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Schatten des Wolfes - Alpha & Omega 1 - Roman

Patricia Briggs

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641042332 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

1
Der Wind war kalt, und die Kälte ließ ihre Zehen gefrieren. An einem dieser Tage würde sie wohl nachgeben und Stiefel kaufen müssen – zumindest, wenn sie nicht essen wollte!
Anna lachte, steckte die Nase in die Jacke und trabte die letzte halbe Meile heim. Ja, ein Werwolf zu sein verlieh ihr größere Kraft und Zähigkeit, selbst in Menschengestalt, aber die Zwölf-Stunden-Schicht, die sie gerade bei Scorci’s hinter sich gebracht hatte, genügte, dass auch ihr die Knochen wehtaten. Man sollte annehmen, die Leute hätten an Thanksgiving Besseres zu tun, als zum Italiener zu gehen.
Tim, der Restaurantbesitzer – ein Ire, kein Italiener, obwohl er die besten Gnocchi in Chicago machte – ließ sie Extraschichten übernehmen, aber insgesamt nicht länger als fünfzig Stunden in der Woche arbeiten. Der größte Bonus bestand in der Mahlzeit, die es in jeder Schicht gratis gab. Dennoch, sie fürchtete, einen zweiten Job annehmen zu müssen, um ihre Ausgaben bestreiten zu können: Das Leben als Werwolf, hatte sie festgestellt, war finanziell ebenso teuer, wie es persönlich Kraft kostete.
Sie schloss die Haustür auf. In ihrem Briefkasten gab es nichts, also holte sie Karas Post und die Zeitung heraus und stieg die Treppe zu Karas Wohnung im Zweiten Stock hoch. Als sie die Tür öffnete, sah Karas Siamkatze Mouser sie nur kurz an, fauchte angewidert und verschwand dann hinter der Couch.
Sie fütterte die Katze nun schon seit sechs Monaten, wann immer ihre Nachbarin nicht da war – und das passierte häufig, denn Kara arbeitete in einem Reisebüro, das Touren veranstaltete -, aber Mouser hasste sie immer noch. Von seinem Versteck aus schimpfte er, wie es nur Siamkatzen können.
Seufzend warf Anna die Zeitung und die Post auf den kleinen Tisch im Essbereich und öffnete eine Dose Katzenfutter, die sie neben die Wasserschale stellte. Dann setzte sie sich müde an den Tisch und schloss die Augen. Sie wäre nur zu gern einen Stock höher in ihre eigene Wohnung gegangen, musste aber warten, bis die Katze gefressen hatte. Wenn sie Mouser allein mit seinem Fressen ließ, würde sie am nächsten Morgen eine Dose mit unberührtem Katzenfutter finden. Mouser konnte sie zwar nicht ausstehen, fraß aber nicht, solange nicht jemand dabei war – selbst wenn es sich bei diesem jemand um einen Werwolf handelte, dem er nicht traute.
Normalerweise schaltete sie Karas Fernseher ein und sah sich an, was immer gerade lief, aber an diesem Abend war sie zu müde, um das auch nur zu versuchen, also faltete sie die Zeitung auf, um zu sehen, was geschehen war, seit sie vor ein paar Monaten das letzte Mal die Nachrichten gelesen hatte.
Sie ging ohne großes Interesse die Schlagzeilen auf der ersten Seite durch. Unter immer noch lauten Beschwerden erschien Mouser und stakste verärgert zu seinem Futter.
Sie blätterte um, damit Mouser wusste, dass sie wirklich las – und holte scharf Luft, als sie das Foto eines jungen Mannes entdeckte. Es war ein Porträt, offenbar ein Schulfoto, und neben ihm befand sich ein ähnliches Bild eines Mädchens im gleichen Alter. Die Bildüberschrift lautete: »Blut am Tatort stammt von vermisstem Teen aus Naperville.«
Ein wenig nervös las sie den ausführlichen Artikel über das Verbrechen, der für Leute wie sie gedacht war, die die ursprünglichen Berichte nicht gelesen hatten.
Vor zwei Monaten war Alan MacKenzie Frazier von einer High-School-Party verschwunden, und in der gleichen Nacht hatte man die Leiche seiner Freundin auf dem Schulgelände gefunden. Die Todesursache war schwer festzustellen, da die Leiche des Mädchens von Tieren verstümmelt worden war – es hatte ein paar streunende Hunde gegeben, die schon die letzten Monate über die Gegend unsicher gemacht hatten. Die Autoritäten waren unsicher gewesen, ob der vermisste junge Mann verdächtig war oder selbst ein weiteres Opfer. Nun hatten sie sein Blut am Tatort gefunden und nahmen eher das Letztere an.
Anna berührte Alan Fraziers lächelndes Gesicht mit zitternden Fingern. Sie wusste es. Sie wusste es.
Sie sprang vom Tisch auf, ignorierte Mousers verärgertes Miauen und ließ sich an der Spüle kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, denn sie wollte sich nicht auch noch übergeben. Der arme Junge!
Mouser brauchte noch eine geschlagene Stunde, um fertig zu fressen. Inzwischen kannte Anna den Artikel auswendig – und war zu einem Entschluss gekommen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie schon gewusst, was sie tun musste, als sie die Überschrift las, aber diese Stunde gebraucht, um den Mut zum Handeln aufzubringen. Wenn sie in ihren drei Jahren als Werwolf eines gelernt hatte, dann, dass man auf keinen Fall die Aufmerksamkeit eines dominanten Wolfes wecken sollte. Und den Marrok anzurufen, der alle Wölfe in Nordamerika beherrschte, würde zweifellos Aufmerksamkeit erregen.
Da sie kein Telefon in ihrer Wohnung hatte, nahm sie Karas. Sie wartete, dass ihre Hände und der Atem sich beruhigten, aber das geschah nicht, also wählte sie die Nummer auf dem zerknitterten Fetzen Papier dennoch.
Es klingelte dreimal – und ihr wurde klar, dass elf Uhr nachts in Chicago nicht elf Uhr nachts in Montana war, denn dort rief sie laut Vorwahlnummer an. War es ein zwei- oder dreistündiger Zeitunterschied? Früher oder später? Hastig legte sie wieder auf.
Was wollte sie ihm denn auch sagen? Dass sie den Jungen Wochen nach seinem Verschwinden gesehen hatte, offensichtlich das Opfer eines Werwolfangriffs, und zwar in einem Käfig im Haus ihres Alpha? Dass sie annahm, der Alpha habe den Angriff befohlen? Leo musste Bran nur erwidern, dass er dem Jungen später begegnet war und den Angriff nicht genehmigt hatte. Vielleicht stimmte das ja auch. Vielleicht ging sie zu sehr von ihren eigenen Erfahrungen aus.
Sie wusste nicht einmal, ob der Marrok etwas gegen den Angriff einzuwenden haben würde. Vielleicht war es Werwölfen ja gestattet, jeden anzufallen, den sie angreifen wollten. Ihr selbst war schließlich genau das zugestoßen.
Sie wandte sich wieder vom Telefon ab und sah das Gesicht des jungen Mannes, der sie aus der aufgeschlagenen Zeitung heraus anblickte. Nachdem sie ihn noch einen Augenblick länger angestarrt hatte, wählte sie die Nummer noch einmal – der Marrok würde sich doch sicher wenigstens daran reiben, dass dieser Fall so viel Öffentlichkeit erregt hatte. Diesmal wurde ihr Anruf beim ersten Klingeln beantwortet.
»Hier spricht Bran.«
Er klang nicht bedrohlich.
»Ich heiße Anna«, sagte sie und wünschte sich, ihre Stimme würde nicht beben. Es hatte Zeiten gegeben, dachte sie ein wenig verbittert, in denen sie keine Angst vor ihrem eigenen Schatten gehabt hatte. Wer hätte gedacht, dass sie ein Feigling werden würde, sobald man sie zum Werwolf gemacht hatte? Aber nun wusste sie aus erster Hand, dass es auf der Welt wirklich Ungeheuer gab.
So wütend sie auf sich selbst auch sein mochte, sie konnte kein anderes Wort herausbringen. Wenn Leo erführe, dass sie den Marrok angerufen hatte, konnte sie sich auch gleich mit dieser Silberkugel erschießen, die sie vor ein paar Monaten gekauft hatte, und ihm den Ärger ersparen.
»Rufst du aus Chicago an, Anna?« Das erschreckte sie einen Moment, aber dann erkannte sie, dass er ein Telefon mit Display haben musste. Er klang nicht verärgert, als hätte sie ihn gestört – und das wiederum passte so gar nicht zu einem Dominanten. Vielleicht war das nur sein Sekretär? Die Privatnummer des Marrok war wohl kaum etwas, was einfach so herumgereicht wurde.
Die Hoffnung, nicht wirklich mit dem Marrok zu sprechen, beruhigte sie ein bisschen. Selbst Leo hatte Angst vor dem Marrok. Sie ignorierte die Frage – er kannte die Antwort ja bereits. »Ich rufe an, um mit dem Marrok zu sprechen, aber vielleicht könntest du mir auch helfen.«
Es gab eine kleine Pause, dann sagte Bran ein wenig bedauernd: »Ich bin der Marrok, Kind.«
Panik erfasste sie, aber noch bevor sie sich entschuldigen und auflegen konnte, fügte er beruhigend hinzu: »Es ist in Ordnung, Anna. Du hast nichts falsch gemacht. Sag mir, warum du anrufst.«
Sie holte tief Luft und wusste, dass dies die letzte Gelegenheit war, zu ignorieren, was sie gesehen hatte, und damit sich selbst zu schützen.
Stattdessen erklärte sie, dass sie den Artikel in der Zeitung gesehen hatte und den vermissten Jungen vom Haus ihres Alpha her kannte, wo er in einem der Käfige gesessen hatte, die Leo für neue Wölfe besaß.
»Ich verstehe«, murmelte der Wolf am anderen Ende der Leitung.
»Ich konnte nicht beweisen, dass etwas nicht stimmte, bevor ich die Zeitung sah«, berichtete sie.
»Weiß Leo, dass du den Jungen gesehen hast?«
»Ja.« Es gab zwei Alphas in der Gegend von Chicago. Einen Moment fragte sie sich, wieso er gewusst hatte, von welchem der beiden sie sprach.
»Wie hat er reagiert?«
Anna schluckte angestrengt und versuchte zu vergessen, was nach ihrer Entdeckung passiert war. Nachdem sich Leos Gefährtin eingemischt hatte, hatte der Alpha eigentlich damit aufgehört, sie je nach Laune unter den anderen Werwölfen herumzureichen, aber an diesem Abend war Leo der Ansicht gewesen, dass Justin eine Belohnung verdient hatte. Aber das würde sie dem Marrok doch sicher nicht sagen müssen?
Er ersparte ihr die Demütigung, indem er seine Frage deutlicher machte. »War er zornig, weil du den jungen Mann gesehen hattest?«
»Nein. Er war dem Mann, der ihn zu ihm gebracht hatte, sehr, äh, dankbar« Justin hatte...