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Die Hochzeit von Auschwitz - Eine Begebenheit

Erich Hackl

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602401 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[7] 1

Das Gewitter

Heute nacht werde ich von Rudi Friemel träumen. Er wird ein weißes Gesicht haben, wie aus Wachs, und weit aufgerissene Augen, als sei er zu Tode erschrocken. Er wird eine dünne gestreifte Häftlingshose tragen, die seine Frostbeulen verbirgt, und ein weißes Hemd, das mit Rosen bestickt ist. Ein Geschenk, von wem? Er wird lächeln, wie er immer gelächelt hat. Ich werde das Grübchen an seinem Kinn sehen. Er wird sagen: Alle haben mich vergessen, die Frauen, die Freunde, die Genossen.

Blödsinn, werde ich sagen.

Ach Marina, kleine forsche Schwägerin. Kennst du mich noch, wird Rudi antworten.

Er war ein lieber Junge. Automechaniker, Motorradnarr. Ein überzeugter Sozialist. Ein bißchen verrückt. Ein Draufgänger, verwegen, abenteuerlustig. Im Februar vierunddreißig soll er sich in Wien tapfer geschlagen haben. Er ist dann nach Brünn geflohen. Später hat er bei uns in Spanien gekämpft. Was wohl aus ihm geworden wäre?

Seltsam, daß ich gerade von ihm träumen werde. Nach so vielen Jahren. Von Toten zu träumen bedeutet nichts Schlechtes. Aber wieso ist er mir nicht früher erschienen?

Soll ich seine Geschichte erzählen? Willst du sie hören? Ich warne dich: Da sind nur Bruchstücke seines Lebens, und in meinem Kopf ergeben sie kein klares Bild. Die Jahre [8] vergehen wie im Flug, und wenn man Rückschau hält, ist es zu spät, Einbildung und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Besser, du fragst andere nach ihm. Obwohl, viel werden sie dir auch nicht sagen können. Lebt überhaupt noch einer von denen, die ihn gekannt haben? Es sind so viele umgekommen. Und die nicht umgekommen sind, sind im Bett gestorben, wie es sich für Menschen gehört. Und die weder umgekommen noch im Bett gestorben sind, können sich nicht erinnern, weil sie sich nicht erinnern wollen. Aber auch unter denen, die sich nicht erinnern wollen, wirst du keinen mehr finden, der ihn gekannt hat.

Friemel. Friemel Edeltrude. Trude. Ich bin mit keinem Rudolf Friemel verwandt. Aber hier im Haus, auf Stiege 7, wohnt einer, der so heißt. Wie alt mag er sein, zweiunddreißig, fünfunddreißig? Eher zweiunddreißig, und sein Vater geht auf die Sechzig zu. Soviel ich weiß, haben sie kein Telefon.

– In unserer Verwandtschaft gibt es keinen Rudolf. Schon seit hundertfünfzig Jahren nicht. Achtundzwanzig Friemel, und kein einziger Rudolf. Ich betreibe Ahnenforschung, deshalb. Mich würde interessieren, ob er in Wien geboren ist. Alle meine Friemel stammen nämlich aus Schlesien.

– Friemel, Maria. Hat ihren Anschluß per 30. Juni abgemeldet.

– Nein, Therese. Therese Friemel. Ein Rudolf Friemel ist mir nicht bekannt. Ich kann ja nicht jeden Friemel kennen. Haben Sie es schon in Graz versucht? Dort soll noch eine Familie Friemel wohnen.

[9] – Friemel oder Frieml. Oder mit kurzem i, Frimmel. Spanien, Frankreich, Polen? Hören Sie, ich bin kein Reisebüro.

– Ich kann mich dunkel an einen Friemel erinnern. Nicht, daß ich ihm persönlich begegnet wäre. Aber sein Name ist mehrmals gefallen, bei konspirativen Zusammenkünften mit Jugendführern der Revolutionären Sozialisten. Wir haben uns auf der Straße getroffen, um gemeinsame Kampagnen abzusprechen, eine illegale Kundgebung zum Ersten Mai oder eine Streuzettelaktion am Jahrestag des Februaraufstandes. In diesem Zusammenhang ist der Name Friemel immer wieder aufgetaucht. Man hat gewußt, der existiert. Der treibt sich irgendwo in Favoriten herum. Vor sechsundsechzig Jahren.

– Ein Griff, und ich hab ihn. Freytag, Friedmann, Friedrich, Friemel. In der Archivbox ist alles enthalten, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte. In Spanien war er bei der Transmission, Kabel verlegen für die Nachrichtenverbindungen. Strippenträger hat das geheißen. Kennengelernt habe ich ihn aber erst in Frankreich, im Lager. Er ist mir nie unangenehm aufgefallen. Im Gegenteil, er war ein patenter Kerl, und dazu noch ein fescher Bursch.

– Ein Frauenheld, würde ich sagen. An jedem Finger eine. Ich weiß nicht, was sie an ihm gefunden haben. Vielleicht war es seine Entschlossenheit, der Mut gepaart mit Unschuld, die Hingabe für eine Sache, die er als richtig erkannt hat. Oder sie haben auf seiner Stirn oder zwischen seinen Augen ein Zeichen eingebrannt gesehen, das uns Männern entgangen ist. Jedenfalls haben sie ihn umschwärmt wie die Motten das Licht.

[10] – Der Name ist für mich noch heute ein rotes Tuch. Friemel hat mich schlaflose Nächte gekostet. Stundenlang habe ich seine Wohnung beschattet, die Wohnung seines Vaters und die Wohnung seiner Schwester, die mit einem gewissen Korvas verheiratet war, auch so ein radikales Element. Nichts. Am nächsten Tag habe ich erfahren, er ist da und dort gesehen worden. Also war er doch in der Wohnung! Er hat mit mir Katz und Maus gespielt. Aber früher oder später geht jeder in die Falle. Der Arm des Gesetzes ist lang.

– Er war mein Vater. Ich habe ihn kaum gekannt. Die wenigen Erinnerungen sind verblaßt. Aber irgendwo muß noch eine Schuhschachtel herumstehen, die ist von meinem Großvater auf mich übergegangen. Darin sind Briefe und Fotos. Nicht viele, nach dem, was ich in der Eile sehen konnte. Die zweite Frau meines Großvaters war gestorben, die Wohnung mußte geräumt werden, die Hausverwaltung hat gedrängt. Ehrlich gesagt, ich habe mich bis heute nicht durchringen können, die Schachtel zu öffnen.

Heute werde ich auch von meiner Schwester träumen. Jahrelang träume ich nicht, oder mir träumt nur dummes Zeug, das ich beim Aufwachen bereits vergessen habe. Aber meistens komme ich gar nicht zum Träumen, weil der Mann neben mir Nacht für Nacht schnattert. Im Schlaf schwingt er gewaltige Reden. Fernando, sage ich dann, wirst du wohl still sein! Wenn endlich Ruhe ist, kriege ich mit Sicherheit einen Stoß in die Rippen, Marina, du schnarchst, sagt Fernando und wälzt sich auf die andere Seite, aber ich liege wach und kann bis zum Morgen nicht einschlafen. Und [11] jetzt will ich, daß folgendes geschieht: kein Gequatsche und kein Rippenstoß in zwei aufeinanderfolgenden Nächten, und in der einen Nacht zeigt sich Rudi, in der anderen Margarita. Ich glaube, sie wird mir im Traum erscheinen, weil sie eifersüchtig ist. Ich doch nicht, du bist eifersüchtig, wird sie sagen. Red keinen Unsinn, werde ich antworten.

Arme Marga.

Die Geburtsurkunde, ausgestellt von der Pfarre zur Heiligen Familie in Neu-Ottakring. Demnach ist er am 11. Mai 1907 in Wien, Habichergasse 9, geboren und tags darauf auf den Namen Rudolf Adolf getauft worden. Vater, steht da: Clemens Friemel, römisch-katholisch, Zimmerputzer, geboren am 21. 12. 1881 in Prag. Mutter: Stefanie, geborene Spitzer, römisch-katholisch, Dienstmädchen, geboren am 20. 12. 1882 in Wien.

Sein Abgangszeugnis, ausgestellt von der dreiklassigen fachlichen Fortbildungsschule für Mechaniker in Wien VI., Mollardgasse 87.

Das Zeugnis, wonach er die Gesellenprüfung am 4. Juli 1925 mit gutem Erfolg bestanden hat.

Sein Zulassungsschein zum Lenken von Kraftwagen mit Explosionsmotor und von mehrspurigen Motorrädern.

Zeugnisse der Firmen Steyrermühl, Vereins-Molkerei, OEWA, Neues Wiener Tagblatt und Productiv-Gesellschaft der Wiener Fleischselcher. Ihnen zufolge hat er alle Arbeiten gewissenhaft erfüllt, muß aber in Anbetracht der schlechten Auftragslage leider entlassen werden.

Die Fotos. Als erstes ein Mädchen im Sommerkleid, mit [12] Armreifen und Stirnband. Meine Tante. Sie hat dunkle Augen. Lächelt sie? Eher nicht. In ihrem Schoß liegen Blütenzweige. Forsythien oder Rittersporn. Viel kann ich nicht erkennen. Das Foto ist etwas unterbelichtet. Auf der Rückseite steht: »Deine Schwester Steferl. 17/XI.1923. 1. Schönheitspreis.«

Dann drei Bilder meines Vaters, aufgenommen in einem Fotoatelier. Ich finde schon, daß ich ihm ähnlich sehe. Abgesehen davon, daß ich größer und stämmiger bin und viel älter, als er damals war; auch abgesehen davon, daß ich das runde Kinn meiner Mutter habe – die hohe Stirn, der dichte Haaransatz, die gewellten Haare sind von ihm. Nur sein Blick ist anders. Nicht arrogant, aber irgendwie herausfordernd, trotzig, renitent. Ein kräftiger junger Mann in Anzug und Krawatte, einmal sitzt er, einmal steht er, einmal ist er barhäuptig, einmal trägt er Hut und Spazierstock. Im Mai 1927 war das, an seinem zwanzigsten Geburtstag. Ich weiß nicht, was mich an den Fotos stört. Ist es die elegante Kleidung oder die künstliche Beleuchtung oder die orientalische Kulisse? Die Art, wie er gleichsam erstarrt, oder die Gewißheit, daß ich ihn nie einholen werde. Auf dem dritten Foto trägt er eine Strickjacke. Da gefällt er mir besser, auch wenn er ein ernstes Gesicht macht. Er wirkt nicht so abweisend. Er könnte mich annehmen, so wie ich bin.

Meine Mutter. Schnappschuß. Sie schaut ziemlich erschöpft aus. In ihrer Jugend ist sie schon lustig gewesen. Sie hat gern gelacht, ist viel ausgegangen, hat auch in einem Mandolinenorchester gespielt. Nachher ist ihr das Lachen eher vergangen.

Zehn oder zwölf Gedichte, teils handgeschrieben, teils [13] auf Maschine getippt. Ich wußte nicht, daß er auch gedichtet hat. Sonst lese ich keine Gedichte. Aber die da gefallen mir. Sie sind gereimt und humorvoll. Nicht alle, es gibt auch ernste. Eins über die Vergänglichkeit der Jahreszeiten, eins über ein armes Waisenkind, das als Hure endet, eins über eine ferne Geliebte, zwei über die Sehnsucht nach mir: »Mein Söhnchen«, »An Norbert!«. Die hat er offenbar in der Emigration geschrieben. Also...