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Der talentierte Mr. Ripley

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600957 , 432 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[9] 1

Tom blickte zurück; er sah den Mann aus dem Green Cage treten und eilig ausschreiten. Tom ging schneller. Der Mann folgte ihm, soviel stand fest. Tom hatte ihn vor fünf Minuten bemerkt, als er ihn von einem anderen Tisch aus vorsichtig beäugte, als wäre er sich nicht ganz sicher, aber fast. Das »fast« genügte Tom; er hatte sein Glas geleert, gezahlt und das Lokal verlassen.

An der Ecke beugte Tom sich vor und trabte über die Fifth Avenue. Raoul’s – sollte er es darauf ankommen lassen und sich dort etwas zu trinken bestellen? Das Schicksal herausfordern und so weiter? Oder sollte er sich Richtung Park Avenue verdrücken und versuchen, den Mann in einer dunklen Einfahrt abzuschütteln? Tom ging in das Raoul’s.

Während er zu einem freien Hocker an der Theke schlenderte, sah er sich automatisch nach einem bekannten Gesicht um. Den dicken Rothaarigen, dessen Namen er sich nie merken konnte, sah er mit einer Blondine an einem Tisch sitzen. Der Dicke winkte ihm zu, und Tom erwiderte den Gruß mit einer schlaffen Handbewegung. Er schob ein Bein über den Hocker und blickte herausfordernd und zugleich gespielt lässig zur Tür.

»Gin Tonic, bitte«, sagte er zu dem Barkeeper.

[10] Sah der Mann aus wie jemand, den man ihm auf die Fersen setzen würde? Sah er so aus oder nicht oder doch? Er sah weder wie ein Polizist noch wie ein Ermittler aus. Er sah aus wie ein Geschäftsmann, wie ein typischer Vater, gut gekleidet, wohlgenährt, mit grauen Schläfen und einer leicht unsicheren Ausstrahlung. Sah so jemand aus, der solche Aufträge ausführte wie einen im Lokal in ein Gespräch verwickeln und einem dann plötzlich – patsch! – eine Hand auf die Schulter legen und mit der anderen seine Dienstmarke zücken? Tom Ripley, Sie sind verhaftet. Tom ließ die Tür nicht aus den Augen.

Da kam er. Der Mann schaute sich um, sah ihn und wandte sofort den Blick ab. Er nahm seinen Strohhut ab und setzte sich ums Eck an das andere Ende der Theke.

Großer Gott, was wollte der von ihm? Er war doch nicht etwa ein warmer Bruder, dachte Tom wieder, doch diesmal suchte sein gemartertes Hirn so lange, bis es das Wort gefunden hatte, als könnte das Wort ihn schützen, weil ihm so einer lieber gewesen wäre als ein Polizist. Zu einem warmen Bruder konnte man einfach lächelnd »Nein, danke« sagen und weggehen. Tom rutschte auf dem Hocker zurück und atmete tief durch.

Er sah, wie der Mann dem Barkeeper ein verneinendes Zeichen machte und um die Theke herum auf ihn zukam. Es war soweit! Tom starrte den Mann wie gelähmt an. Sie konnten ihm nicht mehr als zehn Jahre aufbrummen, dachte er. Höchstens fünfzehn, aber bei guter Führung – Im selben Moment, in dem der Mann den Mund öffnete, verspürte Tom einen Stich quälender, verzweifelter Reue.

»Entschuldigen Sie, sind Sie Tom Ripley?«

[11] »Ja.«

»Mein Name ist Herbert Greenleaf. Ich bin Richard Greenleafs Vater.« Sein Gesichtsausdruck brachte Tom mehr aus der Fassung, als wenn er eine Pistole auf ihn gerichtet hätte. Die Miene war freundlich, lächelnd, hoffnungsvoll. »Sie sind mit Richard befreundet, nicht wahr?«

In seinem Hirn stellte sich eine undeutliche Verbindung her. Dickie Greenleaf. Ein großer blonder Bursche mit ziemlich viel Geld, das wußte er noch. »Oh, Dickie Greenleaf. Ja.«

»Jedenfalls kennen Charles und Marta Schriever Sie. Die beiden haben mir von Ihnen erzählt und meinten, daß Sie – nun, ja… Könnten wir uns vielleicht an einen Tisch setzen?«

»Ja«, sagte er entgegenkommend und nahm sein Glas. Er folgte dem Mann zu einem freien Tisch hinten in dem kleinen Raum. Noch mal davongekommen! dachte Tom. Frei! Niemand wollte ihn festnehmen. Es ging um etwas anderes. Egal, was es war, es ging nicht um Diebstahl oder Urkundenfälschung oder wie immer es heißen mochte. Vielleicht saß Richard in der Klemme. Vielleicht suchte Mr. Greenleaf Rat oder Hilfe. Tom wußte ganz genau, was man zu einem Vater wie Mr. Greenleaf sagen mußte.

»Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie Mr. Ripley sind«, sagte Mr. Greenleaf. »Ich glaube, wir haben uns nur einmal gesehen. Waren Sie nicht einmal mit Richard bei uns zu Hause?«

»Ich glaube, ja.«

»Die Schrievers haben Sie mir beschrieben. Wir haben Sie zu erreichen versucht; die Schrievers wollten uns [12] miteinander bekannt machen. Sie haben gehört, daß man Sie hin und wieder in der Green-Cage-Bar antreffen kann. Und heute abend habe ich zum erstenmal dort nach Ihnen Ausschau gehalten; vielleicht ist das ein gutes Omen.« Er lächelte. »Ich habe Ihnen letzte Woche geschrieben, aber Sie haben meinen Brief wohl nicht erhalten.«

»Nein, das habe ich nicht.« Marc schickte ihm seine Post nicht nach, dachte Tom. Zum Henker mit ihm. Vielleicht wartete sogar ein Scheck von Tante Dottie. »Ich bin vor etwa einer Woche umgezogen«, sagte Tom erklärend.

»Ach, so. Na ja, viel stand nicht drin. Nur daß ich Sie gern kennenlernen und mich gern mit Ihnen unterhalten würde. Die Schrievers meinten, daß Sie und Richard gute Freunde waren.«

»Ja, ich erinnere mich an ihn.«

»Aber in letzter Zeit haben Sie keinen Kontakt gehabt?« Er sah enttäuscht aus.

»Nein. Ich habe Dickie in den letzten Jahren nicht gesehen.«

»Er lebt seit zwei Jahren in Europa. Die Schrievers halten große Stücke auf Sie; sie meinten, Sie könnten sicher Einfluß auf Dickie nehmen, wenn Sie ihm schrieben. Ich möchte, daß er zurückkommt. Er hat Verpflichtungen zu Hause – aber auf seine Mutter und mich will er nicht hören.«

Tom war verblüfft. »Was haben die Schrievers denn erzählt?«

»Sie meinten – und da haben sie wohl ein bißchen übertrieben –, Sie und Richard seien enge Freunde. Vermutlich dachten sie, Sie hätten sich die ganze Zeit über geschrieben. [13] Wissen Sie, ich kenne mittlerweile fast keine von Richards Freunden –« Er warf einen Blick auf Toms Glas, als hätte er ihn gern auf einen neuen Drink eingeladen, doch Toms Glas war noch fast voll.

Tom erinnerte sich an eine Cocktailparty bei den Schrievers mit Dickie Greenleaf. Möglicherweise waren die Greenleafs mit den Schrievers besser bekannt als er, was alles erklären würde, denn er hatte mit den Schrievers höchstens drei- oder viermal in seinem Leben zu tun gehabt. Das letztemal, erinnerte er sich, hatte er die Einkommensteuererklärung für Charley Schriever gemacht. Charley war Fernsehregisseur und hatte den Überblick über seine freiberuflichen Einnahmen und Ausgaben komplett verloren. Tom war ihm als wahres Genie erschienen, weil er seine Steuerunterlagen entwirrt und – auf völlig legalem Weg – eine wesentlich geringere Steuerschuld errechnet hatte als Charley. Vielleicht war das der Grund für Charleys warme Empfehlung an Mr. Greenleaf gewesen. Wenn er ihn nach jenem Abend beurteilte, hätte Charley Mr. Greenleaf glaubhaft versichern können, daß Tom intelligent, vernünftig, überaus ehrlich und äußerst hilfsbereit sei. Was eine leise Fehleinschätzung war.

»Sie kennen wohl sonst niemand, der Richard so nahesteht, daß er auf ihn hören würde?« fragte Mr. Greenleaf in ziemlich kläglichem Ton.

Tom fiel Buddy Lankenau ein, doch er wünschte Buddy eine so unangenehme Mission nicht an den Hals. »Ich fürchte, nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Warum will Richard denn nicht nach Hause kommen?«

»Er sagt, das Leben drüben gefällt ihm besser. Aber [14] seiner Mutter geht es nicht sehr gut – nun ja, das sind Familiensachen. Ich will Sie nicht damit langweilen.« Fahrig strich er sich mit der Hand über sein dünnes, ordentlich gekämmtes graues Haar. »Er sagt, er sei Maler. Das wäre nicht weiter schlimm, aber dafür fehlt es ihm an Talent. Zum Schiffsbau hätte er genug Talent. Wenn er es nur einsetzen würde!« Er blickte auf, als der Kellner ihn ansprach. »Scotch mit Soda, bitte. Dewar’s. Und was nehmen Sie?«

»Nichts, danke«, sagte Tom.

Mr. Greenleaf sah ihn an, als müßte er sich rechtfertigen. »Sie sind der erste von Richards Freunden, der mir zuhören will. Alle anderen finden, ich würde mich in sein Leben einmischen.«

Das konnte Tom sich gut vorstellen. »Ich würde Ihnen wirklich gern helfen«, sagte er höflich. Jetzt fiel ihm ein, daß Dickies Reichtum aus einer Schiffswerft stammte. Kleine Segelboote. Ohne Frage wollte sein Vater, daß er nach Hause kam, um die Familienfirma zu übernehmen. Tom schenkte Mr. Greenleaf ein unbestimmtes Lächeln und leerte sein Glas. Er war auf die Stuhlkante gerutscht, um aufzustehen, doch die Enttäuschung seines Gegenübers war fast mit Händen zu greifen. »Wo in Europa lebt er denn?« fragte Tom, dem es völlig egal war, wo Dickie steckte.

»In einem Ort namens Mongibello, südlich von Neapel. Dort gibt es nicht einmal eine Bücherei. Verbringt die Zeit mit Segeln und Malen. Er hat sich dort ein Haus gekauft. Richard hat sein eigenes Vermögen – nicht zuviel, aber offenbar genug, daß man davon in Italien leben kann. Tja, jeder nach seinem Geschmack, aber ich werde wohl nie [15] verstehen, was er an dem Ort findet.« Mr. Greenleaf lächelte tapfer. »Kann ich Ihnen nichts anbieten, Mr. Ripley?« fragte er, als der Kellner seinen Scotch mit Soda brachte.

Tom wollte weg, doch er wollte den Mann nicht mit seinem Drink allein dasitzen lassen. »Ja, danke, gerne«, sagte er und reichte dem...