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Zeilenkrieg

Annalena McAfee

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601923 , 480 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[7] 1

London, 17. Januar 1997

 

Sie hatte noch zwei Stunden, um allzu Privates zu beseitigen. Alles, was nach Eitelkeit, Dummheit und Schlimmerem aussah, musste verschwinden. Chaos war nicht das Problem; ihre Haushilfe hatte erst heute Morgen aufgeräumt, und wenn Honor Tait auch zur Unordnung neigte, so hatte sie sich doch nie an Dinge gehängt, und auch nicht an Menschen. Dank einer Scheidung, einem Tod, einem Hausbrand, einem völlig unsentimentalen Naturell und ihrem ständigen Unterwegssein hielt sich der übliche Krempel für eine Frau ihres Alters in Grenzen. Sie hatte sich stets auf das Nötigste beschränkt, in der Liebe wie im Leben. Mehr als Handgepäck war nicht drin. Was aber hatte sich in dieser Wohnung in London angesammelt? Welcher Plunder hatte überlebt und könnte sie womöglich verraten?

Schwer atmend und in ungewohnter Panik betrachtete sie prüfend Möbel, Bilder und Bücherregale. Das meiste stammte natürlich von Tad. Dies hier war seine Junggesellenwohnung gewesen und später, nach der Hochzeit, ihre gemeinsame Stadtwohnung. Jetzt war es ihre Witwenklause. Er hatte gewissermaßen die Inneneinrichtung übernommen: die Gemälde und gerahmten Fotografien gekauft, die [8] Vorhänge ausgesucht, seiner Vorliebe für StaffordshireFiguren und Sèvres-Porzellan gefrönt und an den beiden fleckigen Lehnsesseln gehangen, die er in einem Antiquitätengeschäft in Edinburgh aufgetan hatte. Wie ein mittelalterlicher Mönch seine Handschriften hatte er darin wuchtige Stoffmusterbücher studiert. Trotz einer trauten Ehe war ihr Zuhause das siebenhundert Meilen nördlich von London gelegene Glenbuidhe geblieben mit seinem wohltuenden Mangel an Komfort und Maida Vale das seine. So wie Honor damals nichts an dem Apartment verändern wollte, so hatte sie auch, nachdem Tad nicht mehr da war, kein Bedürfnis verspürt, es umzuräumen – die Bühne abzubauen, wie er gesagt hätte. Nun aber würde man sie für die Sammelwut und den zweifelhaften Geschmack ihres verstorbenen Mannes zur Rechenschaft ziehen.

Gegenstände, die derart vertraut waren, dass Honor sie gar nicht mehr wahrnahm, willkürlich angehäufte Bücher und Bilder, unerbetene Geschenke und allerlei Kinkerlitzchen, wertloser Kitsch, von der Haushilfe sorgfältig abgestaubt und arrangiert – all das konnte nun gegen sie verwendet werden. Dabei war ohnedies schon viel zu viel über Honor gesagt und geschrieben worden; ein Inquisitor nach dem anderen hatte Gerüchte, Fehlinformationen, Andeutungen und falsche Darstellungen aufgegriffen, blankpoliert und als Tatsachen hingestellt.

Noch heute ärgerte sie der Vogue-Artikel, zu dem Bobby sie überredet hatte. Er war mehr als ein Jahr alt, doch jedes Mal, wenn sie eine Ausgabe sah, was im Wartezimmer eines Arztes so gut wie unvermeidlich war, fühlte sie sich erneut von den abstrusen Behauptungen (und dem Foto!) [9] erniedrigt. Jemanden in einem Absatz von knapp dreihundert Wörtern derart abzukanzeln, in den Dreck zu ziehen und in ein falsches Licht zu rücken – das war schon eine Leistung. Honor hatte im Radio gesprochen, in Woman’s Hour (was für ein Getue für acht Minuten Sendezeit), und hatte sich bei Melvyn in Start The Week Gehör zu verschaffen versucht – neben einem tranigen Wissenschaftler, einem Geistlichen, der sich offenbar immer noch auf der Kanzel wähnte, und einem Schriftsteller mit exzentrischen Ansichten über Tierschutz.

Unlängst war dann noch die South Bank Show dazugekommen (wieder Melvyn: Gab es denn keine anderen vernünftigen Moderatoren mehr?). Als sie von Anfang an klarstellte, dass ihr Privatleben tabu war, hatte man ihr versichert, die Sendung werde sich ausschließlich auf ihre Arbeit konzentrieren, und sie war dumm genug gewesen, sich einzubilden, es ginge tatsächlich darum, ihren »Platz als Journalistin am Puls der Zeit« zu würdigen. Und was war dabei herausgekommen? Eine Halbtote beschwor in düsterem Licht Weltereignisse herauf, die niemandem noch irgendetwas bedeuteten, wie die zittrige Miss Havisham, die sitzengelassen immer noch von ihrer Hochzeit träumte.

Sie hatten das Interview mit Archivmaterial und Aufnahmen aus Schottland, Paris, Spanien, Deutschland und Los Angeles aufgepeppt, dazu jede Menge Künstler, Poeten, Politiker, Wichtigtuer aus Hollywood, sowie drei aufeinanderfolgende Ehemänner eingeblendet – eine parodistische Verkürzung ihres Lebens auf sechs flackernde Filmminuten. Die Programmmacher hatten sich an ihre Zusage gehalten und sich alle Fragen nach Familie, Ehemännern oder [10] Liebhabern verkniffen, doch die indiskrete Bildergalerie war unerbittlich.

Die Recherche-Leute hatten ein Werbefoto von Maxime ausgegraben, auf dem er seine Zigarettenspitze schwenkte wie einen Taktstock, überragt von seinem eigenen Schatten, extravagant wie Noel Coward, doch ohne dessen Witz, Wärme oder maskuline Ausstrahlung. Sandor Varga tauchte gleich zweimal auf: elegant und düster als Honors Bräutigam in Basel, und dann, zehn Jahre später, feist und selbstgefällig in Begleitung des billigen Flittchens, für das er sie verlassen hatte. Ihrem dritten und letzten Mann Tad hatte die Dokumentation seltsamerweise weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der überschätzten Elizabeth Taylor – der Kommentator hatte sich zu der albernen Titulierung »Hollywood-Queen« verstiegen –, mit der Tad und Honor zufällig auf irgendeiner Galaveranstaltung fotografiert worden waren. Tads Arbeit wurde mit ein paar Ausschnitten aus seinen Filmen vorgestellt, was sich als zweischneidiges Schwert entpuppte: Aus dem Zusammenhang gerissen wirkte seine Komik kindisch und gekünstelt und die ständigen Anspielungen auf Sex eher verklemmt als locker. Er hatte ihr leidgetan, der arme Kerl, obwohl er nun in St. Marylebone in Frieden ruhte.

Ihrem eigenen Lebenswerk zollte man Respekt mit Filmmaterial aus dem Krieg – verwackelte Bilder von der Front, aus Madrid, Polen, der Normandie, Buchenwald, Berlin und Incheon. Schattenhafte Gestalten huschten durch eine algerische Kasba in den Fünfzigern – noch mehr Archivmaterial –, ja es gab sogar ein rührseliges Foto von ihr, Ende der sechziger Jahre in einem Weimarer Waisenhaus, wo sie einen verschreckten Säugling in den Armen hielt.

[11] 1956 stellten sich ungarische Studenten sowjetischen Panzern entgegen, und dreizehn Jahre später (drei Sekunden im absurden Schnelldurchlauf) folgten tschechoslowakische Kommilitonen ihrem Beispiel, während jenseits zweier Grenzen, in Paris, die privilegierten Söhne der Bourgeoisie – meistens waren es Söhne –, zukünftige Gesetzgeber, Akademiker, Politiker und Experten, Revolution spielten, Schaufenster eintraten und Pflastersteine oder Brandbomben gegen einfache Gendarme schleuderten.

Auf einem Foto aus den Fünfzigern in einem koreanischen Schützengraben sah Honor, zerzaust und schlammverschmiert, weniger wie eine Kriegsberichterstatterin bei der Arbeit aus als wie eine Debütantin, die man noch mit der Schönheitsmaske überrascht hatte. Die meisten Ausschnitte aber zeigten eine junge Frau mit glänzendem, gepflegtem, bis auf die Schultern reichendem Haar, die strahlte wie das olympische Feuer, damit nur ja jeder sie schön fand, begehrte, ihre Intelligenz bewunderte oder sie um ihren Erfolg beneidete. Die Gegenüberstellung dieser springlebendigen Göttin mit der zittrigen alten Frau in dem Fernsehinterview war ein grausames Vanitas-Symbol, ein Ozymandias der Moderne: »Seht meine Werke, Mächt’ge, und erbebt.« Die Freunde und Liebhaber, die für wenige Sekunden über den Bildschirm flimmerten, mochten inzwischen nur noch Geister sein, in ihren Gräbern verwesen oder längst als Asche dem Wind übergeben worden sein, das schrecklichste Gespenst von allen aber war Honor Tait, die Überlebende, die fassungslos ihrem eigenen Verfall zusah.

Was für eine demütigende Sache der Ruhm doch heutzutage war! Scheinbar hatten jede Menge Menschen zu [12] nachtschlafender Zeit nichts Besseres zu tun, als mit offenem Mund Kulturprogramme im Fernsehen zu verfolgen. Überall war sie erkannt worden – von Taxifahrern, Oberkellnern, Ladenbesitzern, wildfremden Menschen bei einer Vernissage, Passanten auf der Straße. Ein Straßenarbeiter mit orangefarbener Schutzjacke, der unweit von der Praxis ihres Arztes in der Wimpole Street Gerüststangen schulterte, zog den Helm vor ihr und rief: »Schreiben Sie weiter!«

Und dann war T. P. Kettering aufgetaucht, der katzbuckelnde Akademiker, der sich ihr als »offizieller Biograph« angedient hatte und dann, nachdem sie dankend abgelehnt hatte, verdeckt ermittelte. Sein Buch, das unter einem geradezu absurd aufgeplusterten Titel – Veni Vidi: Honor Tait, Zeugin unserer Zeit – in einem obskuren Universitätsverlag erschienen war, entpuppte sich als ein farbloser Zitatenverschnitt. Juristen hatten ihm die Spitze genommen, doch den endgültigen Todesstoß hatte ihm Honors unausgesprochene Drohung versetzt, dass sie zu jedem den Kontakt abbrechen würde, der mit dem fraglichen Buch oder seinem Verfasser auch nur das Geringste zu tun hatte. Martha Gellhorn hatte zu Honors Ärger Kettering ein unverbindliches Zitat für das Cover geliefert. Das Buch hatte sehr schlechte Kritiken bekommen. (»Eine spannende Biographie über die außergewöhnliche Honor Tait bleibt ein Desiderat«, erklärte Bobby im Telegraph, »doch dieses fade Fabrikat ist weit davon entfernt.«) Das Buch war glücklicherweise untergegangen, Kettering ebenfalls. Honors Schadenfreude darüber, dass er dem Alkohol verfallen war und als Ghostwriter die Autobiographie eines Fußballstars verfasste,...