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Tarabas - Ein Gast auf dieser Erde

Joseph Roth

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602845 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

 

 

 

[135] XVI

Nun war Tarabas allein mit dem toten Konzew. Man hatte das Angesicht des Feldwebels gewaschen, die Uniform von den Blut- und Kotspuren gereinigt, die hohen Stiefel gewichst, den mächtigen Schnurrbart gebürstet. Säbel und Pistole lagen neben ihm, zur Rechten und zur Linken, die kräftigen, behaarten Hände mit den großen, rissigen Nägeln waren über dem Bauch gefaltet. Der milde Schimmer des ewigen Friedens schwebte über dem scharfen, soldatischen Angesicht. Das Angesicht des Obersten Tarabas aber zeigte Zerfahrenheit, Unrast und Bitterkeit. Er wünschte sich, weinen zu können, toben zu dürfen. Er konnte nicht weinen, der Oberst Tarabas. Er sah graue Haare an den Schläfen des Feldwebels und fuhr mit der Hand über die Schläfen und zog sie sofort zurück, erschrocken über seine eigene Zärtlichkeit. Er dachte an die Weissagung der Zigeunerin. Noch kündigte nichts seine Heiligkeit an! Törichte Worte, längst begraben unter dem Gewicht der Schrecknisse, ertrunken im Blut, das man vergossen hatte, versunken wie die Jahre in New York, der Wirt, das Mädchen Katharina, die Cousine Maria, Vater, Mutter und Haus! Tarabas gab sich Mühe, die Bilder, die vor ihm auftauchten, Erinnerungen zu nennen und sie also ihrer Macht zu berauben. Er wollte den Gedanken, die ihn peinigten, jene [136] gewichtlosen Bezeichnungen geben, die sie zu unbedeutenden und ungefährlichen Schatten der Vergangenheit stempeln, die ebenso schnell verfliegen, wie sie auftauchen. Er versuchte, sich in die Verbitterung über den Tod Konzews, seines besten Mannes, zu retten und sein Gelüst nach Rache für diesen Toten noch zu steigern. Er hasste nun diese Juden, diese Bauern und dieses Koropta, dieses Regiment, dieses ganze neue Vaterland, diesen Frieden und diese Revolution, die es geboren und gebildet hatten. Ach, er wollte – wie rasch fasste Tarabas seine Entschlüsse! – Ordnung machen, dann sein Amt niederlegen, dem kleinen General Lakubeit ein paar grobe Wahrheiten sagen und auf und davon gehn! Auf und davon! Wohin aber, gewaltiger Tarabas?! Gab’s noch Amerika? Gab es noch das väterliche Heim? Wo war man zu Hause? Gab es noch irgendwo Krieg in der Welt?!

Aus diesen Überlegungen – es waren, wie man sieht, verworrene Ketten von Einfällen – riss Tarabas die Stimme der Ordonnanz, die durch die geschlossene Tür meldete, der Anruf des Generals Lakubeit werde in zwanzig Minuten erfolgen, der Oberst möge zur Post gehen. Tarabas fluchte auf die primitiven und umständlichen postalischen Verhältnisse – auch eine der üblen Folgen neuer und überflüssig gegründeter Staaten.

Er befahl Kerzen, für den Toten eine Ehrenwache und den Priester und ging ins Postamt. Er befahl dem einzigen Beamten, der seinen Dienst verrichtete, das Amt zu verlassen, man habe »Staatsgeschäfte« zu führen. Der Beamte ging hinaus. Es klingelte, und der Oberst Tarabas nahm selbst den Hörer ab. »General Lakubeit!« Tarabas wollte einen kurzen Bericht erstatten. Aber die sanfte, klare Stimme des [137] kleinen Generals, die wie aus dem Jenseits herüberkam, sagte: »Nicht unterbrechen!« Hierauf gab sie in kurzen Sätzen Anweisungen: den Befehl, das Regiment in Bereitschaft zu halten; übermorgen erst könnten Teile des Regiments aus der entfernten Garnison Ladka nach Koropta beordert werden; man müsse mit neuen Unruhen rechnen; alle Bauern der Umgebung sammelten sich, das Wunder zu sehen; man müsse den Ortspfarrer bitten, die Leute zu beruhigen; alle Juden seien in den Häusern zurückzuhalten – »soweit solche noch vorhanden«, sagte der General wörtlich, und der Oberst Tarabas hörte Hohn und Tadel in dieser Bemerkung. »Das ist alles!«, schloss der General, und: »Warten Sie!«, rief er noch. Tarabas wartete. »Wiederholen Sie kurz!«, befahl Lakubeit. Tarabas erstarrte vor Schreck und Wut. Er wiederholte gehorsam. »Schluss!«, sagte Lakubeit.

Geschlagen, ohnmächtig und voller Zorn, vernichtet von der schwachen, fernen Stimme eines schwächlichen, alten Mannes, der kein Soldat, sondern »nur ein Advokat« war, verließ der gewaltige Tarabas das Postamt. Fast wunderte er sich über den Gruß des Postbeamten, der vor dem Eingang gewartet hatte. Kräftig von Ansehn, aber in Wirklichkeit schwach und ohne seinen alten Stolz, ging der große Tarabas durch die Trümmer des Städtchens Koropta. Es rauchte und schwelte immer noch zu beiden Seiten der Straße. Und Tarabas nahm sich trotz seiner wirklichen muskulösen und fleischlichen Erscheinung nur wie ein gewaltiges Gespenst aus, zwischen dem Schutt, der Asche, den wahllos vor den Häusern aufgereihten, nutzlos geretteten, verlassenen Gegenständen.

Er ging, ohne Soldaten und Offiziere anzusehn, in den [138] Gasthof zurück. Überrascht blieb er in der Gaststube stehn. Hinter dem Schanktisch verneigte sich, als wäre nichts geschehen, der Jude Kristianpoller. Als wäre nichts geschehen, spülte der Knecht Fedja die Gläser.

Beim Anblick des Juden, der so unversehrt und unbekümmert sein gewöhnliches Geschäft fortsetzte, als wäre er plötzlich wieder aus einer Wolke hervorgetreten, die ihn bis jetzt unsichtbar gemacht und geschützt hatte, tauchte auch im Obersten Tarabas der Verdacht auf, dass es Juden gebe, die zaubern können, und dass dieser Wirt tatsächlich für die Schändung des Muttergottesbildes verantwortlich sei. Die ganze große Mauer, die unüberwindliche Mauer aus blankem Eis und geschliffenem Hass, aus Misstrauen und Fremdheit, die heute noch, wie vor Tausenden Jahren, zwischen Christen und Juden steht, als wäre sie von Gott selbst aufgerichtet, erhob sich vor Tarabas’ Augen. Sichtbar hinter diesem blanken, durchsichtigen Eis stand nun Kristianpoller, nicht mehr das gefahrlose Subjekt von einem Händler und Gastwirt, nicht mehr nur der nichtswürdige, aber ungefährliche Angehörige einer geringgeschätzten Schicht, sondern eine fremde, unverständliche und geheimnisvolle Persönlichkeit, ausgerüstet mit höllischen Mitteln zum Kampf gegen Menschen, Heilige, Himmel und Gott. Auch aus den unergründlichen Tiefen des Tarabas’schen Gemüts stieg, wie gestern aus dem ahnungslos frommen der Bauern und Soldaten, ein blinder und brünstiger Hass gegen den unversehrten, gleichsam gegen den ewig aus allen Gefahren unversehrt hervorgehenden Juden, der diesmal zufällig den Namen Nathan Kristianpoller trug. Ein anderes Mal hieß er anders. Ein drittes Mal würde er wieder einen neuen [139] Namen führen. Oben in Tarabas’ Zimmer lag der gute, teure Konzew aufgebahrt, tot, für alle Ewigkeit tot, und für diesen unverletzlichen, teuflischen Kristianpoller gestorben. Ganze hunderttausend Juden hätte Tarabas für einen Stiefel des toten Feldwebels Konzew geopfert! Tarabas antwortete nicht auf den ehrfürchtigen Gruß Kristianpollers. Er setzte sich. Er bestellte nicht einmal Tee oder Schnaps. Er wusste, dass der Wirt ohnehin bald mit den Getränken kommen würde.

Und Kristianpoller kam auch. Er kam mit einem Glas heißem, dampfendem, goldenem Tee. Er wusste, dass Tarabas jetzt nicht in der Laune war, Alkohol zu genießen. Tee besänftigt. Tee klärt die Verworrenen, und Klarheit ist den Vernünftigen nicht gefährlich. Er hat den Tee in der Hölle gekocht, fuhr es durch Tarabas’ Gehirn. Woher weiß er, wonach mich dürstet? Als ich eintrat, hatte ich beschlossen, einen Tee zu verlangen. – Und da Kristianpoller Tarabas’ Wunsch erraten hatte, fühlte sich der Oberst geschmeichelt, seinem eigenen Misstrauen zum Trotz. Er konnte sich einer gewissen Bewunderung für den Juden nicht erwehren. Er war auch neugierig zu erfahren, auf welche Weise Kristianpoller vermocht hatte, sich zu verbergen und frisch wie gewöhnlich wieder zu erscheinen. Und er begann mit einem Verhör:

»Weißt du, was hier los ist?«

»Jawohl, Euer Hochwohlgeboren!«

»Du bist schuld daran, dass man deine Glaubensgenossen geschlagen und gepeinigt hat; einige meiner Leute sind gefallen; mein lieber Konzew ist gestorben; deinetwegen! Ich werde dich aufhängen, mein Lieber! Du bist ein Aufrührer; [140] ein Kirchenschänder; du sabotierst das neue Vaterland, auf das wir seit Jahrhunderten gewartet haben. Was sagst du dazu?«

»Euer Hochwohlgeboren«, sagte Kristianpoller, und er erhob sich aus seiner gebeugten Stellung und sah dem Fürchterlichen mit seinem einen gesunden Auge gerade ins Gesicht, »ich bin kein Aufrührer; ich habe kein Heiligtum geschändet; ich liebe dieses Land so viel und so wenig wie jeder andere auch. Euer Hochwohlgeboren gestatten mir eine allgemeine Bemerkung?«

»Sprich!«, sagte Tarabas.

»Euer Hochwohlgeboren«, sagte Kristianpoller und verneigte sich noch einmal, »ich bin nur ein Jude!«

»Das ist es eben!«, sagte Tarabas.

»Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte Kristianpoller, »erlauben mir gnädigst, sagen zu dürfen, dass ich ohne meinen Willen ein Jude geworden bin.«

Tarabas schwieg. Es war nicht mehr der fürchterliche Oberst Tarabas, der da schwieg und zu überlegen begann. Es war der längst totgeglaubte, der junge Tarabas, einst ein Revolutionär, Mitglied einer geheimen Bande, die später den Gouverneur von Cherson umgebracht, der Student Tarabas, der tausend nächtliche Diskussionen angehört hatte, der weiche und leidenschaftliche Tarabas, der rebellische Sohn eines steinernen Vaters, ausgestattet mit der Gabe, zu denken und zu überlegen, aber auch der ewig unfertige Tarabas, dem die Sinne den Kopf verwirrten, der sich den Ereignissen auslieferte, wie sie gerade kamen: dem Totschlag, der Liebe, der Eifersucht, dem Aberglauben, dem Krieg, der Grausamkeit, dem Trunk, der Verzweiflung. Tarabas’...