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Die Kapuzinergruft

Joseph Roth

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602791 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

XX

Wir hatten in den nächsten Tagen, die vor uns lagen, breit und gefahrenschwanger, düster und erhaben und rätselhaft und fremd, keine Schlachten zu erwarten, aller Voraussicht nach, sondern lediglich Rückzüge. Von der Ortschaft Strumilce kamen wir, kaum zwei Tage später, in das Dorf Jeziory und wieder drei Tage hierauf in das Städtchen Pogrody. Die russische Armee verfolgte uns. Wir zogen uns bis Krasne-Busk zurück. Wahrscheinlich infolge eines nicht rechtzeitig eingetroffenen Befehls blieben wir länger dort, als es in der Absicht der Zweiten Armee gelegen war. Also überfielen uns eines frühen Morgens die Russen. Und wir hatten keine Zeit mehr, uns zu verschanzen. Dies war die historische Schlacht von Krasne-Busk, bei der ein Drittel unseres Regiments vernichtet wurde und ein zweites in Gefangenschaft geriet.

Auch wir wurden Gefangene, Joseph Branco, Manes Reisiger und ich. So ruhmlos endete unsere erste Schlacht.

Ich hätte hier ein kräftiges Bedürfnis, von den besonderen Gefühlen zu berichten, die einen Kriegsgefangenen bewegen. Aber ich weiß wohl, welch einer großen Gleichgültigkeit solch ein Bericht heutzutage begegnet. Gerne nehme ich das Schicksal, ein Verschollener zu sein, auf mich, aber nicht jenes, der Erzähler der Verschollenen zu werden. Man [95] könnte mich kaum noch verstehen, wenn ich es etwa unternähme, heutzutage von der Freiheit zu sprechen, von der Ehre, geschweige denn von der Gefangenschaft. In diesen Jahren schweigt man besser. Ich schreibe lediglich zu dem Zweck, um mir selbst klarzuwerden; und auch pro nomine Dei sozusagen. Er verzeihe mir die Sünde!

Gut, wir waren also Kriegsgefangene, unser ganzer Zug. Mit mir blieben Joseph Branco und Manes Reisiger. Wir waren gemeinsam gefangen. »Für uns ist der Krieg zu Ende«, sagte Manes Reisiger. »Ich war noch niemals gefangen«, setzte er manchmal hinzu, »ebenso wie ihr beide. Aber ich weiß, dass uns das Leben erwartet und nicht der Tod. Ihr beide werdet euch daran erinnern, wenn wir zurückkommen. Wenn ich nur wüsste, was mein Ephraim macht. Der Krieg wird lange dauern. Auch mein Sohn wird noch einrücken. Merkt euch das! Manes Reisiger aus Zlotogrod, ein gewöhnlicher Fiaker, hat es euch gesagt!« – Hierauf schnalzte er mit der Zunge. Es knallte wie eine Peitsche. Die nächsten Wochen blieb er still und stumm.

Am Abend des zweiten Oktobers sollten wir getrennt werden. Man hatte die Absicht, wie es damals Sitte war und selbstverständlich, die gefangenen Offiziere von der Mannschaft zu trennen. Wir sollten im Innern des russischen Landes bleiben, die Personen des Mannschaftsstandes aber weithin verschickt werden. Man sprach von Sibirien. Ich meldete mich nach Sibirien. Bis heute noch weiß ich es nicht, ich will es nicht wissen, auf welche Weise es Manes Reisiger damals gelungen war, auch mich nach Sibirien mitzuschleppen. Noch niemals war, so scheint es mir, ein Mann so froh gewesen wie ich, dass es ihm gelang, durch List und [96] Bestechung Nachteile zu erringen. Aber Manes Reisiger hatte sie eigentlich errungen. Seit der ersten Stunde unserer Kriegsgefangenschaft hatte er den Befehl über uns alle, über unseren Zug, übernommen. Was lernt man nicht alles, Gottes Gnade vorausgesetzt, von Pferden, wenn man ein Fiaker ist!, und gar ein jüdischer aus Zlotogrod…

Von den Umwegen und von den geraden Wegen, auf denen wir nach Sibirien kamen, erzähle ich nicht. Wege und Umwege verstehen sich von selbst. Nach sechs Monaten waren wir in Wiatka.

XXI

Wiatka liegt weit in Sibirien, am Lenafluss. Die Reise dauerte ein halbes Jahr. Die Tage hatten wir auf diesen weiten Wegen vergessen, unzählig und endlos zugleich reihten sie sich aneinander. Wer zählt die Korallen an einer sechsfachen Schnur? Sechs Monate ungefähr dauerte unser Transport. Im September hatte unsere Gefangenschaft begonnen, als wir ankamen, war es März. Im Wiener Augarten mochten schon die Goldregensträucher blühen. Bald fing der Holunder an zu duften. Hier trieben gewaltige Eisschollen über den Fluss, man konnte ihn, auch an seinen breitesten Stellen, trockenen Fußes überschreiten. Während des Transportes waren drei Leute von unserem Zug an Typhus gestorben. Vierzehn hatten versucht zu fliehen, sechs Mann von unserer Eskorte waren mit ihnen desertiert. Der junge Kosakenleutnant, der den Transport auf der letzten Etappe kommandierte, ließ uns in Tschirein warten: Er musste die [97] Flüchtlinge wie die Deserteure einfangen. Er hieß Andrej Maximowitsch Krassin. Er spielte mit mir Karten, während seine Patrouillen die Gegend nach den Verschwundenen absuchten. Wir sprachen französisch. Er trank den Samogonka, den ihm die spärlichen russischen Ansiedler der Gegend brachten, aus seiner kürbisförmigen Feldflasche, war zutraulich und dankbar für jeden guten Blick, den ich ihm schenkte. Ich liebte seine Art zu lachen, die starken, blendenden Zähne unter dem kurzen, kohlschwarzen Schnurrbart und die Augen, die nur Fünkchen waren, wenn er sie zusammenkniff. Er beherrschte das Lachen geradezu. Man konnte ihm zum Beispiel sagen: »Bitte, lachen Sie ein bisschen!«, und im Nu lachte er, schallend, großzügig, weitherzig. Eines Tages hatten die Patrouillen die Geflohenen aufgetrieben. Eigentlich den Rest der Geflohenen, acht Mann von zwanzig. Der Rest war sicherlich verirrt oder irgendwo verborgen oder irgendwo untergegangen. Andrej Maximowitsch Krassin spielte mit mir Tarock in der Bahnhofsbaracke. Er ließ die Eskorte mitsamt den Gefangenen nahe an uns herankommen, bestellte ihnen Tee und Schnaps und befahl mir, der ich ja seinen Befehlen ausgeliefert war, die Strafen zu diktieren, für die Leute meines Zuges sowohl als auch für die russischen zwei eingeholten Deserteure. Ich sagte ihm, dass ich das Dienstreglement seiner Armee nicht kenne. Er bat mich zuerst, dann drohte er, endlich sagte ich: »Da ich nicht weiß, welche Strafen nach Ihren Gesetzen zu verhängen wären, verfüge ich, dass alle straflos bleiben.« Er legte seine Pistole auf den Tisch und sagte: »Sie sind am Komplott beteiligt. Ich verhafte Sie, ich lasse Sie abführen, Herr Leutnant!« – »Wollen wir nicht die Partie zu Ende [98] spielen?«, fragte ich ihn und griff nach meinen Karten. »Gewiss!«, sagte er, und wir spielten weiter, während die Soldaten um uns herumstanden, Eskorten und Österreicher. Er verlor. Es wäre mir leicht gewesen, ihn gewinnen zu lassen, aber ich hatte freilich die Besorgnis, dass er es merken könnte. Kindlich, wie er war, bereitete ihm das Misstrauen eine noch größere Wollust als das Lachen, und die Bereitschaft, Verdacht zu schöpfen, war stets in ihm lebendig. Also ließ ich ihn verlieren. Er zog die Augenbrauen zusammen, er sah den Unteroffizier, der die Eskorte kommandierte, schon böse an, so, als wollte er im nächsten Augenblick alle acht Mann füsilieren lassen. Ich sagte ihm: »Lachen Sie ein bisschen!« Er lachte los, großzügig, weitherzig, mit allen blendenden Zähnen. Ich dachte schon, ich hätte die acht gerettet.

Er lachte etwa zwei Minuten, wurde auf einmal ernst, wie es seine Art war, und befahl dem Unteroffizier: »Spangen für alle acht! Abtreten! Ich verfüge dann Weiteres.« Hierauf, nachdem die Männer die Baracke verlassen hatten, begann er, die Karten zu mischen. »Revanche!«, sagte er. Wir spielten eine neue Partie. Er verlor zum zweiten Mal. Er steckte jetzt erst seine Pistole ein, erhob sich, sagte: »Ich komme gleich!«, und verschwand. Ich blieb sitzen, man entzündete die zwei Petroleumlampen, sogenannte Rundbrenner. Die karwasische Wirtin wankte heran, ein neues Teeglas in der Hand. Im frischen Tee schwamm noch die alte Zitronenscheibe. Die Wirtin war breit wie ein Schiff. Sie lächelte aber wie ein gutes Kind, vertraulich und mütterlich. Als ich mich anschickte, die alte, hässliche Zitronenscheibe aus dem Glas zu entfernen, griff sie mit zwei [99] gütigen, dicken Fingern hinein und holte die Zitrone heraus. Ich dankte ihr mit einem Blick.

Ich trank den heißen Tee langsam. Der Leutnant Andrej Maximowitsch kam nicht zurück. Es wurde immer später, und ich musste zu meinen Leuten zurück ins Lager. Ich ging hinaus vor die Balkontür und rief ein paarmal seinen Namen. Er antwortete mir endlich. Es war eine eisige Nacht, so kalt, dass ich zuerst glaubte, selbst ein Ruf müsste, kaum ausgestoßen, schon erfrieren und niemals den Gerufenen erreichen. Ich blickte zum Himmel empor. Die silbernen Sterne schienen nicht von ihm selbst geboren, sondern in seine Gewölbe eingeschlagen worden zu sein, glänzende Nägel. Ein wuchtiger Wind vom Osten, der Tyrann unter den Winden Sibiriens, nahm meiner Kehle den Atem, meinem Herzen die Kraft, zu schlagen, meinen Augen die Fähigkeit, zu sehen. Die Antwort des Leutnants auf meinen Ruf, vom bösen Wind mir dennoch entgegengetragen, erschien mir wie eine tröstliche Botschaft eines Menschen, nach langer Zeit zum ersten Mal vernommen, obwohl ich kaum ein paar Minuten draußen in der menschenfeindlichen Nacht gewartet hatte. Aber wie wenig tröstlich war diese menschliche Botschaft.

Ich ging in die Baracke zurück. Eine einzige Lampe brannte noch. Sie erhellte den Raum nicht, sie machte seine Finsternis nur noch dichter. Sie war gleichsam der leuchtende, winzige Kern einer schweren, kreisrunden Finsternis. Ich setzte mich neben die Lampe hin. Plötzlich schreckten mich ein paar Schüsse auf. Ich lief hinaus. Die Schüsse waren noch nicht verhallt. Sie schienen noch immer unter dem eisigen, gewaltigen Himmel dahinzurollen. Ich [100] lauschte. Nichts regte sich mehr, außer dem ständigen Eiswind. Ich konnte es nicht mehr ertragen und kehrte in die Baracke zurück.

Eine Weile später kam der...