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Ganz normale Helden

Anthony McCarten

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601879 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

[45] Level zwei
Der größte Maskenball aller Zeiten

Zwei Wochen sind vergangen, seit die Delpes Jeff zuletzt gesehen haben, zwei Wochen seit seinem jähen Verschwinden. Seit dem Tag hat er kein einziges Mal angerufen, keine Mail oder SMS geschickt, und seine Eltern kommen vor Angst fast um, ihrem übriggebliebenen Sohn könnte etwas Entsetzliches zugestoßen sein.

James Delpe sitzt in seinem Büro in der Anwaltskanzlei, die er selbst mitbegründet hat, und grübelt. Jetzt springt er auf und geht mit für hochgewachsene Männer typischen weitausgreifenden Schritten zum Büro von Nathan Gladwell, dem Computerexperten. Er braucht Anworten auf seine Fragen.

Das Großraumbüro ist in Zellen unterteilt – eine Schreibkraft, ein Praktikant, eine der zahllosen Sekretärinnen –, und alle sind sie miteinander vernetzt, bilden ein gemeinsames Ganzes, jeder über seine Tastatur gebeugt, das Gesicht vom Bildschirm erhellt, alle tippen manisch, klack, klack, klack, klack, allem Anschein nach hart arbeitend, obwohl sie in Wahrheit vermutlich nur aneinander E-Mails schreiben. Zu diesem schockierenden Ergebnis ist zumindest vor kurzem eine firmeninterne Untersuchung gekommen. Die Finger tippen kein Hochachtungsvoll oder Sehr geehrte Damen und Herren, sondern eher He, Mann oder CUL8tr [46] und zum Abschluss das internationale Symbol für Heiterkeit, :)

Kein Wunder, dass Jim erste Anzeichen von Verachtung für die digitale Technik zeigt.

Einige fragen Jim, wie es ihm geht. »Bestens«, sagt er. Zwei erkundigen sich nach Renata. Er zwingt sich zu einem Lächeln. »Der geht’s prima.«

Er geht vorbei an den Schreibtischen und Arbeitsnischen seiner vielen Angestellten und denkt zurück an die Zeit, als die Firma noch nur aus ihm und Danby bestand; ein Fotokopierer, alte Pizzaschachteln auf dem Fußboden, eine Packung Tipp-Ex, einfach nur zwei Männer, die von einem schäbigen Büro im Geschäftsviertel von Watford aus operierten und versuchten, aus dem Nichts etwas aufzubauen. Heute nimmt die Firma zwei Stockwerke ein und bearbeitet alles, von Arbeits- über Ehe- und Patentrecht bis hin zu Seerecht, und bei allem Erfolg halten er und Danby und Roland die Honorare weiterhin niedrig, getreu ihrem alten liberalen Credo: Anständige Leute leisten anständige Arbeit für anständige Leute. Eine Anwaltskanzlei sollte so etwas wie Liebe im Krieg anbieten, einen Kuss auf dem Schlachtfeld, während ringsum die Bomben fallen. Ähnlich wie Ärzte sollten sie heilen, kurieren und dabei die hehrsten Ideale hochhalten. Dieser Idealismus ist der Nährboden, auf dem Danby, Delpe, Roland & Partner wächst und gedeiht.

Endlich findet er Nathan. An seinem Schreibtisch in einem kleinen Nebenraum. Mager, 26, blond, stupsnasig, kurze Designer-Dreadlocks – als säße er in einem Zelt in Glastonbury, eine Oud auf den Knien. Und zu ihm pilgern [47] nun die intelligentesten Köpfe der Kanzlei, denn er ist der Einzige, der den neuen Rosettastein entziffern kann, den obskuren Computercode, der für Jim und seinesgleichen ebenso unverständlich ist wie Hieroglyphen für die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts.

Wie Jim feststellt, tut auch dieser Knabe nur so, als ob er arbeitet. Er schleudert sein Technoporno-Magazin in eine Ecke, setzt sich aufrecht hin und weckt mit einem Tastendruck – klack – seinen Rechner sowie sich selbst aus dem Ruhemodus.

»Hier stecken Sie also«, sagt Jim. »Sind Sie bereit?«

»Auf los geht’s los«, antwortet der junge Mann mit dem Grinsen, das bei ihm Standardeinstellung ist. Ein eigenartiges Zucken. Irgendetwas stimmt nicht mit seinem Mund. Er sieht aus wie jemand, der keine ordentliche Mutter hat, keine richtigen Freunde, ein Einzelgänger halt. »Also, was liegt an, Mr. Delpe, was ist das für ein Problem mit Ihrem Sohn?«

»Ein Problem würde ich es nicht nennen. Ich möchte einfach gern herausfinden, was so faszinierend an diesen Spielen ist, die ihr Jungs alle spielt.«

Nathan hämmert schon auf die Tastatur, und Jim setzt sich, wie geheißen, vor einen zweiten Computer daneben, der mit dem von Nathan vernetzt ist, so dass auf beiden Bildschirmen gleichzeitig der Wikipedia-Artikel zu Life of Lore auftaucht. »Bevor wir loslegen, sollten wir uns erst mal ein bisschen schlaumachen. Hier steht… ziemlich neu… aber schnell wachsend… oh, hier heißt es, sogar das amerikanische Militär trainiert Soldaten damit.«

»Das amerikanische Militär? Soll das ein Witz sein?«

[48] »…sechs Millionen Spieler… superrealistische Kampfsimulationen… Quests… tolle grafische Gestaltung… und die Art, wie sich die Szenarios verzweigen… das ist der Heilige Gral dieser Spiele, komplexe Pfade. Jede Entscheidung schickt einen auf eine ganz eigene Reise. Es gibt keine zwei Spieler, die genau den gleichen Weg gehen.«

»Sechs Millionen Spieler?«, fragt Jim. »Und keine Reise exakt wie die andere? Wie ist das möglich?«

»Die Grundidee ist, dass es sich exponentiell verzweigt, genau wie das Leben selbst. Man trifft eine einmalige Entscheidung – und das verändert die ganze Geschichte.« Während er spricht, fliegen Nathans Finger über die Tasten. Als Jim jung war, konnten nur ein paar Frauen so gut tippen. Jim sitzt vor seinem Monitor. Er drückt mit einem einzelnen Finger auf die Leertaste, wie ein neugieriger Schimpanse. Dieses hohle Geräusch. Klack. Man hört, dass die Tasten innen hohl sind, Plastikwürfel, die an Drähten hängen, dünner als menschliche Adern. »Sechs Millionen Spieler«, sagt er, »das sind eine Menge Szenarios.«

»Na ja, gemessen an der Anzahl Spieler ist es noch ein Baby, kein Vergleich mit den wirklich Großen. World of Warcraft, Starcraft, Runescape und anderen MMORPGs. Aber es ist ja noch neu.«

»MMORPGs?«

»Massive Multiplayer Online Role Playing Games. Life of Lore ist ein hochentwickeltes Spiel. Es gilt«, klack, klack, klack, »als eine Art Durchbruch, ein Spiel nicht nur für Kids, sondern für Erwachsene, für Leute, die Bücher lesen, Filme mögen, Sportwettkämpfe.«

»Für Erwachsene?«

[49] »Die Programmierer sind inzwischen auch nicht mehr so jung, sie haben selbst Kinder, und die besten Spiele nähern sich heute immer mehr der Welt der Erwachsenen an.«

Jim nickt Nathan zu, dem IT-Crack, der schon da angekommen ist, wohin alle anderen sich gerade erst auf den Weg machen.

In dem Gerichtssaal in seinem Kopf, wo Jim oft mit sich selbst Verhandlungen führt und dabei Anklage und Verteidigung zugleich vertritt, stellt er eine Frage:

Mr. Delpe, können Sie dem Gericht erklären, warum Sie sich so vor den neuen Medien fürchten?

Ich weiß nicht, ob man wirklich von Fürchten reden kann. Aber in einer Untersuchung, die ich gelesen habe – Kinder und Jugendliche zwischen acht und achtzehn Jahren verbringen ungefähr elf Stunden am Tag mit elektronischen Medien, und die Eltern, die diese neue vernetzte Welt nicht begreifen, stehen hilflos daneben – ist es der größte Generationenkonflikt, den die Welt je gesehen hat. Es ist nicht einfach nur ein Graben, der sich da zwischen den Generationen auftut, es ist eine Schlucht! Und die Schlucht zwischen mir und meinem Sohn ist so breit, dass ich schon ein Fernglas und klares Wetter brauche, wenn ich ihn überhaupt noch sehen will…

»Mr. Delpe?«

Ich habe ein ☹☺-Verhältnis zum Internet.

»Mr. Delpe?«

»Hmmmm?«

Nathan wiederholt seine Frage. »Haben Sie schon mal Computerspiele gespielt?«

»Computerspiele? Ja.«

[50] »Was für welche?«

»Ähm… Tetris. Tetris habe ich ein paarmal gespielt.«

»Tetris?«, prustet Nathan.

»Ja. Das ist, na ja, da sind so kleine Steinchen, die fallen von oben herunter, und man muss –«

»Ich weiß, was Tetris ist, Mr. Delpe.«

»Im Flugzeug. Ich war unterwegs von –«

»Halt, warten Sie, ich krieg keine Luft mehr. Na, Sie werden merken, dass sich seit Tetris allerlei getan hat.«

Während Nathan klickt und klackert, erscheint auf Jims Schirm ein neues Bild, neue Seiten legen sich über die alten wie Spielkarten beim Solitär. Schließlich öffnet sich eine Seite mit dem Titel: Life of Lore – das Bild zeigt eine verschlossene Tür. Ein Untertitel wird eingeblendet: Bist du bereit für deine Rolle? Seichte Rockmusik im Stil von Pink Floyd, ein bisschen wie Dark Side of the Moon, und dazu hört man schnarrende Stimmen aus Walkie-Talkies, wie beim Militär. Jeff erinnert es an den Vorspann zu einem Film.

»Okay«, sagt Nathan. »Das ist also Life of Lore. Hier« …klack, klack, klack… »geht es um mehr als Töten und Getötetwerden; hier muss man moralische Entscheidungen fällen und anschließend mit den Folgen dieser Entscheidungen leben.« Jim hört zu, während Nathan das Spiel erklärt und dabei unablässig auf die Tasten hämmert: eine künstliche Welt, inspiriert von großen Epen, klassischen und zeitgenössischen, eine Reise durch die Geschichte des Geschichtenerzählens, bei der die Spieler die Hauptrolle haben: Perseus, Siegfried, Beowulf, Lancelot, Gilgamesch, Doc Holliday, Väinämöinen, Frodo, Parzival, Sun Wukong, Scarface, Catwoman.

[51] »Die meisten Spiele sind im Fantasy-Bereich...