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Zirkuskind

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601336 , 976 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

[17] 1

Die Krähe auf dem Deckenventilator

Zwergenblut

Normalerweise sorgten die Zwerge dafür, daß er immer wieder zurückkam – zurück zum Zirkus und zurück nach Indien. Inzwischen kannte der Doktor das Gefühl, Bombay immer wieder »endgültig« zu verlassen; fast jedes Mal, wenn er abreiste, schwor er sich, nie mehr nach Indien zurückzukehren. Dann vergingen ein paar Jahre – grundsätzlich nie mehr als vier oder fünf –, und irgendwann nahm er wieder den langen Flug von Toronto nach Indien auf sich. Daß er in Bombay geboren war, war nicht der Grund; wenigstens behauptete er das. Seine Eltern waren beide tot. Seine Schwester lebte in London, sein Bruder in Zürich. Die Frau des Doktors war Österreicherin, ihre Kinder und Enkelkinder waren in England und Kanada zu Hause. Keines wollte in Indien leben – sie kamen auch nur selten zu Besuch dorthin –, und nicht ein einziges war dort geboren. Dem Doktor jedoch war es vom Schicksal bestimmt, nach Bombay zurückzukehren. Er würde immer und immer wieder herkommen – wenn nicht bis an sein Lebensende, dann zumindest so lange, wie es im Zirkus Zwerge gab.

Die meisten Zirkusclowns in Indien sind chondrodystrophe Zwerge. Sie werden oft als Zirkusliliputaner bezeichnet, sind aber keine richtigen Liliputaner, sondern Zwerge. Chondrodystrophie ist die häufigste Erscheinungsform von Minderwuchs mit verkürzten Extremitäten. Ein chondrodystropher Zwerg kann normalgewachsene Eltern haben, doch die Wahrscheinlichkeit, daß seine eigenen Kinder Zwerge sind, beträgt fünfzig [18] Prozent. Diese Form des Zwergwuchses ist in vielen Fällen das Ergebnis einer seltenen genetischen Veränderung, einer Spontanmutation, die bei den Kindern des Zwergs dann zu einem dominanten Merkmal wird. Bisher hat man noch keinen genetischen Marker für dieses Merkmal entdeckt, und keine Koryphäe auf dem Gebiet der Genetik macht sich die Mühe, nach einem solchen Marker zu suchen.

Sehr wahrscheinlich hatte Dr. Farrokh Daruwalla als einziger die abwegige Idee, einen genetischen Marker für diese Art von Zwergwuchs zu suchen. Da es sein sehnlichster Wunsch war, einen solchen zu entdecken, mußte er notgedrungen Blutproben von Zwergen sammeln. Daß es sich um ein sonderbares Vorhaben handelte, war klar: Immerhin war Dr. Daruwalla ein orthopädischer Chirurg, und vom orthopädischen Standpunkt aus war sein Zwergenblut-Projekt uninteressant. Genetik war nur eines seiner Hobbys. Doch trotz seiner seltenen und stets kurzen Besuche in Bombay hatte kein Mensch in Indien jemals so vielen Zwergen Blut abgenommen; niemand hatte so viele Zwerge angezapft wie Dr. Daruwalla. So kam es, daß er in den indischen Zirkussen, die durch Bombay kamen oder auch in kleineren Städten in Gujarat und Maharashtra gastierten, liebevoll »der Vampir« genannt wurde.

Natürlich hat ein Arzt mit Dr. Daruwallas Spezialgebiet in Indien ohnehin häufig mit Zwergen zu tun, da diese zumeist unter chronischen orthopädischen Beschwerden leiden – schmerzenden Knie- und Fußgelenken, von Kreuzschmerzen ganz zu schweigen. Die Symptome verstärken sich mit zunehmendem Alter und Gewicht; je älter und schwerer ein Zwerg wird, desto mehr strahlt der Schmerz ins Gesäß, in die Rückseite der Oberschenkel und in die Waden aus.

In der Kinderklinik in Toronto bekam Dr. Daruwalla sehr wenige Zwerge zu sehen; in der Klinik für Verkrüppelte Kinder in Bombay jedoch – wo er von Zeit zu Zeit, bei seinen sich [19] wiederholenden Besuchen, unentgeltlich als chirurgischer Konsiliar arbeitete – hatte er viele zwergwüchsige Patienten. Doch obwohl sie ihm ihre Familiengeschichten erzählten, wollten sie ihm nicht ohne weiteres ihr Blut geben. Und ihnen gegen ihren Willen Blut abzunehmen hätte Farrokhs Berufsethos widersprochen. Bei der Mehrheit der orthopädischen Beschwerden, die bei chondrodystrophen Zwergen auftreten, erübrigen sich Blutuntersuchungen. Folglich war es nur recht und billig, daß der Doktor den wissenschaftlichen Aspekt seines Forschungsprojekts erklärte und diese Zwerge um ihr Blut bat. Fast immer verweigerten sie es ihm.

Ein typischer Fall war Dr. Daruwallas bester zwergwüchsiger Bekannter in Bombay. Farrokh und Vinod kannten sich schon sehr lange, denn der Zwerg stellte die engste Verbindung des Doktors zum Zirkus dar – Vinod war der erste Zwerg, den Dr. Daruwalla um Blut gebeten hatte. Sie waren sich im Untersuchungszimmer des Arztes in der Klinik für Verkrüppelte Kinder begegnet. Ihre Unterredung fiel mit dem religiösen Feiertag Diwali zusammen, anläßlich dessen der Great Blue Nile Circus ein Gastspiel auf dem Cross Maidan in Bombay gab. Ein zwergwüchsiger Clown (Vinod) und seine normal gewachsene Frau (Deepa) hatten ihren zwergwüchsigen Sohn (Shivaji) in die Klinik gebracht, um dessen Ohren untersuchen zu lassen. Vinod wäre nie auf die Idee gekommen, daß man sich in der Klinik für Verkrüppelte Kinder ausgerechnet mit Ohren beschäftigt – Ohren sind nicht unbedingt ein Fall für die Orthopädie –, war aber zu Recht davon ausgegangen, daß alle Zwerge Krüppel sind.

Trotzdem gelang es dem Doktor nicht, Vinod davon zu überzeugen, daß sowohl sein Zwergwuchs als auch der seines Sohnes genetische Ursachen hatte. Daß Vinod von normalen Eltern abstammte und trotzdem ein Zwerg war, hatte – nach Vinods Ansicht – nichts mit einer Mutation zu tun. Er glaubte fest an die Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte: Am Morgen, [20] nachdem sie schwanger geworden war, hatte sie aus dem Fenster geschaut und als erstes Lebewesen einen Zwerg gesehen. Die Tatsache, daß Vinods Frau Deepa eine normal gewachsene Frau war – Vinod zufolge »schon fast schön« –, konnte nicht verhindern, daß Vinods Sohn Shivaji ein Zwerg war. Das war jedoch – nach Vinods Ansicht – nicht auf ein dominantes Gen zurückzuführen, sondern auf die unglückliche Tatsache, daß Deepa seine Warnung vergessen hatte. Am Morgen nach Deepas Empfängnis war das erste Lebewesen, das sie ansah, Vinod, und das war (nach Vinods Ansicht) der Grund, warum Shivaji ebenfalls ein Zwerg war. Vinod hatte Deepa eingeschärft, ihn am Morgen ja nicht anzusehen, aber sie hatte es vergessen.

Daß Deepa »schon fast schön« (oder zumindest eine normal gewachsene Frau) war und trotzdem einen Zwerg geheiratet hatte, kam daher, daß sie keine Mitgift mitbrachte. Ihre Mutter hatte sie an den Great Blue Nile Circus verkauft. Und da Deepa am Trapez noch eine blutige Anfängerin war, verdiente sie fast nichts. »Nur ein Zwerg hätte sie geheiratet«, meinte Vinod.

Zu ihrem Sohn Shivaji ist anzumerken, daß bei chondrodystrophen Zwergen periodisch auftretende und chronische Mittelohrentzündungen bis zum Alter von acht oder zehn Jahren an der Tagesordnung sind. Werden sie nicht behandelt, führen sie häufig zu erheblichem Gehörverlust. Vinod selbst war halb taub. Aber es gelang Farrokh einfach nicht, Vinod anhand dieses oder auch anderer Symptome klarzumachen, daß die bei ihm und Shivaji vorliegende Form von Minderwuchs genetische Ursachen hatte. Dies belegten zum Beispiel seine sogenannten Dreizackhände – die typisch gespreizten Stummelfinger. Dr. Daruwalla wies Vinod auf seine kurzen, breiten Füße und seine leicht angewinkelten Ellbogen hin, die sich nicht durchstrecken ließen. Er versuchte ihn zu dem Eingeständnis zu bewegen, daß seine Fingerspitzen, genau wie bei seinem Sohn, nur bis zu den Hüften reichten, daß sein Unterbauch [21] vorstand und die Wirbelsäule – selbst wenn er auf dem Rücken lag – die typische Vorwärtswölbung aufwies. Diese lumbale Lordose sowie das gekippte Becken sind der Grund, warum alle Zwerge watscheln.

»Zwerge watscheln eben von Natur aus«, entgegnete Vinod, der starr an seinem Credo festhielt und absolut nicht dazu zu bewegen war, sich auch nur von einem einzigen Röhrchen Blut zu trennen. Er saß auf dem Untersuchungstisch und schüttelte über Dr. Daruwallas Zwergwuchstheorie den Kopf.

Vinod hatte, wie alle chondrodystrophen Zwerge, einen unverhältnismäßig großen Kopf. Sein Gesicht wirkte auf Anhieb nicht unbedingt intelligent, es sei denn, man setzt eine vorgewölbte hohe Stirn von vornherein mit großer Geisteskraft gleich; die mittlere Gesichtspartie wich, ebenfalls typisch für diese Form von Minderwuchs, zurück. Vinods Backen waren abgeflacht, und er hatte eine Sattelnase mit aufgestülpter Spitze; der Unterkiefer stand so weit vor, daß einem Vinods Kinn recht markant vorkam, und obwohl sein vorgereckter Kopf ihn eher dümmlich erscheinen ließ, verriet sein ganzes Auftreten eine sehr zielstrebige Persönlichkeit. Seine aggressive Erscheinung wurde noch durch ein anderes, für chondrodystrophe Zwerge typisches Merkmal betont: Da die Röhrenknochen verkürzt sind, schiebt sich die Muskelmasse zusammen, so daß der Eindruck geballter Kraft entsteht. In Vinods Fall hatten lebenslanges Purzelbaumschlagen und andere akrobatische Kunststücke zu einer besonders ausgeprägten Schultermuskulatur geführt; Unterarme und Bizeps traten ebenfalls deutlich hervor. Vinod war ein altgedienter Zirkusclown, sah aber aus wie ein Schläger im Kleinformat. Farrokh hatte ein bißchen Angst vor ihm.

»Was genau wollen Sie eigentlich mit meinem Blut machen?« fragte der zwergwüchsige Clown den Arzt.

»Ich suche nach diesem geheimnisvollen Ding, das aus dir einen Zwerg gemacht hat«, antwortete Dr. Daruwalla.

[22] »Ein Zwerg zu sein ist doch nichts Geheimnisvolles!« konterte Vinod.

»Ich suche nach etwas in deinem Blut, das, falls ich es entdecke, anderen...