines Vaters nicht viel geben konnte. Tags zuvor brachte er den Wagen in die Werkstatt, und dann kam der Anruf, man würde ihn gern noch einen Tag behalten, um die Elektronik zu prüfen. Vielleicht hatte Dad es nicht darauf angelegt, aber es traf sich gut für ihn. Nun hieß es, das sei eben nicht zu ändern, ich müsse mit der Bahn fahren.

So war mein Abschied nicht viel anders als die vergangenen zwei Jahre: bedrückend. Nach der Sache mit dem Mast waren meine Eltern in Therapie gewesen, genau wie ich, und die Therapeutin hatte ihnen gesagt, sie müßten Verständnis haben und mir Halt geben, sie müßten mir helfen, das Vergangene abzuschütteln und noch einmal neu anzufangen, damit ich mir keine Selbstvorwürfe machte und mich nicht ständig mit einem schlechten Gewissen herumplagte. Aber das kriegten sie nicht hin. Beim besten Willen nicht. Sie [10] sahen mich wohl wirklich als grundschlecht an und halfen sich unter anderem damit, daß sie mir sagten, sie wüßten nicht, »woher ich das hätte« – als sei jede Tat, die man begeht, jeder Fehler, den man macht, schon in einer langen Ahnenreihe angelegt und werde in einem Rücksichtslosigkeitsgen, einem Leichtsinns- oder eben einem Schlechtigkeitsgen weitergegeben. Heute vormittag und beim Essen musterten sie mich mit diesen Blicken, die eine Mischung aus Staunen und – ja, wohl auch Resignation sind. Und noch etwas erkannte ich darin: Erleichterung, vielleicht sogar Hoffnung, die Möglichkeit eines Neuanfangs auch für sie.

Ich packte das Notwendigste in zwei Handkoffer und alles andere in einen Schrankkoffer, mit dem schon mein Vater zum Studieren weggezogen war. Meine Mutter sagte, sie würde ihn mir in die Russia Road 19, London W9, nachschicken. Wenn alles gutging, würde ich für die Fahrt keine zwei Stunden brauchen. Sie bestellte telefonisch ein Taxi, das mich zum Bahnhof bringen sollte, vielleicht weil sie es mir nicht zutraute. Sie stand unentschlossen herum, und ich merkte, daß sie sich überlegte, ob sie mir einen Kuß geben sollte. Zwei Jahre lang hatten mich beide nicht geküßt oder auch nur angefaßt. Es war, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Mein Vater kam aus der Garage, wo er sich ein kleines Refugium mit Fernseher und einem Sessel eingerichtet hat. Es sei wohl allmählich Zeit für mich, sagte er.

Meine Mutter sah auf die Uhr. »Das Taxi ist noch nicht da.«

»Ich habe wirklich versucht, ihn zu retten«, sagte ich. »Ich habe ihn festgehalten, bis ich nicht mehr konnte. Ich hatte einfach nicht genug Kraft.«

[11] »Darüber wird nicht mehr geredet, Clodagh«, sagte meine Mutter. »Das Kapitel ist abgeschlossen.«

Mein Vater sagte: »Unser Leben geht weiter.«

Das Taxi kam. Der Fahrer klingelte und ging dann zurück zu seinem Wagen. Mum hauchte zwei Zentimeter vor meinem Gesicht einen Kuß in die Luft. Dad lachte nachsichtig, wie nett, sollte das heißen, seht mal, was für eine glückliche Familie wir sind, dann griff er sich meine Koffer und trug sie zum Taxi.

Vor dem Einsteigen warf ich einen letzten Blick auf den Hochspannungsmast, der dort mitten im Feld aufgepflanzt war, ein Skelett mit stählernen Knochen. Mein Vater hatte mich beobachtet. Kopfschüttelnd ging er zurück ins Haus. Zehn Minuten vor Einfahrt des Zuges waren wir in Ipswich.

Die U-Bahn-Station heißt Warwick Avenue. Ich war schon ein paarmal mit der U-Bahn gefahren, aber nicht oft und seit meiner Kinderzeit, seit der Autowaschanlage gar nicht mehr. Das Schlimmste, was mir je passiert ist, war die Sache mit dem Hochspannungsmast und das Nächstschlimmste die Waschanlage, aber das schreibe ich ein andermal auf, nicht jetzt. Jetzt – das war die U-Bahn. Ich fühlte mich hundeelend da unten, ich ballte die Fäuste und biß die Zähne zusammen, immerhin war ich von vielen Menschen umgeben, und das half ein bißchen. Am liebsten hätte ich mir von Liverpool Street Station ein Taxi genommen, konnte es mir aber nicht leisten, und außerdem war es ja jetzt zu spät, ich konnte nicht mehr raus aus den Tunnels, wo die Dächer sich auf mich herabsenkten und die Wände immer näher heranrückten. Die ganze Fahrt über, von Oxford Circus bis [12] Paddington, konzentrierte ich mich auf meinen Stadtplan London von A bis Z, und als ich wußte, daß ich mich zurechtfinden würde, ohne noch mal hinzusehen, waren es nur noch eineinhalb Kilometer, bis ich wieder Luft und Licht um mich spürte.

Das erste, was ich sah, als ich die Treppe hochkam, war eine ziemlich häßliche Kirche, die etwa so alt sein mochte wie ich, mit einem Turm, der gleich einer Messerklinge in den blaßgrauen Himmel ragte. Ich lehnte mich an die Kirchenmauer, atmete tief und beschloß, nie wieder in diese U-Bahn zu steigen. Die Kirche war das einzige moderne Gebäude weit und breit. Die Häuserzeilen, die in rechtwinklig zueinander verlaufenden und bogenförmigen Straßen, in Alleen und kürzeren Sträßchen standen, waren alle alt. Viktorianisch, vermute ich, hoch und hell und recht anmutig mit einem Portikus über der Tür und baumdicken weißen Säulen und Stufen davor. Es gab auch viele richtige Bäume, großgewachsen und alt, mit Stämmen, die gelb, grün und braun gefleckt waren wie Daniels Tarnfarbenhosen. Selina, die Frau von Max, hatte am Telefon etwas von einem Kanal gesagt, daß die Gegend wegen eines Kanals Little Venice hieß, aber ich konnte ihn nicht entdecken, jedenfalls nicht in der Richtung, in die ich ging, von der Warwick Avenue Richtung Norden.

Ich war heilfroh, daß ich die meisten Sachen in Dads Schrankkoffer gepackt und meine Handkoffer nicht ganz vollgestopft hatte, sie waren so schon schwer genug. Es gab nicht viel Verkehr, zumindest keinen rollenden Verkehr, die Autos standen alle Stoßstange an Stoßstange am Gehsteig. Ein paar Leute, ausschließlich junge Leute, kamen an mir vorbei, die alle zu...