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Auroras Anlaß

Erich Hackl

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602371 , 160 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[19] 2

Ein haltloses, hilfsbedürftiges Geschöpf, würde Hildegart schreiben, das sich stets nach dem Bild richtet, welches sich die Gesellschaft von ihm macht, das davor zurückschreckt, sich zu seinen geheimen Wünschen zu bekennen, das mit Männern nie offen redet, immer die Augen niederschlägt, sich geistig gängeln läßt – das ist die spanische Frau. Bis auf ehrenwerte Ausnahmen besitzt sie einen ungeheuren sexuellen Hunger. Weder die Engländerin, die lange ihre Unschuld bewahrt, noch die frühreife Französin entsprechen ihr hierin. Die Triebhaftigkeit der Spanierin geht auf ihre jahrhundertelang erzwungene Enthaltsamkeit zurück. Sie ist ein Opfer der religiösen Moralvorstellungen, die dazu geführt haben, daß sie Gemeines vermutet, wo nur Wissenschaft ist, und Pornographie, wo nur Wahrheit ist und Natur. Ihre Schwester, Josefa, hatte nach einem späteren Urteil Auroras grobe, unharmonische Gesichtszüge, die in ihrer Gesamtheit freilich sehr sinnlich und auf Männer anziehend wirkten. Den Dienstmädchen begegnete sie schon als Kind in einer äußerst verletzenden Art und schreckte auch nicht davor zurück, sich die Schwester für ihre Bosheiten gefügig zu machen. Versagte ihr eine der Bediensteten, [20] auf Befehl von Frau Carballeira, das Naschen zwischen den Mahlzeiten oder meldete man der Mutter ihr freches Benehmen, dann sann sie auf Rache.

Als Aurora vier Jahre alt war, befahl ihr Josefa, einen Ring, den sie der Kassette ihrer Mutter entnommen hatte, heimlich in den Wäscheschrank einer Magd zu legen. Das Kind kam der Anordnung nach, ohne sich sein Tun recht erklären zu können. Noch am selben Tag vermißte Frau Carballeira, die sich vom Gesinde stets übervorteilt glaubte, das Schmuckstück. Josefa, die ihre Schwester zum Schweigen verpflichtet hatte, lenkte den Verdacht auf jenes Dienstmädchen, in deren Schrank sich in der Tat das fehlende Stück fand. Die Beteuerungen der jungen Frau halfen wenig. Sie wurde aus dem Haus gejagt; Auroras Mutter drang darauf, den vermeintlichen Diebstahl der Polizei anzuzeigen. Erst nach einigen Tagen wagte es Aurora, ihrem Vater den wahren Sachverhalt zu erzählen. Wer aber glaubt schon den wirren Geschichten eines kleinen Mädchens? Immerhin zog Anselmo Rodríguez die Anzeige zurück.

Ständiges Opfer kindlicher Streiche war die Hauslehrerin. Isabel Monteiro, ein hageres, ältliches Fräulein, wartete jahrelang vergeblich auf einen heiratswilligen Mann. Sie redete kaum und war zufrieden, wenn Rodríguez’ Kinder sich still beschäftigten und ihr Zeit ließen, während der Unterrichtsstunden langatmige Romane zu lesen, in denen ritterliche Männer um [21] tugendhafte christliche Frauen warben. Josefa und Auroras ältester Bruder machten sich das Vergnügen, manche Seiten zusammenzukleben oder die letzten Blätter herauszureißen, so daß die eifrige Leserin um den glücklichen Ausgang still brennender Leidenschaften betrogen wurde. Als Josefa älter wurde, pflegte sie Fräulein Monteiro mit Fragen zur Fortpflanzung des Menschengeschlechts in Verlegenheit zu bringen. Oder sie fragte bohrend, was denn die zwei Hunde machten, die sie gestern in einer ungewöhnlichen Stellung beobachtet hatte. Dann wand sich die Frau, versuchte es mit den Bienen, errötete unter dem Gelächter der Kinder, verschob die Erklärung auf einen anderen Tag.

Einmal, als Aurora im Garten spielte, hörte sie ein Geräusch aus einer entlegenen Kammer im Seitentrakt des Hauses. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sah ihre Schwester, nackt bis auf die Strümpfe, mit gespreizten Schenkeln, die Beine angewinkelt um den bloßen Rücken eines Mannes gelegt. Beide atmeten heftig, dann ging das Keuchen der Schwester in ein Wimmern über, sie warf ihren Kopf hin und her, über ihr der Mann, mit einer lichten Stelle am Hinterkopf, die Schultern stark behaart.

Aurora wollte sich abwenden, davonlaufen, angeekelt, wie sie dem Hohen Gericht eingestand, aber die Beine gehorchten ihr nicht, sie sah zu, wie sich der Mann aufrichtete, das Glied mit einem Taschentuch abwischte, wie Josefa, immer noch liegend, die Beine [22] ausstreckte, eine Hand unter den Kopf schob, den nackten Mann betrachtete, gleichgültig, spöttisch, wie es dem Kinde schien, das stehenblieb und starrte, trotz der Gefahr, entdeckt zu werden, und obwohl ihm die Fußballen schmerzten.

Als Josefa schon lange nicht mehr von Fräulein Monteiro unterrichtet wurde, trat eine unerklärliche Veränderung ihres Zustandes ein. Sie begann an Schwindelanfällen zu leiden, an Übelkeiten, erbrach jeden Morgen in die Leibschüssel. Auch war die Schwester jetzt von sehr wechselndem Gemüt, niedergeschlagen zumeist, dann wieder grundlos heiter, legte in einer Aufwallung von Herzlichkeit öfter den Arm um Aurora, die bisher solche Zärtlichkeit gänzlich entbehrt hatte.

Die beiden Schwestern teilten ein Zimmer, und Aurora wollte, als die Unpäßlichkeiten ihrer Schwester einsetzten, die Eltern verständigen; allein Josefa bat sie inständig, kein Wort zu sagen. Ihr Zustand, der bei beschleunigtem Wachstum der Gliedmaßen und inneren Veränderungen junger Frauen häufig auftrete und also keinen Anlaß zur Beunruhigung biete, würde sich von selbst wieder geben. Sie wolle die Eltern nicht beunruhigen, wo doch von keiner Erkrankung gesprochen werden könne.

Aurora schwieg also, auch wenn sie nach mehreren Wochen bemerkte, wie Gesicht und Beine ihrer Schwester anschwollen und Josefas Leibesfülle, wenngleich [23] sie sich bei Tisch auffallend zurückhielt, immer mehr zunahm. Obwohl sich Josefa jeden Morgen arg schnürte, konnte sie ihren Zustand bald nicht mehr verbergen. Während des Mittagessens fiel sie eines Tages in Ohnmacht. Nachdem man sie rasch in den Salon geschafft und ihr auf dem Diwan die Kleidung gelockert hatte, wurde den Eltern ihre Lage offenkundig. Aurora mußte auf ihr Zimmer gehen und vernahm dort die Schreie der Mutter und das Klatschen der Ohrfeigen, mit denen Frau Carballeira Josefa zurück ins Leben rief. Mit Schlägen bekam die werdende Großmutter auch den Namen des Mannes heraus, der Josefa beigeschlafen hatte; da es sich jedoch entgegen ihrer Befürchtung um einen ledigen und standesgemäßen Mann handelte, war an eine Lösung zu denken, welche die Ehre der Familie retten konnte.

Diese war im übrigen Anselmo Rodríguez, der sich immer mehr in die Bibliothek zurückzog, als Rechtsanwalt kaum noch Fälle übernahm und bei Gericht nur das Notwendigste tat, ziemlich gleichgültig. Die Erregung, in die seine Gattin geriet, schien ihm unangemessen angesichts der allgemeinen Einrichtung der Welt und ihrer Sitten. Auch war genug Geld im Haus, um einen Esser mehr zu versorgen.

Der Mann, der Josefa geschwängert hatte, José Arriola, ein Textilhändler, der vor einigen Jahren aus Amerika, wo er es zu Wohlstand gebracht hatte, zurückgekehrt war, machte der Familie wenige Tage [24] später seine Aufwartung. Er schien, was Auroras Vater im stillen gefiel, nicht sonderlich zerknirscht, prahlte allerdings mit seinem Reichtum, den er, wie Anselmo Rodríguez seiner jüngeren Tochter anvertraute, doch aus den Indianern und Negern herausgeschunden hatte. Einer Vermählung mit Josefa stehe nichts im Wege, jedoch machen es ihm seine Geschäfte, die ihn mal hierher, mal dorthin führen, vorderhand, ehe er sich zur Ruhe setze, unmöglich, ein ruhiges Familienleben zu führen. Man kam überein, das Kind im Haus der Großeltern zu lassen; Josefa dagegen, die sich bis zum Ende der Schwangerschaft mit ihrer baldigen Mutterrolle nicht anfreunden konnte, wollte das bewegte Leben Arriolas teilen. Frau Carballeira war das nicht unrecht, weil so ein Auseinanderleben des an Alter und Erfahrung ungleichen Paares verhindert werde.

Josefa wurde von einem gesunden Knaben entbunden und packte, kaum daß sie das Wochenbett verlassen konnte, die Koffer, um ihrem Mann nachzureisen. Das Kind, das den Namen seines Vaters erhielt, wurde von einer Amme gesäugt.

Es warb, da ihm die Großmutter wenig Aufmerksamkeit schenkte, bald um die Gunst der Tante, die seine Zuneigung auch erwiderte. Stundenlang trug Aurora das Kind spazieren, beschützte es vor der Ungeduld und dem Unverständnis der Erwachsenen, sang es abends in den Schlaf. War Pepito, wie sie ihn [25] liebevoll nannte, ungehalten oder traurig, dann spielte sie ihm auf dem Klavier Nanas vor, kurze, für Kinder komponierte Musikstücke. Geschah das anfangs in unregelmäßigen Abständen, so wurde daraus alltägliche Gewohnheit, die beide nicht missen wollten. Pepito saß während der Dauer solcher Konzerte auf Auroras Schoß, bewegungslos, gespannt, sichtlich vertieft in den Klang der Töne.

Seine Mutter ließ selten von sich hören. Gelegentlich kamen mit der Post kleine Geschenke für mein kleines Äffchen, mein Herz, unser artiges Büblein, buntbemalte Holzpferdchen mit und ohne Wagen, eine Trompete, Zinnsoldaten. Und kolorierte Korrespondenzkarten mit dem Königspalast in Madrid, Sevillas Giralda, den Ramblas in Barcelona. Auf der Rückseite flüchtig hingeschriebene Grußworte, stell dir vor, Joselito, gestern hab ich den König gesehen, wir waren eingeladen bei den Grafen von Alba, morgen reisen wir nach Paris. Sei schön brav und gehorche deinen lieben Großeltern. Pepito beeindruckten diese Aufmerksamkeiten nicht; das Spielzeug lag bald unbeachtet in einer Ecke, die Ansichtskarten waren nur so lange von Interesse, als Aurora ihm Geschichten von den Städten, aus denen sie kamen, erzählte.

Den Stoff zu diesen Geschichten fand Aurora Rodríguez in den Büchern ihres Vaters, die sie, wahllos zuerst, verschlang. Bis auf kurze Abstecher...