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Der Weg nach Wigan Pier

George Orwell

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602517 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

 

 

 

[7] I

Das erste, was man am Morgen hörte, war das Klappern der Holzschuhe von Fabrikarbeiterinnen auf dem Kopfsteinpflaster. Noch früher gingen vermutlich die Fabriksirenen, aber dann war ich noch nicht wach.

Normalerweise waren wir zu viert im Schlafzimmer; das war ein scheußlicher Ort, mit dem schmutzigen und provisorischen Aussehen von Zimmern, die nicht zu ihrem eigentlichen Zweck gebraucht werden. Vor Jahren war das Haus ein gewöhnliches Wohnhaus gewesen, und als die Brookers es übernommen und zu einem Kuttelngeschäft und einer Pension umgebaut hatten, hatten sie einige der nutzloseren Möbelstücke geerbt und nie die Energie aufgebracht, sie wegzuschaffen. Wir schliefen deshalb in einem Raum, dem man das ehemalige Wohnzimmer noch ansah. Von der Decke hing ein Glasleuchter, auf dem der Staub so dicht lag, daß er wie ein Pelz aussah. Eine Wand wurde fast vollständig verdeckt von einem riesigen, gräßlichen Unding zwischen Garderobe und Büffet, mit einer Menge Schnitzereien, kleinen Schubladen und Streifen von Spiegelglas. Daneben gab es einen einstmals prunkvollen Teppich mit den Spüleimerringen vieler Jahre, zwei piekfeine Stühle mit geplatzten Sitzen und einen dieser altmodischen roßhaargepolsterten Sessel, von denen man herunterrutscht, sobald man sich hinzusetzen versucht. Zwischen dieses Gerümpel hatte man noch vier schäbige Betten gequetscht, und so war der Raum zu einem Schlafzimmer geworden.

Mein Bett stand in der rechten Ecke auf der Türseite. An seinem Fußende war ein weiteres Bett hineingezwängt (es mußte so stehen, damit man die Tür öffnen konnte), so daß ich mit [8] angezogenen Beinen schlafen mußte; wenn ich sie ausstreckte, trat ich dem im andern Bett ins Kreuz. Es war ein älterer Mann namens Mr. Reilly, so etwas wie ein Mechaniker, der »obendrin« bei einer der Kohlegruben angestellt war. Glücklicherweise mußte er morgens um fünf zur Arbeit, so daß ich, nachdem er fort war, meine Beine auseinanderwickeln und ein paar Stunden richtig schlafen konnte. Im Bett gegenüber war ein schottischer Bergmann, der bei einem Grubenunglück verletzt worden war (ein riesiger Steinbrocken preßte ihn auf den Boden, und es dauerte mehrere Stunden, bis der Stein weggehoben werden konnte) und dafür fünfhundert Pfund Abfindung erhalten hatte. Er war ein großer, stattlicher Mann um die vierzig, mit ergrautem Haar und einem kurzgeschnittenen Schnurrbart, eher ein Offizier als ein Bergmann; und er blieb, eine kurze Pfeife rauchend, bis spät am Tag im Bett liegen. Das vierte Bett wurde in rascher Folge von Handlungsreisenden, Zeitungsabonnentenfängern und Anreißern für Abzahlungsgeschäfte, die meist nur ein paar Nächte blieben, belegt. Es war ein Doppelbett und bei weitem das beste im Zimmer. Während meiner ersten Nacht hier hatte ich selber darin geschlafen, war dann aber hinausmanövriert worden, um einem andern Mieter Platz zu machen. Ich glaube, daß in dem Doppelbett, das sozusagen als Köder ausgelegt war, alle Neuankömmlinge ihre erste Nacht verbrachten. Alle Fenster waren mit einem roten, am unteren Ende festgeklemmten Sandsack fest verschlossen, und am Morgen stank das Zimmer wie ein Frettchenstall. Beim Aufstehen merkte man es nicht; aber wenn man aus dem Zimmer ging und dann zurückkam, schlug einem der Gestank mit voller Wucht entgegen.

Ich fand nie heraus, wie viele Schlafzimmer das Haus hatte, aber seltsamerweise gab es ein Badezimmer, das noch aus der Zeit vor den Brookers herrührte. Im unteren Stockwerk war die übliche Wohnküche mit ihrem riesigen offenen Kochherd, in dem Tag und Nacht Feuer brannte. Sie war nur durch ein Oberlicht erhellt, denn auf der einen Seite der Küche war der [9] Laden und auf der anderen die Speisekammer, die zu einem dunklen Kellerraum führte, wo die Kutteln gelagert wurden. Einen Teil der Tür zur Speisekammer versperrte ein unförmiges Sofa, auf dem Mrs. Brooker, unsere Vermieterin, ständig kranklag, eingewickelt in schmutzige Decken. Sie hatte ein großes, bleichgelbes, ängstliches Gesicht. Niemand wußte ganz sicher, was mit ihr los war; ich vermute, daß ihre einzigen wirklichen Beschwerden vom zu vielen Essen kamen. Vor dem Herd hing fast immer eine Leine mit feuchter Wäsche, und in der Mitte des Zimmers stand der große Küchentisch, an dem die Familie und alle Hausbewohner aßen. Ich habe diesen Tisch nie völlig unbedeckt gesehen, aber ich sah das, was ihn bedeckte, zu verschiedenen Zeiten. Zuunterst lag eine Schicht alten Zeitungspapiers, mit Worcestersauce getränkt, darüber eine Lage klebriges weißes Wachstuch, über diesem ein grüner Serge-Stoff und zuoberst ein grobes Leintuch, das niemals gewechselt und selten weggenommen wurde. Gewöhnlich lagen die Krümel vom Frühstück beim Abendessen noch auf dem Tisch. Einzelne Krümel konnte ich wiedererkennen, wenn sie von Tag zu Tag den Tisch hinauf- und hinunterwanderten.

Der Laden war ein enger, kalter Raum. Außen am Fenster klebten ein paar weiße Buchstaben, Überreste einer alten Schokoladenreklame, verstreut wie Sterne. Innen war eine Steinplatte, auf der in großen weißen Falten die Kutteln lagen, daneben die graue flockige, als »schwarze Kutteln« bekannte Masse, sowie die geisterhaft durchscheinenden abgekochten Schweinsfüße. Es war ein gewöhnlicher »Kutteln und Erbsen«-Laden, und außer Brot, Zigaretten und Dosenkram war kaum etwas am Lager. Im Schaufenster wurde für »Diverse Teesorten« Reklame gemacht, aber wenn ein Kunde eine Tasse Tee verlangte, wurde er gewöhnlich mit Entschuldigungen abgefertigt. Mr. Brooker hatte zwar seit zwei Jahren keine Arbeit mehr, war aber von Beruf Bergmann; seine Frau und er hatten jedoch ihr ganzes Leben als Nebenerwerb verschiedene Geschäfte betrieben. Einmal hatten sie eine Kneipe gehabt, aber sie verloren ihre Lizenz, [10] weil sie Glücksspiele zugelassen hatten. Ich bezweifle, daß eines ihrer Geschäfte je Gewinn gebracht hat; sie gehörten zu der Art von Leuten, die ein Geschäft vor allem betreiben, um etwas zu haben, worüber sie schimpfen können. Mr. Brooker war ein dunkler, kleingebauter, saurer, irisch aussehender Mann, und erstaunlich schmutzig. Ich glaube nicht, daß ich ihn je mit sauberen Händen gesehen habe. Weil Mrs. Brooker nun ständig krank war, machte er meist das Essen, und wie alle Leute mit ständig schmutzigen Händen hatte er eine besonders vertrauliche und schleppende Art, mit Dingen umzugehen. Wenn er einem eine Scheibe Butterbrot gab, war immer ein schwarzer Daumenabdruck drauf. Sogar am frühen Morgen, wenn er in die geheimnisvolle Grube hinter Mrs. Brookers Sofa hinabstieg und die Kutteln herausfischte, waren seine Hände schwarz. Von den andern Hausbewohnern hörte ich fürchterliche Geschichten über den Ort, an dem die Kutteln aufbewahrt wurden. Küchenschaben gäbe es dort in Mengen. Ich weiß nicht, wie oft frische Lieferungen von Kutteln bestellt wurden, aber es geschah in langen Abständen, denn Mr. Brooker pflegte Ereignisse danach zu datieren. »Lassen Sie mich mal überlegen, ich hatte drei Lieferungen Gefrorenes (gefrorene Kutteln), seit das passiert ist« etc. Wir Hausbewohner bekamen nie Kutteln zu essen. Damals dachte ich, sie seien zu teuer; heute meine ich eher, daß wir einfach zuviel über sie wußten. Ich bemerkte auch, daß die Brookers selber nie Kutteln aßen.

Die einzigen Dauermieter waren der schottische Bergmann, zwei Rentner und ein Arbeitsloser, der vom P.A.C. [Public Assistance Committee, Komitee für öffentliche Fürsorge] lebte. Er hieß Joe und gehörte zu der Art Leute, die keinen Nachnamen haben. Der schottische Bergmann war, wenn man ihn erst einmal kannte, recht langweilig. Wie so viele Arbeitslose verbrachte er zuviel Zeit mit Zeitunglesen, und wenn man ihn nicht abklemmte, hielt er stundenlang Vorträge über die »Gelbe Gefahr«, Morde mit Verstümmelungen, Astrologie und den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft und ähnliches. Die Rentner [11] waren, wie üblich, durch den Means Test* [* Means Test: Behördliche Einkommensermittlung, die darüber entschied, ob man nach Ablauf der Zeit, während der man Arbeitslosenunterstützung bezogen hat, von der Wohlfahrt unterstützt wird oder nicht. Die Rentner haben früher vermutlich bei ihren Kindern gewohnt. Dort konnten sie nicht bleiben, weil sie nach dem Means Test als Untermieter galten und dadurch die Unterstützung der (ebenfalls arbeitslosen) Kinder gefährdeten.] aus ihren Behausungen vertrieben worden. Sie zahlten den Brookers zehn Shilling pro Woche und bekamen dafür an Annehmlichkeiten, was man für zehn Shilling erwarten kann: also ein Bett im Dachstock und Mahlzeiten, die hauptsächlich aus Butterbroten bestanden. Einer von ihnen war »etwas Besseres« und starb an einer bösartigen Krankheit dahin, vermutlich an Krebs. Er stieg nur noch an den Tagen aus dem Bett, an denen er seine Rente abholen ging. Der andere, den jedermann »Old Jack« nannte, war ein achtundsiebzigjähriger ehemaliger Bergmann, der weit über fünfzig Jahre in den Gruben gearbeitet hatte. Er war beweglich und intelligent, aber seltsamerweise schien er sich nur an die Erfahrungen seiner Knabenzeit erinnern zu können und alles über die neuen Maschinen und Verbesserungen in den Minen vergessen zu haben. Er erzählte mir oft Geschichten von Kämpfen mit wilden Pferden in engen unterirdischen Gängen. Als er hörte, daß ich Vorbereitungen träfe, in verschiedene Kohlengruben hinabzugehen, erklärte er mir geringschätzig, ein Mann von meiner Größe (sechs Fuß und zweieinhalb Zoll) würde das »Reisen« nicht schaffen; es war zwecklos,...