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Zwergenbann - Roman

Frank Rehfeld

 

Verlag Blanvalet, 2010

ISBN 9783641028398 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

PROLOG


WILLENLOS
Das Scharren des Riegels an der Tür der Wohnhöhle riss Lian aus dem Schlaf. Er fuhr hoch, und augenblicklich loderte die Angst – sein unsichtbarer Begleiter, so lange er sich zurückerinnern konnte – in ihm hoch und ergriff Besitz von ihm.
Sie kamen, um ihn zu holen.
Die Angst war stets gegenwärtig, war das beherrschende Gefühl in seinem Leben. Es war, als wäre er bereits mit einem unsichtbaren Reif um seine Brust geboren, der sich von Zeit zu Zeit ein wenig lockerte, nur um sich anschließend wieder umso fester zusammenzuziehen. Früher hatte er gedacht, er würde sich irgendwann daran gewöhnen und sein Schicksal hinnehmen, aber dem war nicht so. Im Gegenteil. Je älter er wurde, desto mehr näherte er sich dem unausweichlichen Zeitpunkt, an dem es ihm wie schon so vielen anderen vor ihm ergehen würde.
Jetzt schien dieser Tag gekommen. Die Thir-Ailith würden ihn holen, er wusste es einfach; er spürte es tief in sich mit einer Bestimmtheit, die weder einen Grund erforderte noch einen Zweifel zuließ. Es gab nur zwei Anlässe, zu denen die Tür geöffnet wurde. Entweder brachte man ihnen ein paar Flechten oder etwas Moos zum Essen, doch das war bereits vor ein paar Stunden geschehen.
Oder die Thir-Ailith kamen, um eine Auswahl zu treffen, wer weiterleben durfte und wer sterben musste. Diesmal würde er zur zweiten Gruppe gehören.
Schon seit Wochen sprossen auf seinem Kinn, seinem Hals und vereinzelt auch auf seinen Wangen Härchen und bildeten mittlerweile einen weichen Flaum; ein sicheres Zeichen, dass er alt wurde und sein Leben sich dem Ende näherte. Die Thir-Ailith wählten zumindest ihre männlichen Opfer immer nach dem Bartwuchs aus.
Der Reif um Lians Brust schien sich mit einem Ruck enger zusammenzuziehen und ihm die Luft abzuschnüren. Er wollte aufspringen, sich irgendwo verstecken, obwohl es in der Höhle keine Verstecke gab, er wollte irgendetwas tun, aber die Angst hatte bereits die Grenze zu lähmender Panik überschritten. Er war unfähig, sich zu rühren, schien jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Nur sein Herz hämmerte so rasend schnell, als wolle es explodieren. Und vermutlich wäre das eine Gnade gegenüber dem gewesen, was ihn stattdessen erwartete.
Er war nicht der Einzige, dem es so ging. Alle Gespräche waren schlagartig verstummt, niemand bewegte sich mehr. In der plötzlichen Stille klang das Knarren der aufschwingenden Tür überlaut.
Wie stets kamen die Thir-Ailith zu dritt, der dreifach Gestalt gewordene Tod. Hochgewachsen und schlank, mit hageren Gesichtern von der Farbe ausgebleichter Knochen. Glattes, ebenso bleiches Haar rahmte ihre Gesichter ein und fiel weit über ihre Schultern. Ihre Augen besaßen die Farbe von Rubinen, die in einem inneren Feuer zu glühen schienen. Schwarze Kleidung schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Körper, darüber trugen sie ebenfalls schwarze, fast bis auf den Boden reichende Umhänge, die sich bei jeder Bewegung bauschten.
Alle Thir-Ailith, die er bislang gesehen hatte, waren einander so ähnlich wie Zwillinge, sodass es Lian noch nie gelungen war, sie auseinanderzuhalten. Er vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren oder überhaupt verschiedene Geschlechter besaßen. Für ihn sah einer von ihnen aus wie der andere, und jeder einzelne stellte eine Inkarnation des Todes dar.
Es war die gleiche Prozedur wie jedes Mal. Einer der Thir-Ailith blieb an der Tür stehen, die anderen beiden gingen im schwachen Lichtschein des an der Höhlendecke wuchernden Glühmoses mit langsamen, gemessenen Schritten zwischen den auf dem Boden kauernden Zwergen hindurch, begutachteten sie, als handele es sich um Vieh. Aber etwas anderes sahen sie ja vermutlich ohnehin nicht in ihnen. Nicht der Funke eines Gefühls war in ihren rot glühenden Augen zu erkennen.
Einer von ihnen deutete auf einen der Zwerge. Nacktes Entsetzen zeigte sich auf dessen Gesicht, doch mit ungelenken, steifen Bewegungen stand er auf.
Die Thir-Ailith zeigten auf weitere Zwerge, Männer wie Frauen, die nur eines gemein hatten: Sie waren alle ungefähr in Lians Alter, gerade voll ausgewachsen. Zumindest die Männer. Die Frauen waren älter, und jede von denen, die ausgewählt wurden, hatte bereits mehrfach Kinder geboren.
Unaufhaltsam näherten sich die beiden Todesboten Lian. Alles in ihm schrie danach, aufzuspringen und davonzustürmen, sich in der entlegensten Ecke zu verkriechen, aber sein Körper war noch immer wie gelähmt. Allerdings hätte es ihm ohnehin nichts genutzt, wenn es anders wäre. Er befand sich schon jetzt im hinteren Teil der Höhle, nicht einmal ein Dutzend Schritte von der Wand entfernt, und einen zweiten Ausgang gab es nicht. Abgesehen von einer kleinen Quelle, aus der sie ihren Durst stillen konnten und die durch dasselbe Loch im Boden versickerte, durch das sie ihre Notdurft verrichteten, war die Höhle völlig kahl.
Auch hätte es nichts genutzt, wenn er versuchte, seinen Flaum zu verbergen. Selbst mit beiden Händen könnte er Hals, Kinn, Wangen und Oberlippe nicht vollständig verdecken, sondern würde dadurch erst recht die Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Lians einzige Hoffnung bestand darin, dass die Thir-Ailith ihn zwischen all den anderen übersahen, aber er wusste, dass das nicht passieren würde. Er wünschte, er könnte sich unsichtbar machen oder im Boden versinken, nur ein paar Sekunden, mehr Zeit brauchte er nicht.
Zwei Schritte trennten die Todesboten noch von ihm, noch einer, dann befanden sie sich auf gleicher Höhe mit ihm, kaum einen Meter entfernt. Der Blick eines von ihnen traf ihn, schien sich für einen entsetzlichen, zeitlosen Moment in seine Augen und geradewegs in seinen Kopf zu bohren und alles in ihm zu Eis erstarren zu lassen – und glitt dann von ihm ab und erfasste die Zwerge neben ihm, während die beiden Thir-Ailith weitergingen.
Lian war wie betäubt. Es war unmöglich … Er war sich so sicher gewesen, dass sie ihn holen würden, dass er noch nicht einmal Erleichterung empfinden konnte. Der Tod war keine zwei Schritte von ihm entfernt vorbeigeschritten und hatte ihn verschont.
Wenigstens für dieses Mal.
Lian verfolgte die Thir-Ailith verstohlen aus den Augenwinkeln und wagte kaum zu atmen. Als sie aus seinem Blickfeld zu verschwinden begannen, schaffte er es irgendwie, den Kopf um eine Winzigkeit zu drehen.
Er sollte nie erfahren, ob es diese Bewegung oder eine andere Kleinigkeit war, die die Aufmerksamkeit eines von ihnen erregte. Der Thir-Ailith wandte sich um. Erneut traf ein Blick aus seinen glühenden Augen Lian, und wieder schien er sich geradewegs in sein Innerstes zu bohren. Eine dürre, bleiche Hand wurde ausgestreckt und deutete auf ihn.
Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, um dann noch wilder als zuvor weiterzuhämmern. Ein gellender Schrei hallte in Lians Kopf, aber kein Laut kam über seine Lippen. Alles in ihm schien zu Eis zu erstarren. Ohne bewusstes Zutun erhob er sich mit abgehackten Bewegungen, als wäre sein Körper losgelöst von seinem Verstand, und er hätte keine Kontrolle mehr darüber.
Ungerührt setzten die beiden Thir-Ailith ihren Weg fort, wählten noch zwei weitere Zwerge aus und kamen schließlich wieder an der Tür an. Genau wie die anderen, auf die ihre Wahl gefallen war, setzte sich Lian mit steifen Schritten in Richtung Ausgang in Bewegung. Er wollte es nicht, versuchte dagegen anzukämpfen, aber es war unmöglich. Mit neuerlichem Entsetzen erkannte er, dass er tatsächlich keine Kontrolle mehr über seinen Körper besaß, sondern wie eine Puppe von einer fremden Macht gelenkt wurde – und es bestand kein Zweifel, um welche Macht es sich handelte.
Mit ihm waren neun Zwerge ausgewählt worden, neun von über dreihundert, die in der Höhle eingepfercht waren. Die Blicke der anderen folgten ihnen, gleichermaßen mitfühlend wie auch erleichtert, dass es nicht sie getroffen hatte.
Schon oft, wenn er zuvor Zeuge einer solchen Auswahl geworden war, hatte Lian sich gefragt, warum es nie Widerstand gab, warum nie einer der zum Tode Verurteilten einen – wenn auch aussichtslosen – Fluchtversuch unternahm, sondern alle den Thir-Ailith scheinbar bereitwillig folgten. Nun kannte er auch die Antwort auf diese Frage. Er war wie ein unbeteiligter Gast in seinem eigenen Körper, der den lautlosen Befehlen anderer gehorchte und einen Fuß vor den anderen setzte, ohne dass er es verhindern konnte, so sehr er auch dagegen ankämpfte. Unerbittlich näherte er sich dem Ausgang, trat schließlich durch die Tür.
Einer der Thir-Ailith wartete, bis auch der Letzte von ihnen sie passiert hatte, dann schloss und verriegelte er sie wieder und bildete den Abschluss der kleinen Gruppe.
Seit seiner Geburt hatte Lian die Höhle noch nie verlassen. Abgesehen von ein paar flüchtigen Blicken durch die Tür, wenn diese geöffnet wurde, besaß er nicht die geringste Vorstellung, wie die Welt außerhalb aussah. Selbst durch den Panzer aus Panik, der seinen Geist umfangen hielt, drang ein Funke von Neugier. Nicht einmal dies jedoch vermochte ihm Trost zu spenden oder wenigstens seine Gedanken von dem abzulenken, was ihn erwartete – dafür war das, was er zu sehen bekam, zu trostlos.
Vor der Höhle erstreckte sich in beide Richtungen ein langer, vollkommen kahler Stollen, der von in Wandhaltern steckenden Fackeln schwach erleuchtet wurde. Mehrere ebenso massive und durch dicke Riegel...