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Reiches Erbe - Commissario Brunettis zwanzigster Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601534 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Da Anna Maria Giusti seit vielen Jahren literarische Texte aus dem Englischen und Deutschen ins Italienische übersetzte, kannte sie sich mittlerweile auf allen möglichen Gebieten aus. Gerade hatte sie ein amerikanisches Selbsthilfebuch fertig, in dem es um die Bewältigung von Gefühlskonflikten ging. Über manche einfältige Formulierung – die auf Italienisch noch einfältiger klang – hatte sie nur kichern können, einiges aber ging ihr nach, während sie die Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg.

»Man kann derselben Person gegenüber zwei ganz widersprüchliche Empfindungen hegen.« Genau das traf auf ihre Gefühle für den Mann, den sie liebte, zu, dessen Familie sie gerade in Palermo besucht hatte. »Auch Menschen, die wir gut zu kennen glauben, sind in einer anderen Umgebung bisweilen nicht wiederzuerkennen.« »Anders« war kein Wort für das, was sie in Palermo erlebt hatte. »Andersartig«, »exotisch«, »befremdend«: nicht einmal diese Wörter fingen es ein, aber wie es dann in Worte fassen? Hatten sie nicht alle ein telefonino? Waren sie nicht alle tadellos gekleidet und hatten gute Manieren? An der Sprache lag es auch nicht, denn sie alle sprachen ein Italienisch, das eleganter war als alles, was sie von ihren venezianischen Angehörigen und Freunden her gewohnt war. Und an Geld fehlte es schon gar nicht, der Reichtum von Nicos Familie war auf Schritt und Tritt zu spüren.

Sie hatte in Palermo seine Familie kennenlernen wollen, [8] war aber nicht etwa bei ihnen zu Hause aufgenommen worden, man hatte sie vielmehr im Hotel einquartiert, einem Hotel mit mehr Sternen, als sie sich als Übersetzerin hätte leisten können; doch die Rechnung hatte man ihr ohnedies nicht ausgehändigt, obwohl sie mehrmals darum bat.

»Nein, Dottoressa«, hatte ihr der Hoteldirektor lächelnd erklärt, »das hat L’Avvocato schon erledigt.« Nicos Vater. »L’Avvocato«. Bei der Begrüßung hatte sie ihn mit »Dottore« angesprochen, doch diese höfliche Anrede hatte er wie eine Fliege verscheucht. »Avvocato« hatte sie einfach nicht über die Lippen gebracht und daher fortan alle in der Familie mit dem förmlichen »Lei« angesprochen.

Zwar hatte Nico sie gewarnt, es werde nicht einfach sein, aber so schlimm hatte sie es sich dann doch nicht ausgemalt. Er begegnete seinen Eltern mit Ehrerbietung: Bei jedem anderen Mann als dem, den sie zu lieben glaubte, hätte sie ein solches Verhalten als kriecherisch bezeichnet. Wenn seine Mutter ins Zimmer kam, küsste er ihr die Hand, und wenn sein Vater nahte, erhob er sich.

An einem Abend weigerte sie sich schließlich, mit der Familie zu speisen. Nach einem hastigen Essen im Restaurant brachte er sie ins Hotel, gab ihr im Foyer einen Kuss und wartete, bis sie im Aufzug verschwunden war, um seinerseits lammfromm im Palazzo seiner Familie zu übernachten. Als sie am nächsten Tag fragte, was das sollte, antwortete er, so seien hier nun einmal die Sitten. Noch am selben Nachmittag, als er sie ins Hotel zurückbrachte und ankündigte, er werde sie um acht wieder zum Essen abholen, sagte sie ihm vorm Hotel lächelnd auf Wiedersehen, ging hinein und erklärte dem jungen Mann an der Rezeption, sie [9] wolle auschecken. Dann ging sie in ihr Zimmer, packte, rief ein Taxi und hinterließ Nico am Empfang eine Nachricht. Für den Abendflug nach Venedig gab es nur noch einen Platz in der Businessklasse, aber den nahm sie gern, als kleinen Ausgleich für die Hotelrechnung, die sie nicht selbst hatte bezahlen dürfen.

Ihr Koffer war schwer und polterte laut, als sie ihn auf dem ersten Treppenabsatz abstellte. Giorgio Bruscotti, der ältere Sohn ihrer Nachbarn, hatte seine Sportschuhe vor der Tür stehen lassen, aber heute Abend freute sie sich geradezu darüber: Bewies es doch, dass sie wieder zu Hause war. Sie hob den Koffer und schleppte ihn in den zweiten Stock, wo sie wie erwartet ordentlich verschnürte Packen von Famiglia cristiana und Il Giornale liegen sah. Signor Volpe, der im hohen Alter zum leidenschaftlichen Umweltschützer geworden war, stellte das gesammelte Altpapier immer schon am Sonntagabend vor die Tür, obwohl es erst dienstagmorgens abgeholt wurde. Sie war so froh über den wieder eingekehrten Alltag, dass sie nicht einmal wie sonst üblich murmelte, diese beiden Presseerzeugnisse gehörten ohnehin in den Müll.

Der dritte Absatz war leer, ebenso der Tisch links von der Tür. Anna Maria war enttäuscht, denn entweder hieß das, im Lauf der Woche war keinerlei Post für sie gekommen – was sie kaum glauben konnte –, oder Signora Altavilla hatte vergessen, ihr die Post hinzulegen.

Sie sah auf die Uhr: kurz vor zehn. Sie wusste, die ältere Dame blieb lange auf: Sie hatten einander einmal anvertraut, das Beste am Alleinleben sei die Freiheit, so lange im Bett lesen zu können, wie man wolle. Sie trat von Signora [10] Altavillas Wohnungstür einen Schritt zurück, um zu sehen, ob noch Licht durch die Ritze drang, aber dafür war es im Treppenhaus zu hell. Dann horchte sie an der Tür, hoffte, von drinnen Geräusche zu vernehmen, vielleicht den Fernseher, was bedeuten würde, dass Signora Altavilla noch wach war.

Nichts. Frustriert hob sie ihren Koffer ein wenig an und stellte ihn geräuschvoll auf die Fliesen. Sie lauschte wieder, hörte aber keinen Laut. Also ging sie weiter, die nächste Treppe hinauf, wobei sie den Koffer an die Stufen schlagen ließ und einen solchen Lärm veranstaltete, dass sie, hätte das ein anderer getan, über dessen Gedankenlosigkeit geschimpft oder gar den Kopf zur Tür hinausgestreckt hätte, um zu sehen, was los war.

Oben angekommen, stellte sie den Koffer ab, suchte ihren Schlüssel, schloss ihre eigene Wohnung auf und empfand aufatmend Frieden und Geborgenheit. Dies war ihr Reich, in ihren eigenen vier Wänden konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Hier musste sie sich an keine fremden Regeln halten, niemandem die Hand küssen, und dieser Gedanke zerstreute die letzten Zweifel, jetzt war sie sicher, dass es richtig gewesen war, aus Palermo abzureisen und mit Nico Schluss zu machen.

Sie machte Licht und warf automatisch einen prüfenden Blick auf das Sofa, wo die mit militärischer Präzision angeordneten Kissen ihr bestätigten, dass die Putzfrau in ihrer Abwesenheit da gewesen war. Sie trug den Koffer hinein, schloss die Tür und genoss die Stille. Zu Hause.

Anna Maria ging durchs Wohnzimmer und öffnete das Fenster und die Fensterläden. Auf der anderen Seite des campo, direkt gegenüber, stand San Giacomo dell’Orio: Wäre [11] die gerundete Apsis ein Schiffsbug, würde das Kirchenschiff mit vollen Segeln auf sie zukommen und sie jeden Moment rammen.

Sie öffnete nach und nach alle Fenster der Wohnung, stieß die Läden auf und hakte sie fest. Dann trug sie den Koffer ins Gästezimmer, schwang ihn aufs Bett und machte noch einmal die Runde, um die Fenster wegen der Kühle des Oktoberabends wieder zu schließen.

Auf dem Tisch im Esszimmer fand Anna Maria einen Zettel mit einer von Lubas kurios formulierten Mitteilungen – »Gekommen für Sie« – und daneben den unverwechselbaren gelbbraunen Benachrichtigungsschein, der von der versuchten Zustellung eines Einschreibens kündete. Sie sah sich den Schein genau an: ausgestellt vor vier Tagen. Wer mochte ihr ein Einschreiben schicken? Der Absender war nicht zu entziffern. Als Erstes kam ihr die vage Befürchtung, irgendeine Behörde habe eine Unregelmäßigkeit entdeckt und teile ihr nun mit, es gebe Ermittlungsbedarf, weil sie irgendetwas getan oder unterlassen habe.

Üblicherweise kam nach zwei Tagen eine weitere solche Benachrichtigung. Ihr Fehlen bedeutete, dass Signora Altavilla, die seit längerem die Post für sie entgegennahm, den Empfang des Briefs bestätigt und ihn jetzt unten in ihrer Wohnung hatte. Ihre Neugier erwachte. Sie ließ die Benachrichtigung auf dem Tisch liegen und ging in ihr Arbeitszimmer. Signora Altavillas Nummer kannte sie auswendig. Besser, sie mit einem Anruf zu stören, als sich bis zum Morgen Gedanken über diesen Brief zu machen, der sich, dachte sie, bestimmt als harmlos herausstellen würde.

Das Telefon läutete viermal, ohne dass jemand abnahm. [12] Mit dem Hörer in der Hand öffnete sie das Fenster, lehnte sich hinaus und hörte es unten klingeln. Wo mochte die Signora um diese Zeit sein? Im Kino? Manchmal ging sie mit Freundinnen aus, manchmal hütete sie auswärts ihre Enkel, ein andermal übernachteten die älteren von ihnen bei ihr.

Anna Maria legte den Hörer auf und ging ins Wohnzimmer zurück. Obwohl sie altersmäßig fast zwei Generationen auseinanderlagen, waren sie und die Frau unter ihr im Lauf der Jahre gute Nachbarn geworden. Vielleicht nicht gerade gute Freundinnen: Noch nie hatten sie zusammen gegessen, aber gelegentlich trafen sie sich auf der Straße und gingen einen Kaffee trinken, und unzählige Male hatten sie auf der Treppe einen Schwatz gehalten. Manchmal musste Anna Maria auf Konferenzen als Simultandolmetscherin arbeiten und war dann tagelang oder gar wochenlang außer Haus. Da Signora Altavilla wiederum jedes Jahr im Juli mit ihrem Sohn und seiner Familie in die Berge fuhr, hatte Anna Maria die Schlüssel für unten, damit sie die Blumen gießen konnte und, wie Signora Altavilla bei der Übergabe gesagt hatte, »überhaupt für alle Fälle«. Sie hatten auch vereinbart, dass Anna Maria, wenn sie von einer Reise zurückkam und Signora Altavilla nicht zu Hause war, die Wohnung betreten durfte, um ihre Post zu holen.

Sie nahm die Schlüssel aus der zweiten Schublade in der Küche, klemmte ihre Handtasche in die Wohnungstür,...