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Kalter Fels

Stefan König

 

Verlag Emons Verlag, 2011

ISBN 9783863580308 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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8,49 EUR


 

Eine alte Geschichte

Am Morgen des 10. Juli 1974 war der sechsundzwanzigjährige Karl Mannhardt in Mittenwald aus dem aus München kommenden Frühzug gestiegen.

Später sollte sich der Bahnhofsvorsteher an den jungen Mann erinnern, der mit schwerem Rucksack und in Bergstiefeln über den Bahnsteig gestapft war. »Werktags fällt so ein Bergsteiger ja noch auf«, sagte er aus, als die Staatsanwaltschaft der Sache nachging. Zunächst nämlich war die Identität des Opfers nicht zweifelsfrei belegbar gewesen. »Am Wochenend wär er mir net aufgefallen, da kommen ja viele, jeder Zug bringt haufenweis Leut, die wo ins Karwendel oder ins Wetterstein wollen.«

Mannhardt war Schlosser von Beruf, beschäftigt bei MAN in Karlsfeld. Er mochte seine Arbeit, auch wenn er abends immer nach Öl und Schmiere roch und noch in der Unterwäsche die feinen Eisenspäne fand. Viel mehr noch als seinen Beruf, den er profund und mit bestem Abschluss erlernt hatte, mochte er die Berge. Er war alleinstehend, ungebunden, und er ließ kaum einen freien Tag vergehen, an dem er nicht mit der Bahn nach Süden fuhr, den Bergen entgegen, die er so sehr liebte.

Es gab bevorzugte Ziele, er fuhr oft nach Garmisch-Partenkirchen, gern nach Kufstein oder Mittenwald. Bisweilen auch bis Jenbach oder Innsbruck, wo er dann aber umstieg, um noch tiefer in die Zentralalpen zu gelangen. Am liebsten war er allein unterwegs. Ganz allein. Allein mit sich und einer faszinierenden, menschenleeren Natur. Dann musste er mit niemandem reden, musste niemandem zuhören, konnte sich der Stille hingeben, wo es sie gab, oder durfte auf all das hören, was an Geräuschen und Klängen fernab der Zivilisation auf ihn wartete: das Rauschen der Wildbäche, der Wind in den Baumwipfeln, das Glockengebimmle der Bergschafe, das Poltern und Krachen der Steine in einem abgeschiedenen Kar und bisweilen die Rufe einer Seilschaft hoch oben in den Felswänden: »Stand!« – »Seil ein!« – »Kannst nachkommen!« – »Ich komme!«

Selbst das Echo eines Donners konnte ihn erfreuen – wenn das Gewitter nur weit genug entfernt war und sich anschickte, in sicherer Entfernung an seinem Weg vorbeizuziehen.

In Mittenwald wanderte Mannhardt zwischen den Geschäften und Gasthäusern hindurch dem südlichen Ortsrand entgegen. Immer wieder sah er hinauf zum sich linker Hand erhebenden Karwendelmassiv: schroffe Felsen, die Bergstation der Gondelbahn, ein langer Grat. Eindrucksvoller noch aber war gegenüber die Wettersteinspitze, die sich über dichtem Bergwaldgrün erhob und deren Felskanten und in engen Karen eingebettete Schneefelder schon im Licht der Sonne zu leuchten begannen.

Dort, wo eine Straße nach rechts in Richtung Leutasch abzweigte, nahm er den Rucksack von den Schultern und wartete darauf, dass ein Autofahrer anhielt und ihn mitnahm. Lange musste er sich nicht gedulden – er sah ja nicht wie ein Hippie aus, sondern wie ein Bergsteiger: Bergstiefel, Rucksack, Seil darübergehängt. Da hatte niemand Misstrauen.

So gelangte er über den kleinen Grenzübergang nach Tirol.

Dort hatte der an diesem Tag diensthabende österreichische Zollbeamte später Mühe, sich an Mannhardt zu erinnern. Wie auch? Selbst diesen kleinen, eigentlich unbedeutenden Übergang passierten täglich mehrere hundert Fahrzeuge; viele der Bewohner des weiten Leutascher Hochtals arbeiteten in Mittenwald oder Garmisch.

Der Weiler Lochlehn bestand lediglich aus ein paar Häusern. Das ganze Hochtal war durch solche winzigen Orte besiedelt. Überhaupt konnte man leicht die Meinung gewinnen, dass die Menschen, die sich vor Zeiten hier niedergelassen hatten, möglichst viel Abstand zueinander haben wollten. Die Leutascher Ortsteile sahen schon auf der Karte aus, als hätte Gott sie einfach hingeworfen wie eine Handvoll Streusand.

»Wenn Sie mich da bitte rauslassen«, sagte Mannhardt zum Fahrer, während er gleich hinter Lochlehn die Karte, die er auf den Knien hatte, zusammenfaltete. »Hier wäre es gut.«

»Wo wollen Sie denn eigentlich hin?«, fragte der Fahrer. »Zur Meilerhütte?«

Mannhardt nickte. »Zur Meilerhütte und dann weiter«, sagte er und lächelte. »Vielen Dank fürs Mitnehmen.«

Er wuchtete den Rucksack vom Rücksitz des Autos und machte sich auf den Weg, drehte sich allerdings noch einmal um und winkte dem Mann, der ihn mitgenommen hatte.

Das Berglental galt als besonders einsam. Lang und auch mühsam war der Aufstieg zur Meilerhütte. Die wenigen, die diesen Weg nutzten, waren zumeist Einheimische – daheim im Leutaschtal oder in den nahen Orten Mittenwald und Seefeld. Werktags wirkte das Berglental oft wie ausgestorben.

Karl Mannhardt stieg langsam und gleichmäßig bergauf. Der Anfang des Weges war nicht sehr steil, und er führte ihn zwischen blumenreichen Wiesen ganz allmählich aus dem von den Bauern bewirtschafteten Gelände heraus. Darüber tat sich wilde und karge Landschaft auf: ein Tal, das wenig Bäume aufwies, aber viel Fels; wenig Grün, stattdessen steile, unfruchtbare, faszinierende alpine Wüste. Als er etwa eine Dreiviertelstunde lang gegangen war, suchte er sich einen Felsblock, wo er sich setzen und anlehnen konnte, und legte eine Pause ein. Es war ihm heiß geworden vom Gehen, und er hatte Appetit bekommen auf die Brotzeit, die er im Rucksack mit sich trug. Er säbelte dünne Scheiben von einem Stück Hartwurst, schob sich trockenes Brot in den Mund, schälte ein hart gekochtes Ei, trank aus der Thermosflasche Schwarztee, dem er Zucker und einen Schuss Rum beigegeben hatte.

Er hatte den Rastplatz mit Bedacht gewählt: Er wollte nicht nur sitzen, nicht nur verschnaufen, sich nicht nur stärken. Er wollte auch die Aussicht genießen, hinab ins Tal und hinüber zu den gegenüberliegenden Bergen. Schon aus dieser Höhe sah das Tal aus wie die kindlich-künstliche Landschaft einer Modelleisenbahn. Die Häuser waren geschrumpft, die Straße war ein Strich geworden, die wenigen Autos darauf wirkten wie Spielzeug.

Im Osten begrenzten die Arnspitzen das Leutaschtal, und Mannhardt dachte sich, dass es eigentlich ein seltsamer Bergstock war. Nicht zum Karwendel gehörig, aber auch losgelöst vom Wetterstein, stand dieses dreigipfelige Massiv allein zwischen zwei riesigen Gebirgen.

Er packte auch noch seine Rittersport-Schokolade aus, Rum-Trauben-Nuss, und brach sich, gleichsam als Nachspeise, ein Stück davon ab.

Schokolade hatte er immer dabei. Egal, wie voll und wie schwer sein Rucksack auch war. Schokolade war etwas, worauf er nie verzichtete. Daheim aß er gar nicht allzu viel davon. Aber auf seinen Bergtouren hatte er geradezu einen Heißhunger darauf. Und es kam nicht selten vor, dass er am Ende eines Tages, wenn er auf einer Berghütte angekommen war, gleich als Erstes eine Tafel Schokolade kaufte und auf einen Sitz verzehrte.

So saß er nun ein gutes Stück überm Tal, zerbiss die Nussstücke und ließ die Schokolade auf der Zunge zergehen. Alles war Genuss: die Schokolade, die Landschaft, der einsame Tag. Und der hatte gerade erst angefangen für Karl Mannhardt. So viel Schönes hielt dieses Gebirge, hielt dieser Tag noch für ihn bereit.

Ein langer Aufstieg lag vor ihm. Ein Aufstieg, wie er ihn mochte: Mehrere Stunden lang allein sein können in einer Wildnis. Vier Stunden, so seine Einschätzung, würde er wohl brauchen, um hinaufzugelangen bis zur Meilerhütte. Sie lag in 2.366 Metern Höhe. Der Platz, an dem sie errichtet worden war, hatte ihn vor Langem schon begeistert. Mannhardt hatte Fotos von der Hütte gesehen: wie sie in eine Scharte zwischen steilen Felsflanken hineingebaut war. Wie ein Adlerhorst war sie ihm erschienen. Und es war ihm gleich zum festen Entschluss geworden, irgendwann einmal zur Meilerhütte hinaufzusteigen. Doch es hatte lange gedauert – bis zu diesem Tag.

Der Weg war stellenweise feucht, die Steine glitschig. Es musste am Vorabend oder in der Nacht ein Gewitter gegeben haben. Davon war die Luft gereinigt, er schien sie geradezu schmecken zu können. So eine Luft wie heute, dachte er, vertreibt alle Müdigkeit aus dem Kopf und dem Körper. Herrlich ist es, einfach herrlich.

Manchmal blieb er kurz stehen, um zu schauen oder um nach einem besonders steilen Wegabschnitt wieder zu Atem zu kommen; um zu sehen, ob jemand hinter ihm des Weges kam oder ob er damit rechnen musste, dass jemand ihm im Abstieg begegnete. Nichts. Niemand war zu sehen. Er war allein mit sich. Und er genoss es.

Bisweilen hörte er ein Stück weiter oben Steine poltern. Dann legte er den Kopf in den Nacken, versuchte herauszufinden, woher diese Geräusche kamen und durch was sie verursacht worden sein konnten. Gründe für solche Steinrutsche und Steinschläge kannte er genug. Oft waren Gämsen die Auslöser. Sie stiegen in den unzugänglichsten Bergflanken umher, fanden scheinbar überall Halt – und brachten bei ihren Sprüngen immer wieder Gesteinssplitter und manchmal auch größere Brocken ins Rollen. Vor Gämsen, diesen an sich harmlosen Tieren, musste man sich genau aus diesem Grund in Acht nehmen.

Bisweilen verursachten Kletterer den Steinschlag, traten bei ihrem Aufstieg Steine los oder lösten Geröll mit dem Seil, das um Ecken und Kanten führte. Meistens freilich gab es keine anderen Gründe als die, dass sich die Berge seit ihrer Entstehung in einem fortschreitenden Verfallszustand befanden, dass der Zahn der Zeit an ihnen nagte, dass sie längst altersschwach waren. Sie zerbröckelten und...