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Schatten an der Wand

Martin Walker

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602067 , 496 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[42] 2

Im Tal der Vézère, ca. 15 000 v. Chr.

Morgens hing immer Nebel über dem Fluss, der die Kalkklippen umspülte und rasch durch das Hügelland strömte, das seinen Lauf bestimmte. Und auch nachdem die Sonne, wie nun zu Beginn des Frühlings, den Nebel aufgelöst hatte, schwebte den ganzen Tag über ein Dunstschleier im Tal, der sich gegen Abend noch verdichtete, wenn die Feuer aufgeschichtet wurden, um die nächtliche Kälte abzuwehren. Dieser andauernde Dunst hatte einen eigentümlichen Geruch, der das Wild auf Abstand hielt und die Jäger jeden Tag aufs Neue zwang, auf der Suche nach Rentierherden weite Strecken zurückzulegen. Denn die Tiere hatten immer schon gespürt, dass Rauch Feuer bedeutete und Feuer Gefahr. Nun lernten sie, den Geruch von Feuer auch mit der Gegenwart von Menschen in Verbindung zu bringen, die sich offenbar auf Dauer in diesem Tal niedergelassen hatten.

Die Bäume, die in der Nähe des Flusses gestanden hatten, waren verschwunden, mit Flintsteinen mühsam gefällt und verfeuert. An seichten Stellen des Flusses hatte man Steine aufgeschichtet, um ihn leichter überqueren zu können. Und immer waren da die Rauchschwaden und vor allem der Lärm, der von den Menschen kam. Sie waren von allen Lebewesen die lautesten. Ihre Kinder lachten und [43] kreischten beim Spielen. Die Frauen riefen ihnen ständig etwas zu, schwatzten untereinander und sangen eigentümliche Lieder, wenn sie zum Fluss gingen, um Wasser zu holen, was dreimal am Tag der Fall war. Die Männer brüllten triumphierend, wenn sie mit einem erlegten Rentier zurückkehrten, das sie, kopfüber mit den Läufen an eine Stange gebunden, auf den Schultern trugen. Und immerzu war ein Hämmern wie von Spechten zu hören, weil Männer unermüdlich Flintsteine zu Werkzeugen bearbeiteten. Lärm und Rauch, gefällte Bäume und der immerwährende Geruch von Feuer an den Ufern, die sie ausplünderten – das waren die Wesensmerkmale der Menschen.

Der Hüter der Stiere schaute über den Fluss und sah von zahllosen Feuern Rauch aufsteigen und über dem Tal schweben, so weit sein Auge reichte. Er wusste, dass die Menschen mehr auszeichnete als ihr lärmendes Wesen und die Spuren ihrer Anwesenheit. Mehr als Sprache und Verständigung, mehr als die Fähigkeit, in Gruppen zu arbeiten und für Nahrung zu sorgen, war es der Sinn für weihevolle Verehrung ihrer Tätigkeit, der sie zu etwas Besonderem machte. Dieser Sinn zeigte sich leuchtend und lebendig, stolz und verheißungsvoll an den Wänden der Höhle hinter ihm. Der Hüter der Stiere blickte auf seine Hände, spreizte die Finger und betrachtete die rot und gelb verfärbte Haut. Er hob eine Hand an den Mund, nahm den Geruch der Farben wahr, leckte an den Fingern und fragte sich zum wiederholten Mal, ob er die Verschiedenheit der Farben auch schmecken könnte. Als er das weiche Moos zur Hand nahm, mit dem er die Stiere schwärzte, glaubte er, deren Kraft und Dunkelheit regelrecht zu riechen und zu schmecken. Er [44] wähnte sich von der vertrauten Gegenwart der Tiere berührt und stimmte den Sprechgesang an, mit dem er sein Tagwerk begann, das Lied, das er den Stieren gewidmet hatte.

Singend ging er vor dem kleinen Feuer, das zu seinen Füßen glomm, auf die Knie. Linker Hand lag die Feder am Boden, das feinste seiner Werkzeuge, rechts das Mooskissen, das gröbste. Hinter dem Feuer lag etwas Dung des heiligsten aller Tiere. Er hatte ihn, noch frisch und warm, eigenhändig mit den Farben, die er gebrauchen würde, vermischt und dann zu kleinen Kugeln gerollt. Während er sang, blies er ins Feuer und legte, passend zu den Formeln seines Lieds, zuerst die Feder, dann das Moos in die Glut. Mit scharfem Geruch versengte die Feder sofort. Er wartete, bis von dem feuchten Moos Dampf aufstieg, und legte dann ehrfürchtig ein rotes und ein gelbes Dungkügelchen in die Flammen. Schließlich richtete er sich auf, breitete die Arme aus und beendete seinen Gesang, als die Sonne durch die Nebelschwaden stach und gelbglitzernde Strahlen über den Fluss warf. Mit geschlossenen Augen und gebeugtem Kopf stellte er sich die großen Flanken vor, die er an diesem Tag zeichnen wollte, ihre Kraft und Festigkeit, und im Geiste sah er schon die bewegten Formen, die er auf der Wand abbilden würde. Hellwach und geläutert träumte er von den Stieren.

»Vater, du musst kommen«, störte ihn plötzlich eine helle Stimme, die sich vor Aufregung überschlug. Oder vielleicht auch vor Angst. Der Hüter der Stiere schreckte auf und musste an sich halten vor Ärger darüber, dass der Junge so töricht und respektlos war, diesen Ort [45] aufzusuchen, den er nicht sehen durfte. Immerhin hatte das Kind das Ende des Liedes abgewartet. So viel verstand es vom Ritual, auch wenn es erst dann einen Platz unter den Arbeitern in der Höhle haben konnte und dazugehörte, wenn es erwachsen war und sein erstes Tier getötet hatte. Aber schon jetzt zeichnete der Junge unablässig mit einem Stöckchen Figuren in den Staub am Boden, offenbar geboren für diese Arbeit, was den Vater stolz machte. »Die Frauen…«, krächzte der Junge. »Es ist Mutter.«

»Geh!«, rief der Hüter der Stiere, nicht länger verärgert, vielmehr voller Sorge über den Ausgang der bevorstehenden Geburt. »Ich darf jetzt nicht weg. Ich muss meine Arbeit tun und komme später.«

Er schaute dem Jungen nach, der eilig den Hang hinunterlief, auf das Feuer am Ufer zu, wo sich die Frauen versammelt hatten. Kindergeburten verliefen oft tödlich. Seine erste Frau war, als sie niederkam, gestorben, diese, seine zweite, hatte ihm zwei Söhne geschenkt. Jetzt wurde ein weiteres Kind erwartet. Er wandte sich ab und ging auf die Höhle zu, passierte geduckt den niedrigen Einstieg und blieb eine Weile reglos stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es standen allzu viele Gerüststangen im Weg, als dass er hätte blindlings drauflos tappen können. Endlich sah er die kleinen Lampen mit den Wacholderdochten brennen und hörte über sich einen anderen Maler, der auf dem Gerüst kauerte und seiner Arbeit nachging. Es war der Hüter der Pferde, der andere Priester, dessen Werke durchaus bewundernswert waren, wenn sie auch seine eigenen nicht erreichten. Der Hüter der Pferde hatte eine Tochter, bald alt genug, um vermählt zu werden, ein [46] junges, frisches Mädchen, das ihn, den ranghohen Hüter der Stiere, verehrte. Ein Lächeln trat in sein Gesicht, als sich seine Augen auf das spärliche Licht der Lampen eingestellt hatten und der Kopf des größten Stieres aus dem Dunkeln auftauchte.

Es war sein Werk, zum ehrenden Gedenken der Auerochsen. Und zum ersten Mal musterte er nun seine bislang größte Leistung, zufrieden damit, wie Bewegung und Form zum Ausdruck kamen, was ihm insbesondere in der Gestaltung der Hörner gelungen war. Das hintere war nur eine einfache Kurve, während das vordere, mit ähnlichem Schwung zu Anfang, nach oben hin einen anderen, fast gegensinnigen Verlauf nahm. Dadurch schien sich der Kopf zu bewegen und war nicht mehr nur von der Seite zu sehen wie bei den Hirschen und Pferden, sondern es drohte ein mächtiges Biest gleichsam aus der Felswand anzugreifen. Er seufzte beglückt und nickte, zufrieden mit dem, was er sah, und richtete den Blick auf seine jüngste Arbeit, die Linie, wo Brust und Vorderläufe des Stiers ineinander übergingen.

Ja, es hatte funktioniert. So wie die unterschiedlichen Hörner den Kopf scheinbar herumschwingen ließen, würde der Eindruck von Bewegung noch verstärkt durch den hinteren der beiden nach vorn geworfenen Vorderläufe, der leicht angewinkelt war. Zuerst hatte er die Schulter gemalt, mit dickem Farbauftrag, um das Muskelfleisch zu betonen, dann den vorderen Lauf, weiß abgesetzt von Brust und Bauch. Es war perfekt. Alles, was er in den Monaten und Jahren im Halbdunkel der Höhle gelernt hatte, war in dieser Darstellung bestens umgesetzt worden. Der Stier [47] bewegte sich, und zwar nicht einfach von rechts nach links, sondern im stumpfen Winkel auf den Betrachter zu.

»Etwas Besseres ist dir noch nicht gelungen«, lobte der Hüter der Pferde. Breitbeinig stand er auf zwei Pfosten des Gerüstes und arbeitete in der Wölbung von Höhlendecke und Wand zwischen den ausladenden Hörnern des Stiers. »Ich will deiner Arbeit mit meinen Strichen Anerkennung zollen.«

Der Hüter der Stiere blinzelte und sah einen Pferdekopf zwischen den Hörnern Gestalt annehmen. Mit einer Lampe in der Hand kletterte er auf das Gerüst und stellte sich neben den Priesterbruder.

»Hier setze ich mit meiner Zeichnung an. Sie soll schöner sein als alles, was ich bisher erreicht habe, und ein edles Tier darstellen, das zwischen den Hörnern gefangen sein wird und deinem Werk Ehre erweist«, erklärte der Hüter der Pferde. Er war ein schlanker, drahtiger Mann mit schütteren grauen Haaren, die mit einem Lederring im Nacken zusammengefasst waren. Kleiner als der Hüter der Stiere und flink auf den Beinen, wie es sich für einen Hüter der Pferde gehörte, hatte er die besten Zähne unter allen Bewohnern des Tals. Sie waren weiß und ebenmäßig und ohne eine einzige Lücke. Der Hüter der Stiere dachte an dessen Tochter und hoffte, dass ihre Zähne ebenso vollkommen waren, und er fand Gefallen an dem Gedanken.

»Seine Mähne soll schwarz sein, das Fell dunkelbraun, und ich will, dass es aufmerksam die Ohren aufstellt zum Zeichen seines Respekts vor der Größe, die ihm begegnet«, fuhr der Hüter der Pferde fort. »Wärst du damit einverstanden, mein Freund?«

[48] Der Hüter der Stiere klopfte ihm auf die Schulter und brummte beifällig. Dann stieg er...