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Zahltag - Ein Fall für Kostas Charitos

Petros Markaris

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601862 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[13] 2

Merkwürdigerweise fließt der Verkehr in ganz normalem Tempo dahin, während der Mairegen sacht vor sich hin nieselt. Vielleicht liegt es daran, dass wir die Lücke zwischen dem allmorgendlichen und dem allmittäglichen Verkehrsstau erwischt haben. Vielleicht aber auch daran, dass den Leuten kein Geld mehr fürs Benzin bleibt, da uns die Troika ein so striktes Sparprogramm auferlegt hat, dass wir sogar noch unsere Scheiße trocknen müssen, um sie weiterzuverwerten. Zwar könnte ich mit Koula ein Gespräch anfangen, um die Fahrzeit zu verkürzen, doch wenn man unter Schock steht, kriegt man den Mund einfach nicht auf, weder für einen Bissen Essen noch für eine Plauderei.

Auf der Pireos-Straße werden die Wagenkolonnen immer dichter, und ab der Zentrale der Sozialversicherungsanstalt bewegen wir uns im Schritttempo vorwärts. Obwohl der Verkehr in der Menandrou-Straße völlig zum Erliegen kommt, ertönt weder Gehupe noch Gefluche. Geduldig warten die Fahrer, bis sie wieder drei Meter bis zum nächsten Stop weiterfahren können.

»Wieso ist heute so wenig los?«, frage ich Koula.

»Die Leute ziehen den Kopf ein und ergeben sich in ihr Schicksal, Herr Kommissar. Sie sagen sich: Nichts geht mehr. Warum soll der Straßenverkehr da eine Ausnahme bilden?« Ihr Gedankengang erweist sich als irrig, sobald wir den [14] Omonia-Platz erreichen. Die Stadiou- und die Panepistimiou-Straße sind zwischen Eolou- und Patission-Straße unpassierbar. Aus der Ferne dringt der Widerhall skandierter Parolen an unsere Ohren.

»Was gibt’s, Kollege?«, fragt Koula eins der uniformierten Opfer, die hinter dem roten Absperrungsband ihren Dienst versehen.

»Protestmarsch der Arbeiter- und Beamtengewerkschaft«, entgegnet der Uniformierte knapp.

»Ist der Alexandras-Boulevard befahrbar?«

»Ja, aber meiden Sie die Marnis-Straße. Da weiß man nicht, was zwischen Polytechnikum und Gewerkschaftshaus auf einen zukommt. Besser, Sie nehmen die Evelpidon-Straße.«

»Nun, wie man sieht, ziehen nicht alle den Kopf ein«, sage ich zu Koula.

»Manche schon«, entgegnet sie tonlos. »Und manche andere schlagen Dritten die Köpfe ein. Die Frage ist, was passiert, wenn wir alle gleichzeitig mit dem Kopf durch die Wand wollen.«

Ich folge dem Rat des Polizeibeamten und wähle das Gysi-Viertel, um auf den Alexandras-Boulevard zu gelangen. Fünf Minuten später haben wir die Dienststelle erreicht. Koula geht schon in das Büro meiner Assistenten, während ich mir noch einen Kaffee in der Cafeteria besorge.

»Müßiggang ist aller Laster Anfang.« So würde Adriani unsere Lage kommentieren. Denn seit einem Monat ist der Selbstmord der Rentnerinnen der erste Fall, den wir zu bearbeiten haben. Die anderen Dezernate kommen mit der [15] Arbeit nicht nach. Sie sind vierundzwanzig Stunden im Einsatz, da alles an ihnen hängenbleibt, von den Randalen bei Demonstrationen über den Bandenkrieg unter den Zuwanderern in Ajios Panteleimonas bis zu den Aufläufen vor den Privathäusern der Parlamentarier, wo ganze Horden bereitstehen, um die Politiker auszupfeifen und zu beschimpfen. Morde sind momentan nicht an der Tagesordnung, da andere Dinge Vorrang haben.

Auch zu Hause herrscht Stimmungsflaute. Katerina hat ihr Praktikum beendet und einige Fälle übernommen, bei denen es um das beschleunigte Asylverfahren geht. Sie ist nicht gerade aus dem Häuschen vor Freude, da solche Angelegenheiten nur schleppend vorangehen und ihre Tätigkeit weniger mit dem Prozedere eines Gerichtsverfahrens zu tun hat als mehr mit der Arbeit der Schreiberlinge, die früher vor dem Athener Rathaus ihre Tischchen aufstellten und den kleinen Leuten ihre Anträge ausfüllten. Die übrige Familie, allen voran Fanis, verabreicht ihr die bekannten Aufmunterungspillen à la »Das ist nur am Anfang so« oder »Es wird schon werden«, doch Katerina scheint nicht wirklich überzeugt.

Da so wenig los ist, habe ich beschlossen, mir Adrianis Losung zu eigen zu machen, die in solchen Fällen immer sagt: Bevor du dich langweilst, veranstalte ein Großreinemachen. Das tue ich jetzt auch. Ich habe meinen Assistenten verkündet, das sei jetzt die Gelegenheit, auf unserer Dienststelle Ordnung zu schaffen. Als ich hinzufügte, dass wir dabei alten Ballast loswerden und alle abgeschlossenen Fälle ins Zentralarchiv weiterreichen könnten, hielt sich ihre Begeisterung in Grenzen. Meine übrigens auch, da ich mir dabei [16] nicht wie ein Kriminalhauptkommissar vorkomme, sondern wie ein Oberbuchhalter.

Heute ist der dritte Tag unseres Großreinemachens. Als ich das Büro meiner Assistenten betrete, schleppen sie gerade stöhnend und mit hochgekrempelten Ärmeln Aktenordner durch die Gegend. Nur Koula ist guter Dinge, da ich ihr angeordnet habe, das digitale Archiv zu durchforsten. Daraufhin hat sie sich kopfüber in die Arbeit gestürzt. Sobald man sie vor einen Bildschirm und eine Tastatur setzt, ist sie der glücklichste Mensch der Welt. Ihrem zufriedenen Lächeln nach zu schließen, hat sie die Selbstmorde bereits ad acta gelegt. Die Tasten ihres Computers scheinen eine ungeheuer beruhigende Wirkung auf sie zu haben.

»Ach, nur einen einzigen kleinen Mord, Herr Kommissar!«, ruft mir Dermitsakis verzweifelt entgegen.

»Es gibt doch so viele soziale Brennpunkte in Athen«, fügt Vlassopoulos ergänzend hinzu, »so viele Migranten, die sich jeden Abend mit den Rechtsextremisten Straßenschlachten liefern, so viele aufgebrachte Bürger, die auf Politiker losgehen, dazu noch die Plakataktion, in der bekannte Journalisten als Verräter aufs Korn genommen werden. Aber weit und breit kein Mord, der uns von diesem Frondienst erlöst! So ein Pech!«

Dermitsakis knöpft sich Koula vor, die – mit Blick auf ihren Bildschirm – in sich hineinlächelt. »Ja, du hast gut lachen, weil du mit deiner Bildschirmarbeit aus dem Schneider bist. Lass dich bloß nicht dabei erwischen, wie du Patiencen legst, sonst verpfeif ich dich.« Und zu mir gewendet sagt er: »Ich hab sie schon öfter mal beim Kartenspielen überrascht.«

[17] »Das ist eben ein guter Ausgleich. Dabei kann ich viel besser nachdenken«, rechtfertigt sich Koula.

»Kopf hoch, Leute. Bald haben wir’s geschafft«, sage ich, um ihnen Mut zuzusprechen, da auch mir die ganze Aktion als Frondienst erscheint.

»Können Sie sich an den alten Wahlkampfslogan erinnern, Herr Kommissar, in dem uns ›noch bessere Zeiten‹ versprochen wurden? Heutzutage ist es genau andersrum: Egal, was man tut, man tut es, um gewappnet zu sein, denn die Zeiten können nur noch schlimmer werden«, bemerkt Vlassopoulos. Und damit sinkt auf dem Weg zurück zu meinem Büro meine Stimmung auf einen weiteren Tiefpunkt.

Kaum habe ich einen Schluck von meinem Mokka getrunken, läutet das Telefon. »Termin beim Chef«, vermeldet Stella, Koulas Nachfolgerin in Gikas’ Vorzimmer, kurz angebunden. Was das Aussehen betrifft, so kann sie Koula das Wasser reichen, aber in Sachen Charme wirkt sie wie ein ungehobelter Klotz.

»Er ist drin«, blafft sie, ohne den Kopf zu heben, als ich an ihr vorübergehe. Womit sich meine Einschätzung bestätigt…

Gikas sitzt vor seinem Schreibtisch und starrt auf seinen Computerbildschirm. Seit er einen Dienst-PC besitzt, verbringt er den ganzen Tag vor der Mattscheibe. Anfangs unternahm er ein paar Anläufe und griff selbst in die Tasten. Als er jedoch auf keinen grünen Zweig kam, ließ er sich von Koula alles anfängertauglich einrichten und ein hübsches Landschaftsfoto als Bildschirmschoner installieren. Seitdem ist Gikas ein passionierter Naturfreund. Nicht, dass ich weniger unbedarft wäre, aber ich habe wenigstens keinen [18] Antrag auf einen Dienst-PC gestellt, um mich bei Zimmertemperatur in Naturbetrachtungen zu versenken.

»Was war denn mit diesen vier Rentnerinnen los?«, fragt er.

»Ohne Zweifel ein kollektiver Selbstmord«, antwortete ich und liefere ihm eine ausführliche Darstellung.

Nach einer kleinen Pause folgt sein Kommentar: »Verstehen Sie mich nicht falsch, aber: Hoffentlich bleibt’s bei den alten Leuten.«

»Wie meinen Sie das?«

»So, wie sich die Dinge entwickeln, werden es bald die Jungen sein, die Hand an sich legen«, erklärt er trocken.

Im Grunde bestätigt er damit Vlassopoulos’ Vorhersage, dass die Zeiten nur noch schlimmer werden können. Da ich keine weiteren melancholischen Anwandlungen ertragen kann, erhebe ich mich zum Gehen, doch er hält mich zurück: »Bleiben Sie, es gibt da noch etwas.«

Verwundert nehme ich wieder Platz und frage mich, was er mir angesichts der öden Situation auf der Dienststelle eröffnen will. Ich vermute, dass er mir irgendeine Aufgabe übertragen möchte, doch was nun folgt, ist so unerwartet, dass es mich völlig aus dem Konzept bringt.

»Die neue Beförderungsrunde steht an«, sagt er. »Ich denke daran, Sie für den Posten des Kriminalrats vorzuschlagen.« Er hält inne und fährt dann fort: »Ich glaube, das könnte klappen.«

Als sich meine erste Überraschung gelegt hat, ringe ich nach Worten. Was sagt man in solchen Fällen? »Danke, dass Sie an mich gedacht haben« etwa? Oder besser: »Ihr Vorschlag ehrt mich«? Beides erscheint mir leer und schal, daher [19] lasse ich mein verlegenes Schweigen für mich sprechen. Das ist zumindest ehrlich.

»Normalerweise dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen«, fährt er fort. »Aber aus zwei Gründen tue ich es trotzdem. Erstens, weil Sie es aufgrund Ihrer Fähigkeiten verdienen. Sie sind ein erfahrener Kriminalist und in schwierigen Situationen...