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Kein Alibi - Roman

Sandra Brown

 

Verlag Blanvalet, 2012

ISBN 9783641100353 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1


Er bemerkte sie im selben Moment, in dem sie den Pavillon betrat.

Selbst aus einer Menge Frauen, die fast ausschließlich knappe Sommerkleidung trugen, stach sie klar heraus. Überraschenderweise war sie allein.

Als sie innehielt, um sich zu orientieren, blieb ihr Blick kurz am Podium hängen, wo sich die Band abmühte, ehe sie zur Tanzfläche und anschließend zu der kunterbunten Ansammlung von Stühlen und Tischen ringsherum weiterwanderte. Nachdem sie einen freien Tisch entdeckt hatte, steuerte sie darauf zu und setzte sich.

Der Pavillon war ein Rundbau von ungefähr dreißig Metern Durchmesser. Obwohl es sich um eine offene Konstruktion mit konischem Dach handelte, von dessen Unterseite weiße Lichterketten baumelten, staute sich unter der schrägen Decke der Schall zu einer unerträglichen Lärmkulisse.

Ihren Mangel an musikalischem Talent machte die Band durch Lautstärke wett. Offensichtlich glaubten die Musiker, ihre verpatzten Noten hinter steigenden Dezibelwerten besser verstecken zu können. Trotzdem musste man ihnen derben Enthusiasmus und Mut zur Selbstdarstellung zugestehen. Gitarrist und Keyboarder schienen die Töne buchstäblich aus ihren Instrumenten zu dreschen. Der geflochtene Bart des Mundharmonikaspielers hüpfte bei jedem Ruck seines Kopfes. Während der Geiger mit dem Bogen über die Saiten sägte, tanzte er dazu so schwungvoll, dass man seine gelben Cowboystiefel sah. Der Schlagzeuger beherrschte offensichtlich nur einen einzigen Rhythmus, aber dem widmete er sich hingebungsvoll.

Anscheinend störte sich die Menge nicht an der Katzenmusik, genauso wenig wie Hammond Cross. Ironischerweise wirkte der Krach des Jahrmarkts irgendwie beruhigend. Er nahm den Lärm in sich auf: die Juchzer aus der Budengasse, die Pfiffe johlender Halbstarker oben im Riesenrad, das Geplärr müder Babys, scheppernde Glocken, Pfeifengejaule und Hörnerquäken – jeden Schrei, jedes Lachen, das zu einem Volksfest gehört.

Der Besuch eines Jahrmarkts hatte nicht in seinem Terminkalender gestanden. Obwohl dafür wahrscheinlich schon früh in der Lokalzeitung und im Fernsehen Werbung gemacht worden war, war es ihm nicht aufgefallen.

Er war ganz zufällig hierher geraten, auf dieses Gelände ungefähr eine halbe Stunde außerhalb von Charleston. Was ihn zum Anhalten getrieben hatte, war ihm schleierhaft, da er gewiss nicht zu denen gehörte, die begeistert Volksfeste besuchten. Seine Eltern hatten ihn garantiert nie auf eines mitgenommen. Derartige Volksbelustigungen hatten sie unter allen Umständen gemieden. Das war nicht ihre Welt, nicht ihresgleichen.

Auch Hammond hätte dieses Fest normalerweise gemieden, nicht weil er ein Snob war, sondern weil er wegen seiner langen Arbeitszeiten mit seiner Freizeit geizte und seinen Zeitvertreib sehr bewusst wählte: eine Runde Golf, ein paar Stunden Angeln, ein gemütliches Abendessen in einem guten Restaurant. Aber ein Jahrmarkt? So etwas gehörte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

Aber an diesem besonderen Nachmittag kamen ihm die Menschenmenge und der Lärm gerade recht. Allein hätte er nur über seinen Problemen gebrütet und sich in eine bedrückte Stimmung hineingesteigert. Wer brauchte schon so etwas an einem der wenigen Wochenenden, die noch vom Sommer übrig waren?

Auf der Autobahn hatte er gezwungenermaßen auf Kriechtempo abbremsen müssen und war dabei in eine Fahrzeugschlange geraten, die sich zentimeterweise auf einen Behelfsparkplatz zuschob. Eigentlich handelte es sich um eine Kuhweide, die ein geschäftstüchtiger Farmer in einen Parkplatz verwandelt hatte. Und so war auch er brav zwischen den anderen Autos, Vans und Geländewagen geblieben.

Er zahlte dem Tabak kauenden jungen Mann, der für den Farmer abkassierte, zwei Dollar und hatte das Glück, für sein Auto einen schattigen Platz unter einem Baum zu finden. Vor dem Aussteigen zog er Anzugjacke und Krawatte aus und rollte seine Hemdsärmel hoch. Während er sich vorsichtig einen Weg zwischen den Kuhfladen bahnte, hätte er liebend gerne Anzughose und Halbschuhe gegen Jeans und Stiefel eingetauscht. Aber auch so spürte er, wie sich seine Laune zusehends besserte. Hier kannte ihn niemand. Wenn er nicht wollte, musste er mit keinem reden. Hier war er zu nichts verpflichtet, musste an keinen Konferenzen teilnehmen oder irgendwelche Telefonanrufe beantworten. Hier draußen war er weder Geschäftsmann noch Kollege und schon gar nicht Sohn. Allmählich schwanden Anspannung, Ärger und die Last der Verantwortung. Das Gefühl von Freiheit wirkte berauschend.

Der Jahrmarktsplatz war mit einem Plastikseil abgeteilt, an dem bunte Wimpel reglos in der Hitze hingen. In der lastenden Schwüle duftete es verführerisch nach sämtlichen ungesunden Leckereien. Aus der Entfernung hörte sich die Musik nur halb so schlimm an. Sofort war Hammond froh, dass er angehalten hatte. Das brauchte er – diese Isolation.

Trotz der vielen Menschen, die sich durch das Drehkreuz zwängten, war er in einem höchst realen Sinne isoliert. Mit einem Mal schien es die bessere Wahl zu sein, in einer großen lärmenden Menschenmenge unterzugehen, als einen einsamen Abend in seinem Blockhaus zu verbringen, so wie er es ursprünglich geplant hatte.

Die Band hatte zwei Songs gespielt, seit die Frau mit den rotbraunen Haaren auf der ihm entgegengesetzten Pavillonseite Platz genommen hatte. Hammond hatte sie unaufhörlich beobachtet und seine Vermutungen angestellt. Höchstwahrscheinlich erwartete sie jemanden, vermutlich einen Ehemann mit einer Reihe Kinder. Sie wirkte ein wenig jünger als er, vielleicht Anfang dreißig. Genau das richtige Alter für ein Mitglied des Festausschusses, die Mutter eines Jungpfadfinders, eine Vertreterin des Elternbeirats. Eine jener Hausfrauen, deren einzige Sorge der Auffrischung von Diphtherie- und Tetanusimpfungen, Zahnspangen und dem strahlendsten Weiß und den buntesten Farben ihrer Wäsche galten. Obwohl seine gesammelten Kenntnisse dieses Frauentyps aus der Fernsehwerbung stammten, schien sie dem Durchschnittsbild zu entsprechen.

Mit einer Ausnahme: Sie war ein bisschen zu… zu… nervös. Sie wirkte nicht wie eine Mutter mit kleinen Kindern, die ein paar Minuten Atempause genoss, während Daddy mit den Kids eine Runde Karussell fuhr. Sie hatte nicht die kühl-kompetente Ausstrahlung der Frauen aus seinem Bekanntenkreis, der Mitglieder in Frauenverbänden und anderen wohltätigen Vereinen, die sich zum Lunch trafen und für ihre Kinder Geburtstagspartys und Dinner für die Geschäftsfreunde ihrer Männer ausrichteten, die zwischen Aerobicstunden und Bibelkreisen ein- bis zweimal pro Woche in ihren schicken Clubs Golf oder Tennis spielten.

Andererseits hatte sie auch nicht den weichen reifen Körper einer Frau, die zwei oder drei Nachkommen geboren hatte. Ihre Figur war straff und sportlich. Sie hatte schöne – nein, tolle – Beine, straff, schlank und sonnengebräunt, die durch einen kurzen Rock und hochhackige Sandalen noch betont wurden. Ihr ärmelloses Top hatte einen spitzen Ausschnitt wie ein Pullunder, darüber trug sie eine passende Strickjacke lässig um den Hals gebunden, die sie inzwischen ausgezogen hatte. Ihre Kleidung strahlte einen subtilen Chic aus, der das meiste ausstach, was die Shorts-und-Turnschuh-Truppe hier vor Ort trug.

In ihre Handtasche, die auf dem Tisch lag, passten bestimmt nur Schlüsselbund, Taschentuch und vielleicht noch ein Lippenstift, sie hatte aber nie und nimmer das Fassungsvermögen jener Schulterbeutel junger Mütter voll gestopft mit Mineralwasserflaschen, feuchten Tüchern, Bio-Riegeln und anderen Dingen, mit denen man notfalls tagelang in der Wildnis überleben konnte.

Hammond hatte einen analytischen Verstand. Deduktives logisches Denken war seine Stärke. Deshalb kam er zu dem für ihn höchstwahrscheinlichen Schluss, dass diese Frau keine Mutter war.

Was nicht heißen sollte, dass sie nicht verheiratet oder sonst wie gebunden sein konnte und nur darauf wartete, eine für sie wichtige männliche Person zu treffen, egal, um wen es sich dabei handelte oder wie ihre Beziehung aussah. Diese Frau widmete sich vielleicht ganz ihrer Karriere und brachte in der Geschäftswelt wichtige Dinge ins Rollen: als erfolgreiche Vertreterin, als Geschäftsfrau mit Köpfchen, als Börsen- oder Kreditmaklerin.

Während Hammond an seinem Bier nippte, das in der Hitze allmählich schal wurde, starrte er sie weiter interessiert an.

Bis er plötzlich bemerkte, wie er seinerseits angestarrt wurde.

Als sich ihre Blicke trafen, machte sein Herz einen Satz. Vielleicht weil er sich genierte, ertappt worden zu sein. Trotzdem schaute er nicht weg. Mehrere Sekunden hielten sie den Blickkontakt trotz der Tänzer aufrecht, die sich zwischen ihnen bewegten und immer wieder die Sicht versperrten.

Dann wandte sie sich abrupt ab, als ob sie sich schämte, gerade ihn in der Menge ausgesucht zu haben, und sich ärgerte, auf einen banalen Blickkontakt wie ein junges Mädchen reagiert zu haben. Hammond überließ seinen Tisch zwei Pärchen, die schon längere Zeit in der Nähe herumgestanden und auf den nächsten freien Platz gewartet hatten, und bahnte sich einen Weg durchs dichte Gewühl zu der provisorischen Bar, die man während des Volksfests für die durstigen Tänzer aufgebaut hatte.

Sie war ein beliebter Aufenthaltsort. An der Theke standen in Dreierreihen Soldaten von den verschiedenen Militärstützpunkten der Gegend. Auch ohne Uniform konnte man sie an ihren kurz geschorenen Köpfen erkennen. Sie tranken, musterten die Mädchen, wägten ihre Chancen auf einen Treffer ab, wetteten, wer zum Zuge kommen würde und wer nicht, und übten sich in der Kunst, der Erste zu sein.

Obwohl die Barkeeper das Bier so schnell wie möglich verteilten,...