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Die Geschichte von der 1002. Nacht

Joseph Roth

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602753 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

 

 

 

[5] I

Im Frühling des Jahres 18.. begann der Schah-in-Schah, der heilige, erhabene und große Monarch, der unumschränkte Herrscher und Kaiser aller Staaten von Persien, ein Unbehagen zu fühlen, wie er es noch niemals gekannt hatte.

Die berühmtesten Ärzte seines Reichs konnten seine Krankheit nicht erklären. Der Schah-in-Schah war aufs höchste beunruhigt.

In einer schlaflosen Nacht ließ er den Obereunuchen Patominos kommen, der ein Weiser war und der die Welt kannte, obwohl er den Hof nie verlassen hatte. Zu diesem sprach er so:

»Ich bin krank, Freund Patominos. Ich fürchte, ich bin sehr krank. Der Arzt sagt, ich sei gesund, aber ich glaube ihm nicht. Glaubst du ihm, Patominos?«

»Nein, ich glaube ihm auch nicht!«, sagte Patominos.

»Glaubst du also auch, dass ich schwer krank bin?«, fragte der Schah.

»Schwer krank – nein – das glaube ich nicht!«, erwiderte Patominos. »Aber krank! Krank jedenfalls, Herr! Es gibt, Herr, viele Krankheiten. Die Doktoren sehen sie nicht, weil sie darauf abgerichtet sind, nur die Krankheiten der körperlichen Organe zu beachten. Was aber nutzt dem [6] Menschen ein gesunder Leib mit gesunden Organen, wenn seine Seele Sehnsucht hat?«

»Woher weißt du, dass ich Sehnsucht habe?«

»Ich erlaube mir, es zu ahnen.«

»Und wonach sehne ich mich?«

»Das ist eine Sache«, erwiderte Patominos, »über die ich eine Weile nachdenken müsste.«

Der Eunuch Patominos tat so, als dächte er nach, dann sagte er: »Herr, Eure Sehnsucht zielt nach exotischen Ländern, nach den Ländern Europas zum Beispiel.«

»Eine lange Reise?«

»Eine kurze Reise, Herr! Kurze Reisen bringen mehr Freude als lange. Lange Reisen machen krank.«

»Und wohin?«

»Herr«, sagte der Eunuch, »es gibt vielerlei Länder in Europa. Es hängt alles davon ab, was man eigentlich in diesen Ländern sucht.«

»Und was glaubst du, dass ich suchen müsste, Patominos?«

»Herr«, sagte der Eunuch, »ein so elender Mensch wie ich weiß nicht, was ein großer Herrscher suchen könnte.«

»Patominos«, sagte der Schah, »du weißt, dass ich schon wochenlang keine Frau mehr angerührt habe.«

»Ich weiß es, Herr«, erwiderte Patominos.

»Und du glaubst, Patominos, das sei gesund?«

»Herr«, sagte der Eunuch und erhob sich dabei ein wenig aus seiner gebückten Stellung, »man muss sagen, dass Menschen meiner besonderen Art nicht viel von derlei Dingen verstehen.«

»Ihr seid zu beneiden.«

[7] »Ja«, erwiderte der Eunuch und richtete sich zu seiner ganzen fülligen Größe auf. »Die anderen Männer bedaure ich von ganzem Herzen.«

»Warum bedauerst du uns, Patominos?«, fragte der Fürst.

»Aus vielen Gründen«, antwortete der Eunuch, »besonders aber deshalb, weil die Männer dem Gesetz der Abwechslung unterworfen sind. Es ist ein trügerisches Gesetz: denn es gibt gar keine Abwechslung.«

»Wolltest du damit gesagt haben, dass ich dieser bestimmten Abwechslung halber irgendwohin fahren sollte?«

»Ja, Herr«, sagte Patominos, »um sich zu überzeugen, dass es keine gibt.«

»Und dies allein würde mich gesund machen?«

»Nicht die Überzeugung, Herr«, sagte der Eunuch, »aber die Erlebnisse, die man braucht, um zu dieser Überzeugung zu gelangen!«

»Wie kommst du zu diesen Erkenntnissen, Patominos?«

»Dadurch, dass ich verschnitten bin, Herr!«, erwiderte der Eunuch und verneigte sich wieder.

Er riet dem Schah-in-Schah zu einer weiten Reise. Er schlug Wien vor. Der Herrscher erinnerte sich: »Mohammedaner waren dort schon vor vielen Jahren gewesen.«

»Herr, es gelang ihnen damals leider nicht, in die Stadt zu kommen. Auf dem Stephansturm stünde sonst heute nicht das Kreuz, sondern unser Halbmond!«

»Alte Zeiten, alte Geschichten. Wir leben in Frieden mit dem Kaiser von Österreich.«

»Jawohl, Herr!«

»Wir fahren!«, befahl der Schah. »Die Minister verständigen!«

[8] Und es geschah, wie er befohlen hatte.

Im Waggon erster Klasse zuerst, später im rückwärtigen Teil des Schiffes, herrschend über den Frauen, saß der Obereunuch Kalo Patominos. Er blickte auf die rotglühende untergehende Sonne. Er breitete den Teppich aus, warf sich auf den Boden und begann, das Abendgebet zu murmeln. Man erreichte unerkannt Konstantinopel.

Das Meer war sanft wie ein Kind. Das Schiff schwamm sacht und lieblich, es selbst ein Kind, in die blaue Nacht hinein.

II

Ein paar Tage kreuzte das bräutliche Schiff des Schahs im blauen Meer. Denn man getraute sich nicht, dem großen Herrn zu sagen, dass man auf eine Antwort des persischen Botschafters in Wien warten müsse. Nach anderthalb Tagen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl er sich um den Kurs des Schiffes nicht kümmerte, konnte er doch nicht umhin zu bemerken, dass immer wieder das gleiche Stück der Küste auftauchte, die er eben verlassen hatte. Auch ihm schien es allmählich sonderbar, dass ein so starkes Schiff so viel Zeit brauchte, um ein so kleines Meer zu durchqueren. Er ließ den Großwesir kommen und deutete ihm an, dass er unzufrieden sei mit der Langsamkeit der Überfahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht genau. Denn traute er schon keinem seiner Diener, solange er sich auf fester Erde befand, so traute er ihnen noch weniger, wenn er auf dem Wasser umherschwamm. Gewiss war man auch zur See in [9] Gottes Hand, aber auch ein wenig in der des Kapitäns. Überhaupt, sooft er an den Kapitän dachte, wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapitän gar nicht, besonders, weil er sich nicht erinnern konnte, ihn schon jemals gesehen zu haben. Er war nämlich äußerst misstrauisch. Selbst die Männer, die ihm heimisch und wohlvertraut waren, verdächtigte er leicht und gerne; wie erst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte? Ja, er war dermaßen misstrauisch, dass er nicht einmal sein Misstrauen zu erkennen zu geben wagte – in der kindischen und mächtigen Herrn oft eigenen Überzeugung, sie seien noch schlauer als ihre Diener. Deshalb deutete er jetzt dem Großwesir auch nur vorsichtig an, dass ihm dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vorkomme. Der Großwesir aber, der wohl erkannte, dass der Schah sein Misstrauen nicht ausdrücken wolle, gab keineswegs zu erkennen, dass er Misstrauen spüre.

»Herr«, sagte der Großwesir, »auch mir erscheint es unverständlich, dass wir so lange Zeit brauchen, um das Meer zu überqueren.«

»Ja«, bestätigte der Schah, als ob er selbst erst durch diese Bemerkung des Großwesirs auf die allzu langsame Fahrt aufmerksam gemacht worden wäre, »ja, du hast recht: Warum fahren wir so langsam?«

»Man müsste, Herr, den Kapitän befragen!«, sagte der Großwesir.

Der Kapitän kam, und der Schah fragte: »Wann erreichen wir endlich die Küste?«

»Großmächtiger Herr«, erwiderte der Kapitän, »das Leben Eurer Majestät ist uns allen heilig! Heiliger ist es uns [10] als unsere Kinder, heiliger als unsere Mütter, heiliger als die Pupillen unserer Augen. Unsere Instrumente kündigen einen Sturm an, so friedselig das Meer auch im Augenblick erscheinen mag. Wenn Eure Majestät an Bord sind, müssen wir tausendfach achtgeben. Was gibt es Wichtigeres für unser Leben, für unser Land, für die Welt als das geheiligte Leben Eurer Majestät? – Und unsere Instrumente kündigen leider Sturm an, Majestät!«

Der Schah sah nach dem Himmel. Er war blau, straff gewölbt, strahlend. Der Schah dachte, dass ihn der Kapitän belüge. Er sagte es aber nicht. Er sagte nur: »Mir scheint, Kapitän, dass deine Instrumente gar nichts taugen!«

»Gewiss, Majestät«, antwortete der Kapitän, »auch Instrumente sind nicht immer zuverlässig!«

»Ebenso wie du, Kapitän«, sagte der Schah.

Auf einmal bemerkte er ein winziges, weißes Wölkchen am Rande des Horizonts. Die Wahrheit zu sagen: Es war kaum ein Wölkchen, es war ein Schleierchen, eigentlich nur der Hauch von einem Wölkchen. Auch der Kapitän hatte es im gleichen Augenblick erspäht – und schon hoffte er, ein Wunder sei ihm zu Hilfe gekommen und er und seine Lüge und seine verlogenen, umgelogenen Instrumente würden in den Augen des Herrn aller Gläubigen plötzlich gerechtfertigt sein.

Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn: so winzig und hauchdünn das Wölkchen auch war, so verstärkte es doch den Zorn des Schahs. Er hatte sich schon so daran gefreut, dass er Großwesir und Kapitän auf einer niederträchtigen Lüge ertappt hatte – – und jetzt kam die Natur selbst – – gebar ein Wölkchen (und wie leicht konnten [11] richtige Wolken daraus werden!) und gab am Ende noch den lügenden Instrumenten recht! Mit grimmer Aufmerksamkeit beobachtete der Schah die unaufhörlich wechselnden Formen des Wölkleins. Bald lockerte es sich. Der Wind zerfranste es ein bisschen. Dann aber ballte es sich noch fester als vorher zusammen. Nun sah es aus wie ein Schleier, in einen Knäuel verdichtet. Dann dehnte es sich in die Länge. Dann schließlich wurde es dunkler und fester. Der Kapitän stand immer noch hinter dem Rücken des Schahs. Auch er betrachtete die wechselnden Formen der kleinen Wolke, aber keineswegs grimmig, sondern mit tröstlichem Herzen. Ach, aber: wie trog ihn sein Sinn! Jäh und wütend wandte sich der Schah um, und sein Angesicht erschien dem Kapitän wie eine Art gefährlicher, violetter Hagelwolke. »Ihr täuscht euch alle«, begann der...