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Räuberleben

Lukas Hartmann

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601480 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Sulz am Neckar, den 26. August 1794

Mein lieber Freund,

der Brand, von dem ich Ihnen berichten will, liegt nun schon fast sechs Wochen zurück. Dieser schreckliche Brand! Wer könnte ihn je vergessen! Er begann am 15. Juli, morgens um elf Uhr, und in wenigen Stunden legte er die ganze innere Stadt in Schutt und Asche. Das Feuer brach – durch Unachtsamkeit wohl, durch Funkenflug – im Haus des Schlossers Büchele nahe der Stadtmühle aus, es fraß sich, vom aufkommenden Sturmwind begünstigt, in rasender Eile durch die nächstgelegenen Häuser bis zum Mühlkanal, wo ich seit vielen Jahren meine Wohnung hatte. Die Hitze war so gewaltig, dass sie jede wirksame Hilfe vereitelte; sie ließ weder Löscharbeiten noch das vorsorgliche Niederreißen von Häusern zu. Am frühen Nachmittag drehte sich unseligerweise der Wind und trieb das Feuer zum Marktplatz hin und darüber hinaus. Fast alle Häuser innerhalb der Stadtmauern standen nun in Flammen.

[8] Ich saß wie gewöhnlich in der Oberamtei hinter meinem Schreibpult, als das Feuerhorn gellte, und rannte, gefolgt von meinem Gehilfen, gleich hinaus, um zu sehen, wo es brannte. Gerötet war der Himmel, zu meinem Entsetzen, in der Richtung meines Hauses. Über die Dächer hinweg kroch beißender Rauch, der sich hier und dort aufplusterte wie ein riesenhaftes schwarzes Federvieh. Die Leute liefen durch die Gassen, schrien einander zu, was man tun müsste. Kinder weinten und hielten sich an den Röcken der Mütter fest, beinahe am schlimmsten war das Gebrüll der Tiere. Es hatten sich aber auch schon Kolonnen gebildet, in denen mit Neckarwasser gefüllte Ledereimer von Hand zu Hand weitergereicht wurden. Die beiden Feuerspritzen seien am Brandort, hieß es.

Ach, alle Anstrengungen waren vergeblich. Ich hatte mich durchs Gewimmel noch zu unserem Haus vorgekämpft. Fassungslos war mir draußen Caroline, meine Ehefrau, entgegengetaumelt und hatte mich, da schon Flammen aus dem Dachstock schlugen, zurückzuhalten versucht. Ich aber rannte in den ersten Stock hinauf, suchte ein paar Dokumente und Schriften zusammen, dazu einiges an Barem, einen Arm voll Kleider, und damit rettete ich mich, am Ende meiner Kräfte, ins Freie. Hinter mir gelassen hatte ich sämtliche Kästen mit meinen [9] Insekten, und mir schien schon unten an der Treppe, ich hörte von oben den Knall platzenden Glases und das Knistern verbrennender Wespen und Schmetterlinge. Das wird Sie, lieber Freund, gewiss auch betrüben, verdanke ich doch Ihnen so viele gute Ratschläge, die meine Leidenschaft in methodische Bahnen gelenkt haben. Aber ich fand gar keine Zeit, diesen Verlust zu betrauern, das große Feuer zog alle Aufmerksamkeit und alle Ängste auf sich.

Eine Weile schauten wir gebannt zu, wie in unserer Häuserzeile die Flammen wüteten. Ein Nachbar, der mir einen gefüllten Ledereimer weitergab, weckte mich aus meinem Stupor. Ich reihte mich, während Caroline unsere spärliche Habe bewachte, in eine der Löschkolonnen ein, doch unsere Mühe nützte nichts, wir hätten ebenso gut ins Feuer spucken können. Dann begannen Wangen und Ohren zu glühen, das Atmen im dichter werdenden Rauch fiel immer schwerer, und als die ersten Balken vor uns niederkrachten und die Funkengarben aufstoben, mussten wir über die kleine Brücke am Mühlkanal zurückweichen. Schritt um Schritt ging es weiter zum Marktplatz und zum Tor am Neckar, wo das Wasser geschöpft wurde. Wir kamen am Haus des Oberamtmanns Schäffer vorbei, das dem großen Brand ebenfalls nicht entging. Schäffer hatte ich in diesen Flammenstunden einige Male in der Menge [10] erkannt. Er hatte Ordnung ins Chaos zu bringen versucht, man gehorchte ihm und dann wieder nicht. Die oberste Autorität war an diesem Tag und in der darauffolgenden Nacht das Feuer, und Schäffer, berühmt in halb Europa, musste einsehen, dass es leichter war, Räuber einzufangen und an den Galgen zu bringen, als Flammen zu bändigen.

Aus den Nachbardörfern rückte Hilfe an. Mit vereinten Kräften gelang es immerhin, einige Gebäude vor der völligen Zerstörung zu bewahren, dazu gehörten die Kirche und das Dekanat, ebenso das Untere Tor und der Pfleghof. Die Nacht verbrachten wir auf den Neckarwiesen am jenseitigen Ufer. Die Bewohner der verschont gebliebenen Vorstadt brachten uns Decken und einiges zum Essen. In den Nachthimmel hinein züngelten noch stundenlang Flammen; sie schienen zu erlöschen, fanden neue Nahrung und wurden wieder zur mächtigen Lohe, die sich auf unseren Gesichtern spiegelte. Weit herum war der Glutschein über der Stadt zu sehen. Es blieb auf unserem Lagerplatz warm wie am Tag. Hin und wieder trieb der Wind Rauchfahnen herbei und Aschefetzen, die das rot beschienene Gras sprenkelten. Dazu die halblauten Gespräche ringsum, Weinen, Jammern, Husten. Hätte man unter solchen Umständen auch nur eine Minute schlafen können? Ich lag neben meiner Frau, die [11] Unverständliches vor sich hin murmelte, Gebete vielleicht; es stellte sich heraus, dass sie allen Ernstes glaubte, der große Brand sei eine Strafe Gottes für die Sünden der Sulzer Bürger, und mir wurde erneut bewusst, wie schlecht ich Caroline kenne, obwohl ich mit ihr, meiner ehemaligen Zimmerwirtin, nun schon sieben Jahre verheiratet bin. Unversehens fiel mir ein, dass ein paar Monate vor unserer Hochzeit hier in Sulz der Räuber Hannikel mit drei Spießgesellen hingerichtet wurde. Ich hatte – wie Sie sich vielleicht erinnern – am Schicksal von Hannikels kleinem Sohn einigen Anteil genommen. Nach mehreren missglückten Versuchen ist es ihm gelungen, aus dem Ludwigsburger Zucht- und Waisenhaus zu fliehen; seither blieb er meines Wissens verschollen. Ich bin nicht abergläubisch, aber der Gedanke, dass es zwischen Hinrichtung und Brand einen Zusammenhang geben könnte, ließ mich nicht los, und ich dachte an das Gerücht, Hannikel habe die Stadt und ihre Bewohner vor seinem Tod in der Zigeunersprache verflucht. Ein böswilliges und dummes Gerücht, gewiss, doch wer nachts auf sein abgebranntes Zuhause blickt, wird in solchen Dingen unsicher.

Irgendwann in der Morgendämmerung ließ mich Oberamtmann Schäffer suchen. Der Amtsdiener [12] Roth, der ohnehin den Kopf stets wie ein witternder Hund vorstreckt, spürte mich unter den Schlafenden und Wachenden am Flussufer auf, und ich musste ihm zum provisorischen Amtssitz folgen, zu dem Schäffer das leere Erdgeschoss in einem der unversehrten Vorstadthäuser erklärt hatte. Das Feuer sei am Abflauen, sagte Roth auf dem Weg, ein wenig freundlicher als sonst; zu den Brandstätten vordringen könne man noch nicht, man würde sich dabei verbrennen oder ersticken.

Die Silhouette der inneren Stadt bestand zur Hauptsache aus rauchenden Ruinen, ein Bild wie aus der Apokalypse. Der Oberamtmann, mit aschebestreuter Perücke und schmutzigem Rock, sah übernächtigt aus, war aber voller ungestümer Energie, wie immer, wenn er unter Druck gerät. Ich musste sogleich Hilfsgesuche an alle möglichen Stellen verfassen, an Seine herzogliche Durchlaucht, an die Rentkammer. Die umliegenden Gemeinden forderte Schäffer auf, so rasch wie möglich Sammlungen für den Wiederaufbau von Sulz zu veranstalten; und all diese Briefe, die ich in größter Eile auf schlechtes Papier schrieb, wurden mit Eilboten verschickt. Zwischendurch erteilte Schäffer Befehle für Lösch- und Räumungsarbeiten und ließ ein erstes Register der abgebrannten Gebäude erstellen. Schon gegen Mittag zeigte sich, dass mindestens 194 [13] Häuser zerstört, das Brucktor und Teile der Stadtmauer eingestürzt waren. Erstaunlicherweise – und gewiss, weil der Brand tagsüber ausgebrochen war – hatten wir keine Toten zu beklagen. Doch der materielle Schaden war unermesslich, das Jammern allerorts griff dem fühllosesten Menschen ans Herz. Für die nunmehr Obdachlosen wurden Notunterkünfte gesucht, und im Lauf des Tages entstanden bereits Bretterhütten auf ungenutztem Gelände. Bei den Vorstadtbewohnern wurden Familien mit kleinen Kindern einquartiert, die am meisten Schutz benötigten. Caroline und ich, die wir ja, wie die meisten, fast den gesamten Hausrat verloren hatten, bezogen ein Zimmer beim Glaser Silberrad, direkt neben dem provisorischen Amtssitz, in dem Schäffer auch seine Familie untergebracht hatte. So war ich, wie schon so oft, rund um die Uhr für ihn verfügbar.

In der nächsten Nacht kühlten die Trümmer so weit ab, dass man sich in die Häuser hineinwagen konnte. Als Erste taten das skrupellose Diebe. Sie brachen in Keller ein, stahlen Vorräte, betranken sich am Wein; sie suchten wohl auch Geld und Schmuck. In der Dunkelheit kam es zu Scharmützeln mit der Stadtwache, sogar Schüsse sollen gefallen sein. Verhaftungen gab es keine, trotz der großen Empörung unter den Ausgebrannten. So wissen wir bis zum heutigen Tag nicht, wer sich an den Plünderungen [14] beteiligte. Muss es uns nicht bestürzen, dass das Räuberische im Menschen unter solchen Umständen so rasch zum Vorschein kommt?

Es geht nun gegen Ende August. Der Brandschutt ist unterdessen fast vollständig beseitigt, Mauern werden überall aufgezogen, Dachbalken gelegt. Hunderte von Handwerkern aus der weiteren Umgebung sind an der Arbeit; ein vielfältiger, beinahe musikalischer Lärm erfüllt tagsüber die Stadt. Alle Sulzer, die es können, leisten Handlangerdienste, auch ich schleppe nach der täglichen Schreibmühe abends noch Steine und Ziegel, bis es Nacht ist. Wir werden, selbst wenn vieles noch fehlen wird, vor dem Winter ins neu aufgebaute Haus am Mühlkanal zurückkehren können und sind dankbar dafür, dass die Zuschüsse von überall her uns vor der nackten Armut...