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Die Konstruktion von Inklusion - Europäische Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive

Stefan Bernhard

 

Verlag Campus Verlag, 2010

ISBN 9783593408408 , 429 Seiten

Format PDF, OL

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6. Die Ausweitung des Feldes 6.1 Einleitung Die zweite Phase der Feldentwicklung weist Kontinuität und Wandel auf. Einerseits wird institutionell und semantisch auf dem aufgebaut, was als Überbleibsel aus der ersten Feldphase zurückbleibt. Auch ist der Ehrgeiz, Europa mit einer eigenen Sozialpolitik auszustatten, bei der Europäischen Kommission ungebrochen. Andererseits kommt es im feldinternen wie im feldexternen sozialen Raum zu erheblichen Strukturumbrüchen. Im feldexternen Raum sind die 1980er und beginnenden 1990er Jahre von der Durchsetzung des Binnenmarktes in der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Weg zum Maastricht-Vertrag geprägt. In diesem Umfeld vertieft sich der paradigmatische Bruch um die Entkoppelung von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung weiter und die Konturen einer symbolischen Konfliktlinie zwischen den Antagonismen ?Solidarität? und ?Binnenmarkt? zeichnen sich ab. Für die Stärkung des Gegenpols zur deutsch-neoliberalen Position steht insbesondere Jacques Delors, Kommissionspräsident in den Jahren von 1985 bis 1995. Er entwickelt die Vision eines ausbalancierten Integrationsprozesses, dessen soziale Dimension auf Solidarität beruht und die Orientierung an Markt und Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig domestiziert. Die daraus entstehenden Initiativen zu einer Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und zum Sozialen Dialog geben Impulse für den gesamten Integrationsprozess mit günstigen Folgen für die Entwicklung des untersuchten Politikbereichs. Innerhalb des Feldes finden zwei parallele Wandlungsprozesse statt, die das Feld institutionell und semantisch auf neue Füße stellen. Institutionell setzt eine Suchbewegung ein, die nach und nach in die Ausbildung einer spezifischen europäischen Beratungskompetenz nationaler Regierungen mündet. Die europäische Ebene verzichtet damit weiterhin auf einen legislativen Gestaltungsanspruch zugunsten einer Thematisierungs-Kompetenz-Kompetenz in sozialen Fragen. In semantischer Hinsicht wechselt die Leitsemantik von ?Armut? über die ?neue Armut? zum Begriff der sozialen Ausgrenzung. Mehr als ?Armut? kann sich ?soziale Ausgrenzung? für vielgestaltige Prozesse der Marginalisierung (auch jenseits materieller Ungleichheit) öffnen und dabei sowohl die Ausgegrenzten evozieren, als auch die Gesellschaft, die ausgrenzt. Mit der neuen Semantik lassen sich völlig unterschiedliche soziale Probleme im heterogener werdenden, erweiterten Europa ein und demselben Phänomen zurechnen. Die Semantik der Ausgrenzung erlaubt die Konstruktion einer Gemeinsamkeit angesichts der gesellschaftlichen Vielfalt in Europa. Die mannigfaltigen gesellschaftlichen Probleme können mit der Bezeichnung ?soziale Ausgrenzung? gleichzeitig angesprochen werden, so dass sich alle Gesellschaften demselben Problem gegenüber sehen und eine gemeinsame europäische Aktivität zur Bekämpfung der Ausgrenzung mit neuem Nachdruck einforderbar wird. Mit dem semantischen Übergang von ?Armut? zu ?sozialer Ausgrenzung? sichert sich das Feld eine zentrale Stellung innerhalb des symbolischen Kampfes auf der Seite der ?Solidarität?, das heißt, als wichtiger Bezugspunkt von Delors' Vision von einer sozialen Dimension des Integrationsprozesses. Diese beiden Entwicklungslinien - die feldexterne Ausbildung der symbolischen Konfliktlinie und die feldinternen Ausweitungsprozesse - werden in diesem Kapitel nachgezeichnet. Der erste Teil geht auf die wesentliche Innovationen in der symbolischen Dimension ein: die Entstehung einer symbolischen Konfliktlinie, die den externen Kontext des Armutsfeldes restrukturiert (Abschnitt 6.2). Der zweite Teil identifiziert zunächst die Ausbildung einer europäischen Beratungskompetenz sowie neuer Referenzpunkte als zentrale institutionelle Effekte des zweiten und dritten Armutsprogramms (Abschnitt 6.3.1). Er geht dann auf den Wandel der Leitsemantik ein und fragt insbesondere danach, welche Implikationen die Redefinition des Enjeus als ?soziale Ausgrenzung? hat (Abschnitt 6.3.2). Im darauf folgenden Abschnitt wird die Neustrukturierung des europäischen Feldes durch die Entstehung von informationellem Kapital aus der Synthese der institutionellen und der semantischen Entwicklungen hervorgehoben (Abschnitt 6.3.3). Den Abschluss des Kapitels bilden Überlegungen zur Rolle der Ausgrenzungspolitik im Integrationsprozess vor dem Hintergrund der externen Entwicklung zum symbolischen Schisma und der internen Entwicklung der Ausweitung des Feldes (Abschnitt 6.4). 6.2 Die symbolische Konfliktlinie ?Binnenmarkt? vs. ?Solidarität? Wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, folgen Felder einer Emergenzlogik: Sie sind nicht ex ante gesetzt, sondern entwickeln sich unter bestimmten historischen Bedingungen, das heißt, sie profitieren von bestimmten Initiativen, Machtverhältnissen und Interessenkonstellationen in der Umgebung des Feldes. Dieser Grundsatz gilt für alle Phasen der Feldentwicklung. Dass Feldanalyse jeweils ein Feld in den Mittelpunkt rückt, setzt nur den Fokus der Untersuchung fest und bedeutet nicht, dass das Umfeld des Feldes uninteressant wäre. Die Festlegung auf ein Feld als Untersuchungsobjekt setzt den Filter für die Betrachtung der Feldumwelt, indem sie relevante und irrelevante Kontexte unterscheidet. Mit der Beschreibung der Geschichte des Armuts- und Exklusionsfeldes muss auch immer eine Geschichte des relevanten feldexternen europäischen Integrationsprozesses mitgeschrieben werden, und zwar unter der übergreifenden Fragestellung, inwiefern die Umwelt auf die Entwicklung des Feldes einwirkt. In der Entstehungsphase des Feldes besteht dieser feldexterne Einfluss vor allem darin, mit der Idee eines menschlicheren Integrationsprozesses die Türen für sozialpolitische und damit auch für armutspolitische Themen zu öffnen und die Fraglosigkeit der deutsch-neoliberalen Integrationsvision über Bord zu werfen. In der nun betrachteten Ausbreitungsphase des Feldes formiert sich die Menge der Felder der europäischen Integration entlang der beiden Pole ?Binnenmarkt? und ?Solidarität? neu. Damit verstetigt sich der Konflikt um die Frage nach einer sozialen Integrationskomponente, ja er vertieft sich sogar zu einer symbolischen Konfliktlinie. Das Konzept der symbolischen Konfliktlinie dient der Spezifizierung und Abgrenzung der Forschungstätigkeit jenseits des jeweils untersuchten Feldes. Ausgangspunkt des Konzeptes ist die Feststellung, dass auch die soziale Umwelt des untersuchten Feldes feldförmig strukturiert ist, das heißt, von symbolischen und materiellen Kämpfen um die Vorherrschaft in einer lokalen Sozialordnung (hier des europäischen Integrationsprozesses) geprägt wird. Die Umwelt ließe sich also prinzipiell mit der gleichen Heuristik untersuchen, wie das Feld der Armutspolitik selbst. Da Felder in dem Grad ihrer Autonomie von der feldexternen Umwelt variieren und dabei stets von den Kräfteverhältnissen in der anderen Feldern beeinflusst werden, könnte Feldanalyse nach dem Domino-Prinzip unablässig ausgeweitet werden, so dass sich an die Analyse des Armutsfeldes zunächst die Analyse anderer sozialpolitischer Politikfelder anschlösse, dann die wirtschaftlicher Felder, bis schließlich auch nationale und internationale Felder in die Untersuchung einbezogen würden. Aus offensichtlichen forschungspragmatischen Gründen muss diese Fortsetzungslogik irgendwann unterbrochen werden. In diesem Sinne setzt das Konzept der symbolischen Konfliktlinie einen Schlusspunkt. Indem es die Umwelt eines Feldes nicht als Summe von differenzierten Feldern mit jeweils eigener Geschichte und Machtverhältnissen behandelt, sondern auf eine diesen Feldern unterliegenden gemeinsamen Konflikt abhebt, verkürzt es die Analyse mehrerer externer Felder zur Analyse eines symbolischen Antagonismus (vgl. Abschnitt 3.3). Dieses Vorgehen fasst die Vielheit der Felder zusammen und verzichtet darauf, auf die beteiligten Akteure, ihre Ressourcen und Machtstrategien im Zeitverlauf einzugehen. Das Konzept der symbolischen Konfliktlinie folgt der feldtheoretischen Intuition, dass soziale Prozesse von ihren Tiefenstrukturen her verstanden werden müssen und dass sie von antagonistischen Kämpfen geprägt werden, die sowohl eine symbolische, als auch eine materielle Dimension haben. Das Vorgehen hat den Vorteil, dass die Umwelt des untersuchten Armutsfeldes als relevanter Kontext thematisiert werden kann, ohne dass man entweder die Prinzipien der Feldtheorie aufgeben, oder sich in unendlichen Folge-Feldanalysen verlieren muss. Welchen Einfluss hat nun die Ausbildung der symbolischen Konfliktlinie zwischen ?Binnenmarkt? und ?Solidarität? in der feldexternen Umwelt für das Feld der Armutspolitik? Um dieser Frage nachgehen zu können, wird im Folgenden für den feldexternen Kontext zwischen institutionellen und symbolischen Veränderungen unterschieden. Bei den institutionellen Veränderungen handelt es sich um die expliziten Neuerungen, die gemeinhin als Eckpunkte des Integrationsverlaufs in den 1980er und den beginnenden 1990er Jahren diskutiert werden (das sind: Einheitliche Europäische Akte, Sozialcharta, Sozialprotokoll und der Vertrag von Maastricht). Bei den symbolischen Veränderungen geht es um Verschiebungen in der Behandlung der Frage der sozialen Dimension. An die Stelle des paradigmatischen Bruchs mit dem deutsch-neoliberalen Paradigma in den 1970er Jahren tritt die Vision eines solidarischen Europas als häretisches Projekt.