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Pink Hotel

Anna Stothard

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601886 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[5] 1

Die Luft in ihrem Schlafzimmer roch abgestanden nach Zigaretten und Parfüm. Zwei Aschenbecher quollen über mit Filtern voller Lippenstiftspuren, als wäre sie nur mal eben weggegangen, ein neues Päckchen holen. An einer Kommode hing ein Strapsgürtel, eine Nerzstola lag zusammengerollt wie ein überfahrenes Tier neben dem Bett auf dem Boden. Ein Spiegel an der Wand gegenüber warf mein Bild zurück, angezogen auf den zerknitterten Laken liegend, irgendwie fehl am Platz. Mein Haarschnitt und mein Körper hätten der eines Jungen sein können, doch mit meinen großen Augen glich ich eher einer mittelalterlichen Madonna auf einer Kunstpostkarte. Ich trug dunkelblaue Jogginghosen und ein verschwitztes T-Shirt. Meine Haut roch noch immer schwach nach Kaffee und dem Dunst der Fritteuse aus Dads Café in London, mittlerweile überlagert von verbrauchter Flugzeugluft und dem Smog von Los Angeles.

Lily blickte mich von überall her aus gerahmten Fotos an. Auf einem stand sie in Lederjacke neben einem Motorrad, auf einem anderen hockte sie in weißem T-Shirt und Bikini im Schneidersitz unter einem Baum in der Sonne und lachte in die Kamera. Auf einem [6] dritten war sie nackt bis auf den knallroten Lippenstift und einen breitkrempigen Sonnenhut; ihre Haut war albinoweiß, genau wie meine, mit vier runden dunklen Flecken: große Augen und dunkelbraune Brustwarzen. Allerdings hatte sie auf dem Foto schwarze Haare, während meine von Natur aus blond sind.

Ich stand von ihrem Bett auf und schnappte mir vom Schminktisch neben der Tür eine Whiskeyflasche. Gläser waren keine da, also nahm ich einen Schluck aus der Flasche und tappte barfuß am Bett entlang Richtung Bad. Neben der Toilette lag ein Spitzenhöschen, und ich achtete darauf, dass es meine bloßen Füße nicht streifte, als ich mich zum Pinkeln hinhockte. Ihr Schlafzimmer befand sich ganz oben in einem pinkfarbenen Hotel in Venice Beach, Los Angeles. Die Beerdigung war am Vormittag gewesen, aber ich hatte es nicht mehr rechtzeitig ins Krematorium geschafft. Zu der Zeit, als ich in Venice Beach eintraf, war Lilys Totenwache bereits in eine Art Orgie ausgeartet, mit über zweihundert Leuten, die im ganzen Hotel verteilt tanzten und redeten und koksten und tranken. Niemand wusste, wer ich war, also wanderte ich herum, mein abgegriffenes Basecap tief im Gesicht, wie ein Kind auf einer Cocktailparty. Ich sah lange Fingernägel und feuchtglänzende Lippen, geweitete Pupillen und knochige Schultern; ab und zu blitzten unwirklich weiße Zähne auf. Aus einer eisgefüllten Badewanne nahm ich mir ein Bier, lief damit ziellos durch alle fünf Etagen und beobachtete die Leute: Ein unrasierter Riese nahm gerade einen tiefen Schluck aus einer Wodkaflasche, während eine abgemagerte, nicht mehr ganz junge Frau [7] mit geschlossenen Augen mitten im Raum tanzte. Etwas abseits stand ein rothaariger Mann mit spitzen Schlangenlederschuhen, das weiße Hemd halb aufgeknöpft. Um ihn herum hatten sich ein paar Leute geschart, und seine sommersprossigen Hände ballten sich zu Fäusten, während er mit ihnen sprach.

»Ich glaub’s einfach nicht«, sagte eine Frau zu dem Rothaarigen.

»Und ich denke dauernd, sie ist einfach nur spät dran«, antwortete er und presste die Finger erneut zu einer gesprenkelten Faust zusammen.

»Ach, Schätzchen.« Wieder die Frau. »Sie war immer zu spät, stimmt’s? Selbst ihre eigene Beerdigung hätte sie verpasst.«

»Zu unserer Hochzeit kam sie jedenfalls zu spät«, sagte der Mann. »Angeblich hatte sie keine passende Unterwäsche gefunden.« Er rang sich ein gequältes Lächeln ab, und einige der Umstehenden schmunzelten traurig. Der Rothaarige näselte wie Bugs Bunny, wohl ein New Yorker Akzent.

»Ihr wart so’n tolles Team«, sagte jemand zu ihm.

Ich blieb noch einen Moment stehen und sah zu dem verschwitzten Rothaarigen hinüber. Als er sich von mir abwandte, konnte ich dem Gespräch nicht länger folgen, und so setzte ich meinen Weg durch den bunten Trubel Trauernder fort, stieg Etage um Etage höher, bis ich schließlich ganz oben vor einer Tür mit dem Schild »Privat« stand. Durch das Schlüsselloch konnte ich ein Fahrrad und ein Paar Inlineskates erkennen. Ich hatte erwartet, dass abgeschlossen sei, aber die Tür klemmte [8] nur ein wenig und öffnete sich mit einem langgezogenen Quietschen auf die kahlen Holzdielen eines engen Flurs, in dem es ungelüftet und nach Raumspray roch. Trotzdem atmete ich auf, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und die Geräusche von unten dämpfte. Über mir hing eine staubige nackte Glühbirne von der Decke, in den Dielenritzen hatte sich Sand gesammelt. Die Wände waren in der Farbe von gekochtem Lachs gestrichen, viel blasser als die leuchtend pinkfarbene Fassade des Strandhotels. Durch einen Türrahmen links von mir sah ich in die Küche, leer bis auf einen blauen Resopaltisch und zwei gepolsterte Holzstühle. Der Tisch war mit schmutzigen Gläsern und heruntergebrannten Duftkerzen übersät, in der Spüle stapelte sich dreckiges Geschirr. Ich ging an weiteren offenen Türen auf beiden Seiten des Flurs vorbei – ein Wohnzimmer mit Flachbildfernseher, ein WC, ein kleines Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch, auf dem sich Papiere türmten. Die einzige geschlossene Tür war die ganz am Ende.

Wenn man Sehnsucht nach etwas haben kann, das man nie gekannt hat, dann war es diese Sehnsucht und ein wenig Neugier, warum ich mich erst auf ihr Bett legte und mir dann nebenan in der Wanne ein Bad einlaufen ließ. Ein Schmutzrand, gesprenkelt mit millimeterlangen Haarstoppeln, zeugte vom letzten Mal, als sie oder ihr Mann darin gebadet hatten. Von unten hörte man immer noch Partylärm, und ich schloss die Badezimmertür ab, um mich auszuziehen, wie sie es bestimmt unzählige Male getan hatte, wenn auch vermutlich weitaus eleganter. Kein Taumeln, weil sich ihre Knöchel im Gummibund [9] der Jogginghose verfingen, und wahrscheinlich auch keine Kratzer und Schnitte, die brannten, wenn sie sich ins heiße Wasser sinken ließ. Nirgendwo wäre Grind aufgequollen und hätte sich schließlich abgelöst wie bei mir. Bestimmt war ihre Haut makellos. Ich schlürfte aus meinen hohlen Händen Badewasser und ließ es langsam über die Unterlippe rinnen. In der Wanne zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen und die Nase knapp über den Schaumbläschen, roch ich nichts als das Badewasser. Eine Motte sah vom Fenstersims über der Wanne zu und ließ sich die Flügel bedampfen. Vor dem Fenster strahlend blauer Himmel und Palmen. Ich bespritzte meine Mottenzuschauerin mit Wasser, und sie flatterte zur Lampe über dem Spiegel.

Ich überlegte, was Dad wohl gerade tat, und stellte mir vor, wie er nägelkauend an unserem schmierigen Küchentisch saß, während seine Frau Daphne in der Küche auf und ab lief. Auch wenn Daphne sich bestimmt größte Mühe gab, wegen der gestohlenen Kreditkarte nicht laut zu werden, würde sich ihre Stimme immer wieder schrill überschlagen, nur um dann an der eigenen Wut zu ersticken. Mit knochigen Fingern würde sie sich unablässig durch das glanzlose Haar fahren, während ihre Gummisohlen auf den Plastikfliesen quietschten. Dad würde stumm seinen Gedanken nachhängen und vorgeben, Daphne zuzuhören, wie sie dieselben wütenden Vorwürfe nur unwesentlich abgewandelt wiederholte, bis sie heiser war. Nur dass sich diese Szene schon vor Stunden abgespielt haben musste. In Lilys Schlafzimmer war es Mitternacht, also musste es zu Hause bereits früh [10] am nächsten Tag sein. Nachdem sie sich die ganze Nacht angeschrien hatten, würden sie sich jetzt in allmorgendlicher Übellaunigkeit anziehen, Instantkaffee aufgießen und das Café öffnen. Daphne mit fest zusammengekniffenem Mund, weil sie samstags nicht gern arbeitete, während Dad Geschirr und Besteck auf Tischplatten knallte. Dad war ein völlig anderer Typ als der Rothaarige unten. Während der etwas Schlangenhaftes an sich hatte, wie seine Schuhe, bewegte Dad sich nur, wenn es unbedingt sein musste. Das Gesicht des Rothaarigen war hager und voller Lachfältchen. Dad hatte rundliche rosa Wangen und tiefe Sorgenfalten.

Ich blinzelte, um Dads Bild aus meinem Kopf zu verscheuchen, und tauchte langsam noch ein wenig tiefer in das Badewasser ein. Gerade wollte ich mir eine von Lilys Zigaretten anzünden – sie lagen in einer mit Schmucksteinen besetzten Kiste mit Einwegrasierern und Badezusätzen neben der Wanne –, als im Flur vor dem Schlafzimmer eine Diele knarrte. Die Luft im Bad war ganz von Dampfschwaden vernebelt, und es gelang mir gerade noch, mich aus dem Wasser hochzustemmen und ein Fenster über dem Klo zu öffnen, ehe das Knarren in Lilys Schlafzimmer ankam. Der Dampf verzog sich. Fast wäre ich auf den weißen Fliesen ausgerutscht, zerrte die Jogginghose über die nassen Beine, hielt den Atem an und ging vor dem Schlüsselloch langsam in die Hocke. Ich kniff ein Auge zu und spähte hindurch.

Ein unwahrscheinlich großer Mann saß auf dem Fußende von Lilys Bett, genau vor dem Schlüsselloch, den Kopf in die Hände gestützt. Es war der Mann, den ich [11] unten schon mal gesehen hatte, als er in einer Ecke der Lobby Wodka aus der Flasche trank, wie einem Märchen über Riesen oder Monster entsprungen. Er war etwa Mitte dreißig und trug ein gestreiftes Hemd, einen ausgebeulten schwarzen Pullover und eine blaue maßgeschneiderte Hose mit Löchern, die wie Satzzeichen auf seinen Oberschenkeln aussahen. Auf seinem Kopf, das dunkle Haar kaum länger als die Bartstoppeln, saß eine alberne Sonnenbrille mit Goldrand. Seine Hose mochte einmal teuer gewesen sein, doch inzwischen war der Saum ausgefranst, als trüge...