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Zeitgewinn und Selbstverlust - Folgen und Grenzen der Beschleunigung

Vera King, Benigna Gerisch

 

Verlag Campus Verlag, 2009

ISBN 9783593407449 , 262 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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31,99 EUR

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Jedes Ding hat keine Zeit? Flexible Menschen in rasenden Verhältnissen Hartmut Rosa 5. Präsenzzeit Die dritte Bedeutung der Vorstellung, dass alle Dinge 'ihre Zeit' haben, bezieht sich auf ihre jeweilige (individuelle oder kollektive) historische Aktualität, auf ihre 'Gebrauchszeit' oder 'Geltungsdauer'. So reden wir manchmal davon, dass ein bestimmter Sport- oder Musikstar 'seine Zeit' schon gehabt habe, das gilt aber auch für einen Modestil oder ein Automodell. Bezogen auf den Alltag lässt sich dies leicht an Gebrauchsgegenständen illustrieren. Während die Schreibmaschine, der Rechenschieber oder das Telefon mit Wählscheibe 'ihre Zeit' gewissermaßen kollektiv im 20. Jahrhundert hatten - sie ist inzwischen abgelaufen -, lässt sich das von je konkreten Gegenständen für den je spezifischen Alltag von Individuen sagen. Die Zeit meines roten Rollkragenpullis, meines Opel Kadett oder meiner blauen Kaffeetasse lässt sich jeweils recht genau definieren, sie ist inzwischen in allen drei Fällen abgelaufen. In lebenszeitlicher Perspektive lässt sich etwa meine Gelsenkirchener Zeit, meine Zeit mit Elsa, oder meine Zeit bei den Methodisten exakt bestimmen. Auch diese 'Dinge' hatten ihre feste Zeit in meinem Leben. Schließlich sind historische Epochen oft durch die Präsenz bestimmter Institutionen, Personen oder auch Stile geprägt. Der Wohlfahrtsstaat, das Wirtschaftswunder, die 68er, der Stummfilm: Sie alle hatten 'ihre Zeit' und 'färbten' dabei den Charakter ihrer jeweiligen Epoche. Lässt sich auch in diesem Sinne eine Erosion der 'Eigenzeit' beobachten? Ich meine Ja. Moderne Gesellschaften stehen, wie schon bemerkt, unter andauerndem Innovationsdruck; sie sind durch eine progressive Steigerung der sozialen und technischen Innovationsraten gekennzeichnet (vgl. Lübbe 1998). In der Spätmoderne, so meine ich, sind diese Innovationsraten in allen drei Zeithorizonten (Alltag, Leben, Epoche) so hoch geworden, dass die Dinge ihre Geltung verlieren, aus der Mode kommen oder verändert werden, bevor sie in Alltag, Leben oder Epoche 'historisch' bzw. lebenspraktisch anverwandelt werden konnten. Ihnen bleibt daher keine Zeit mehr, Alltag, Leben oder Epoche zu prägen. Wo ließe sich solches beobachten? Man muss nicht erst die extrem kurze 'Präsenzzeit' der neuen Medienstars bemühen, wie sie etwa bei 'Deutschland sucht den Superstar' generiert werden. Was Karl Marx als Tendenz für die Produktionsmittel - insbesondere für die Maschinen - beobachtete, gilt heute für die Mehrzahl der hergestellten Produkte: Ihre Zeit ist abgelaufen, bevor sie physisch zerschlissen sind. Kaum jemand trägt heute seine Kleider noch, bis sie wirklich und irreparabel zerrissen sind, sie kommen vorher aus der Mode. Das gilt a fortiori für Computer, Handys, Fotokameras, Radiorecorder etc. Werden Konsumprodukte alltagsuntauglich, bevor sie jemals 'richtig' zum Einsatz kamen, das heißt, werfen wir Kleider, Schuhe, Lebensmittel oder technische Geräte weg, ohne sie wirklich benutzt zu haben, lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass ihre Zeit abgelaufen sei, bevor sie anfing: Sie hatten 'ihre Zeit' nicht. Das mag in lebenszeitlicher Perspektive auch für Arbeitsstellen, Wohnorte oder Lebenspartnerschaften gelten, die aufgegeben wurden, bevor sie identitätsstiftend oder -prägend werden und damit lebenszeitliche Bedeutung gewinnen konnten. Und es gilt für soziale und politische Organisationen und Institutionen. In manchen gesellschaftlichen Feldern (etwa im Bereich der Jugendpflege, im Hochschulwesen oder auch im Bereich der permanenten Reorganisation von Konzernen) ändern sich Institutionen und Regelungen so schnell, dass sich keine Routinen mehr ausbilden können. Eindrucksvoll lässt sich dies derzeit bei dem Versuch beobachten, einerseits neue Studiengänge und andererseits neue Formen der elektronischen Hochschulverwaltung gleichzeitig einzuführen: Organisationsmuster und Praxisformen veralten und werden abgeschafft, ehe sie routinisiert werden können, 'ihre Zeit' fällt vielfach einem 'organisatorischen Kammerflimmern' zum Opfer. Ist indessen die Zeit von Stars, Produkten, Maschinen und Praxisformen zu kurz, um einen epochenprägenden Charakter dergestalt zu gewinnen, dass man sich bei ihrem Anblick auch kontextuell in eine bestimmte Zeit zurückversetzt fühlt, so taugen sie nicht einmal fürs Museum: Die Schellackplatte ist dort gut aufgehoben, die Floppy-Disk dagegen lässt sich kaum mehr musealisieren.