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Über Bord

Ingrid Noll

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601794 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] 1

Amalia war die Jüngste einer stattlichen Enkelschar. Sie staunte immer wieder über ihre Großmutter, die meistens schilfgrüne Kleider trug und kleinen Kindern wie eine weise Frau oder wie eine Hexe vorkommen musste. Wenn man mit noch feuchten Haaren ins Freie ging – da war sich die alte Frau sicher – bekam man eine schlimme Erkältung, ja Lungenentzündung. Sie selbst hingegen bosselte unaufhörlich im Garten herum, ignorierte den einsetzenden Regen und wurde patschnass, holte sich aber weder den Tod noch die gefürchtete Pneumonie.

Als Amalia vier Jahre alt war, sagte sie zu ihrer Großmutter: »Wenn du dich totgelebt hast, will ich deinen grünen Ring haben!«

Zwanzig Jahre später hatte es ihr der Ring aus Jade immer noch angetan. Leicht verlegen fragte sie die Oma, ob sie den Ring einmal anprobieren dürfe.

»Kind, dieser Ring ist ein Andenken. Den kriege ich nicht mehr runter, der ist längst eingewachsen.«

Und wenn sie tot ist, dachte Amalia schaudernd, [10] muss man ihr den Finger abhacken, um an den Ring zu kommen.

Es war verwunderlich, dass diese tüchtige Frau, die immerhin Abitur gemacht hatte, in manchen Dingen so rückständig, prüde und abergläubisch war. War sie senil, an Alzheimer erkrankt?

Unter vier Augen hatte die Großmutter auch ausdrücklich davor gewarnt, an gewissen Tagen zu baden oder unter die Dusche zu gehen.

»Und mich deucht, du hast es gestern wieder getan!«, sagte sie zornig. Wer der Oma solchen Quatsch beigebracht hatte und woher sie wusste, wann die Enkelin ihre Periode hatte, war unklar. Doch Amalia ahnte, dass sie scharf beobachtet wurde, seit sie einen Freund hatte.

›Nonnenhaus‹ hatten die Nachbarn die Villa Tunkel in Mörlenbach – ein großes, aber ziemlich heruntergekommenes Gebäude – getauft, weil die Bewohnerinnen ihre Seelen gegen weltliche Verlockungen verbarrikadiert zu haben schienen. Die Großmutter war verwitwet, ihre Tochter geschieden, und auch Amalia lebte mit 24 immer noch zu Hause.

Im Sommer zierten den schmiedeeisernen Gitterzaun des Nonnenhauses üppig wuchernde, samtig [11] blaue Winden, schwere dunkle Weintrauben, dazwischen hohe Sonnenblumen. Auf den ersten Blick wirkte das Arrangement rein zufällig, auf den zweiten erkannte man, dass hier eine Frau mit Geschmack waltete. Und wer gar länger stehen blieb und das Stillleben in Ruhe auf sich wirken ließ, wurde vom Zauber der grünen, blauen und dunkelgelben Schattierungen ein wenig verhext.

Im Frühjahr waren es die weißen Pfingstrosen, die schon seit Jahrzehnten hier besonders gut gediehen. In vielen Nachbargärten der Villa im Odenwald wuchs die Gemeine oder Bauernpfingstrose, die nicht minder üppig blühte, doch mit ihrem glutvollen Rot nicht ganz so edel wie ihre weiße Schwester wirkte. Prinzessin hier und Bauerntrampel dort – und nicht viel anders verhielt es sich bei den Enkelinnen: Clärchen mit ihrem porzellanzarten Teint hob sich gegen die rotbackige oder – je nach Saison – braungebrannte Amalia deutlich ab.

Die Villa war von Amalias Ururgroßeltern gebaut worden; auf einem Mauerstein über der Haustür waren noch die Jahreszahl 1902 und die Gründernamen eingemeißelt – Anna Elisabeth und Justus Willibald Tunkel. Das Ecktürmchen des Seitenflügels überragte die anderen Häuser der Straße, denn Anfang des letzten Jahrhunderts gab es noch keine [12] strenge Bauordnung. Die Fenster hatten ein Oberlicht und endeten in einem gefälligen Rundbogen. Früher war die Villa bewachsen gewesen, aber der wilde Wein war schon vor Jahrzehnten abgestorben. Leider hatte man jedoch nicht die Mittel, das dürre Skelett dicker und dünner Äste abreißen und die Mauern neu verputzen und streichen zu lassen.

Jahrelang hatten nur der Gasableser und der Schornsteinfeger das Haus betreten, Briefträger und Paketzusteller wurden bereits an der Tür abgefertigt. Doch nun drohte ein Eindringling: Amalia, das Nesthäkchen, wurde neuerdings immer mit demselben Mann gesehen, der durch seine beträchtliche Körpergröße auffiel.

»Hohes, hartes Friesengewächs«, kommentierte ihre Mutter, die viele Gedichte auswendig kannte.

Mit 24 Jahren wurde es auch langsam Zeit, dass Amalia ihr Singledasein aufgab.

Amalias Mutter Ellen hatte ihre jüngere Tochter nach einer Heldin aus Schillers Räubern benannt und deren ältere Schwester, die zum Studieren nach Köln gezogen war, nach dem Clärchen aus Goethes Egmont. Eigentlich hatte Ellen Schauspielerin werden wollen, aber Hildegard hatte das boykottiert oder Ellens Talent hatte nicht gereicht – da gingen die Ansichten auseinander. Nun war sie [13] Sachbearbeiterin beim Einwohnermeldeamt und langweilte sich dort zu Tode. Seit ihrer Scheidung hatte Ellen mit keinem Mann mehr geschlafen, obwohl sie hinter dem Rücken der Familie regelmäßig Kontaktanzeigen las, neuerdings auch im Internet.

Ellen war ihrem Exmann durch die Lottozahlen auf die Schliche gekommen. Als sie sich kennenlernten, waren beide arm und versuchten, durch das wöchentliche Glücksspiel ihre Finanzen aufzubessern. Die Zahlen waren immer die gleichen: ihre eigenen Geburtstage und die ihrer Mütter. Später wurden sie ausgetauscht gegen die der beiden Töchter. Die fünfte und sechste Zahl überließen sie dem Zufall.

Eines Tages bemerkte Ellen, dass ihr Mann seit einiger Zeit regelmäßig die Vierzehn eintrug. Sie verkniff sich eine Bemerkung, wartete ab und fragte erst nach mehreren Monaten nach der Bedeutung dieser Zahl. Er stotterte herum, es sei der Geburtstag seiner verstorbenen Großmutter, die er sehr geliebt habe. Vielleicht sehe sie von oben auf ihn herab, fühle sich geschmeichelt und helfe Fortuna auf die Sprünge.

Aberglaube passte nicht zu ihm. Ellen erkundigte sich irgendwann, als sie zufällig mit ihrer Schwiegermutter telefonierte, nach den Lebensdaten der ominösen Großmutter. Sie war bereits gestorben, [14] als Ellens Mann erst zwei war und hatte am 31. Dezember Geburtstag. Von da an begann sie ihren Mann zu bespitzeln und wurde bald fündig. Ihre eigene Nichte Nina hatte an einem Vierzehnten Geburtstag.

Ellen ließ sich scheiden, zog zu ihrer Mutter und traute eine Zeitlang keinem Mann mehr über den Weg. Die Typen im Angebot, über die sie sich vorsichtshalber nur anonym informierte, schienen entweder an Sex oder an Geld interessiert zu sein. Oft waren es auch 70-Jährige, verwitwet und vom Haushalt überfordert. Eine weitere Kategorie suchte eine Dame aus gutem Stall oder gar eine mit Kinderwunsch. Leider sah es so aus, dass eine Frau im Klimakterium – selbst wenn sie eine schlanke Nichtraucherin war – sich einen Mann erst backen musste.

Es war nicht so, dass sie sich in all den Jahren nie verliebt hätte. Bereits während ihrer Ehe hatte sie ein Auge auf einen Kollegen geworfen, später hatte sie sich in den Kinderarzt, einen Friedhofsgärtner und einen jungen Steuerberater verguckt, war aber im Nachhinein froh, dass es nicht zu Intimitäten gekommen war. Ellen wusste zumindest theoretisch, dass man die Männer schnell idealisierte, sowie sie einem ein zweites Mal intensiver in die Augen schauten. Wer sich für mich interessiert, kann eigentlich nur ein wunderbarer Mensch sein, hatte [15] sie geglaubt. Doch der attraktive Kollege hatte mit fast allen jüngeren Mitarbeiterinnen angebändelt und mit seinen Erfolgen geprahlt, der Kinderarzt entpuppte sich als pädophil, der Friedhofsgärtner als verheiratet, der Steuerberater als langweilig und konsumsüchtig. Irgendwann wunderte sich Ellen über sich selbst. Sie mochte den eigenen Instinkten nicht mehr trauen und betrieb das Studieren der Inserate nur zur Unterhaltung, so wie andere Frauen Sudokus und Kreuzworträtsel lösen, Puzzle zusammensetzen oder Patience legen.

In ihrer Jugend hatte sich Ellen für die deutschen Dichter und Denker der Romantik begeistert. Sie hatten Ellen mit ihrer blauen Blume einen Floh ins Ohr gesetzt. Mörike besang die Insel Orplid, Eichendorff ließ seinen Taugenichts gen Süden aufbrechen, wohin es auch Goethes Mignon zog. Meine Seele spannte weit ihre Flügel aus… So flog Ellen in Gedanken immer wieder nach Italien. Als sich aber in ihren Tagträumen ein charmanter Römer über sie hermachte, hatte sie das so mitgenommen, dass sie sich Buße auferlegte und tagelang die Küchenschränke, Truhen und Kommoden ausräumte, neu ordnete und putzte.

Bei ihrer Heirat hatte Ellens damaliger Mann Adam ihren Namen angenommen und den eigenen abgelegt, weil Szczepaniak schwierig zu [16] buchstabieren war. Daher hießen alle Frauen im Nonnenkloster Tunkel – Großmutter Hildegard, ihre Tochter Ellen sowie die beiden Enkelinnen Clärchen und Amalia.

Sowohl Ellen als auch ihre Tochter Amalia arbeiteten in einem acht Kilometer entfernten Städtchen und verließen das Nonnenkloster bereits am frühen Morgen. Ellen fuhr zum Amt und setzte Amalia unterwegs bei der gynäkologischen Praxis ab, wo ihre Tochter als Arzthelferin angestellt war.

»Heute holt mich Uwe ab«, sagte Amalia zum Abschied. Es war Mittwoch, und die Praxis blieb am Nachmittag geschlossen. »Wir wollen nach Mannheim zum Shoppen.«

Ellen seufzte bloß. Ihre Tochter steckte das gesamte Gehalt in ihre Garderobe, kein Gedanke daran, dass sie sich wenigstens am Benzin beteiligte oder einen kleinen Beitrag für Telefon, Heizung und Verpflegung beisteuerte.

»Wenn man den lieben langen Tag weiße Laborschuhe tragen muss«, versuchte Amalia ihre Mutter zu beschwichtigen, »dann braucht man privat etwas Schickes. Ich habe...