dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

In einer kleinen Stadt (Needful Things) - Roman

Stephen King

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641035693 , 880 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

SIE WAREN SCHON EINMAL HIER
Aber klar doch. Sicher. Ein Gesicht wie Ihres vergesse ich nie.
Kommen Sie herüber, lassen Sie mich Ihre Hand schütteln! Wissen Sie, ich habe Sie schon am Gang erkannt, noch bevor ich Ihr Gesicht gesehen habe. Sie hätten sich für Ihre Rückkehr nach Castle Rock keinen besseren Tag aussuchen können. Ist das nicht ein Prachtwetter? Bald fängt die Jagdzeit an, wo die Idioten in den Wäldern auf alles schießen, was sich bewegt und nicht leuchtendes Orange trägt, und dann kommen der Schnee und die Graupelschauer – aber all das hat noch ein Weilchen Zeit. Jetzt haben wir Oktober, und in The Rock lassen wir den Oktober dauern, so lange er mag.
Für mich ist das die beste Zeit des Jahres. Der Frühling ist schön hier, aber ich ziehe jederzeit den Oktober dem Mai vor. Der Westen von Maine ist ein Landstrich, der fast in Vergessenheit gerät, wenn der Sommer den Laden dichtmacht und all die Leute von ihren Cottages am See und oben auf dem View nach New York und Massachusetts zurückgekehrt sind. Die Leute hier sehen sie Jahr für Jahr kommen und gehen – hallo, hallo, hallo; auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Es ist gut, wenn sie kommen, weil sie ihre Stadtdollars mitbringen, aber es ist auch gut, wenn sie gehen – ihre Stadtprobleme bringen sie nämlich auch mit.
Und Probleme sind es, über die ich vor allem reden möchte – können wir uns ein Weilchen hinsetzen? Am besten auf den Stufen zum Musikpavillon da drüben. Die Sonne scheint warm, und von hier, mitten im Stadtpark, kann man fast das ganze Geschäftsviertel überblicken. Sie müssen nur wegen der Splitter aufpassen. Die Stufen müssen abgeschliffen und frisch gestrichen werden. Das ist Hugh Priests Job, aber Hugh ist noch nicht dazu gekommen. Er trinkt, müssen Sie wissen. Das ist kein großes Geheimnis. In Castle Rock können die Leute Geheimnisse wahren, und sie tun es auch, aber das ist schwere Arbeit, und es ist schon lange her, seit zwischen Hugh Priest und schwerer Arbeit etwas bestand, das man als gutes Einvernehmen bezeichnen könnte.
Was das ist?
Ach, das. Also wissen Sie, mein Junge – ist das nicht ein schönes Stückchen Arbeit? Diese Zettel überall in der Stadt! Ich glaube, Wanda Hemphill (ihrem Mann Don gehört Hemphills’Market) hat die meisten davon selbst angebracht. Reißen Sie’s ab und geben Sie es mir. Seien Sie nicht so ängstlich – es hat ohnehin niemand das Recht, den Musikpavillon im Stadtpark mit Zetteln zu bepflastern.
Heiliger Strohsack! Sehen Sie sich das an! WÜRFEL UND DER TEUFEL, das steht ganz oben auf dem Zettel. In dicken, roten Buchstaben, aus denen Rauch aufsteigt, als wären die Dinger in der Hölle aufgegeben und durch Eilboten ausgeliefert. Ha! Jemand, der nicht weiß, was für ein verschlafenes kleines Nest diese Stadt ist, könnte wirklich glauben, es ginge allmählich abwärts mit uns. Aber Sie wissen ja, wie sich in einer Stadt dieser Größe die Dinge manchmal über jedes vernünftige Maß hinaus aufblähen. Und diesmal hat Reverend Willi zweifellos eine Hornisse unter der Bettdecke. Gar keine Frage. Kirchen in kleinen Städten... nun, ich glaube, darüber brauche ich Ihnen nicht viel zu erzählen. Sie kommen miteinander aus – so einigermaßen -, aber so richtig selig miteinander sind sie nie. Eine Zeitlang geht alles friedlich vonstatten, und eines Tages ist dann der Krach wieder voll im Gange.
Aber diesmal ist es ein ziemlich heftiger Krach, und er wird mit großer Erbitterung ausgetragen. Die Katholiken, müssen Sie wissen, wollen in der Halle der Kolumbus-Ritter am anderen Ende der Stadt etwas veranstalten, das sie Kasino-Nacht nennen. Am letzten Freitag des Monats, soviel ich weiß; der Reingewinn soll für Reparaturen am Dach der Kirche verwendet werden. Das ist Our Lady of Serene Waters – Sie müssen auf der Fahrt in die Stadt daran vorbeigekommen sein, wenn Sie durch Castle View gekommen sind. Hübsche kleine Kirche, nicht wahr?
Die Kasino-Nacht war Father Brighams Idee, aber es waren die Töchter der Isabella, die den Ball aufgefangen haben und damit losgerannt sind. Vor allem Betsy Vigue. Ich nehme an, ihr gefällt die Idee, sich in ihr raffiniertestes Schwarzes zu zwängen und Karten auszuteilen oder ein Rouletterad in Bewegung zu versetzen und zu sagen: »Ihre Einsätze bitte, meine Damen und Herren. Ihre Einsätze bitte.« Aber ich glaube, sie sind alle mehr oder weniger begeistert. Es wird zwar nur um Pfennige und Groschen gespielt, völlig harmlos, aber das Gefühl, ein bißchen verrucht zu sein, ist ja auch was.
Aber für Reverend Willie ist es keineswegs harmlos, und anscheinend halten er und seine Gemeinde es für mehr als nur ein bißchen verrucht. Eigentlich heißt er Reverend William Rose; Father Brigham hat er noch nie so recht gemocht, und der Father hält von ihm auch nicht sonderlich viel. (Übrigens war es Father Brigham, der damit angefangen hat, Reverend Rose »Steamboat Willie« zu nennen, und das weiß Reverend Willie.)
Zwischen diesen beiden Medizinmännern sind schon früher die Funken geflogen. Aber diese Sache mit der Kasino-Nacht ist mehr als nur ein Funken; man könnte schon von einem Buschfeuer reden. Als Willie hörte, daß die Katholiken vorhaben, in der Halle der Kolumbus-Ritter eine Nacht lang dem Glücksspiel zu frönen, ist er in die Luft gegangen. Er hat diese WÜRFEL UND DER TEUFEL-Anschläge aus eigener Tasche bezahlt, und Wanda Hemphill und ihre Freundinnen aus dem Nähkränzchen haben sie überall angeklebt. Seitdem ist der einzige Ort, an dem die Katholiken und die Baptisten noch miteinander reden, die Leserbriefspalte in unserer kleinen Wochenzeitung, wo sie gegeneinander toben und wüten und einer dem anderen versichert, sein Weg führte stracks zur Hölle.
Schauen Sie dort hinunter, dann verstehen Sie, was ich meine. Die Frau, die gerade aus der Bank kommt, ist Nan Roberts. Ihr gehört Nan’s Luncheonette, und seit sich Pop Merrill zur ewigen Ruhe begeben hat, dürfte sie die reichste Frau der Stadt sein. Außerdem ist sie Baptistin, seit Hektor in den Windeln lag. Und aus der anderen Richtung kommt Al Gendron. Er ist so katholisch, daß neben ihm der Papst wie ein Waisenkind aussieht, und der Ire Johnny Brigham ist sein bester Freund. So, und nun schauen Sie genau hin! Sehen Sie, wie ihre Nasen hochgehen! Ha! Ist das nicht ein Schauspiel? Ich wette Dollars gegen Datteln, daß die Temperatur um zehn Grad gesunken ist, als die beiden aneinander vorbeigingen. Wie meine Mutter immer zu sagen pflegte – Leute haben mehr Spaß als sonst jemand, ausgenommen Pferde, und die merken es nicht.
Und nun schauen Sie dort hinüber. Sehen Sie den Streifenwagen, der vor dem Videoshop am Bordstein parkt? Das ist John LaPointe, der da drin sitzt. Er soll eigentlich nach Rasern Ausschau halten – im Geschäftsviertel darf man kaum mehr als Schritt fahren, müssen Sie wissen, vor allem, wenn die Schule aus ist -, aber wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, daß er in Wirklichkeit auf ein Foto starrt, das er aus seiner Brieftasche herausgeholt hat. Ich kann es zwar von hier aus nicht sehen, aber um was es sich handelt, weiß ich so genau, wie ich den Mädchennamen meiner Mutter kenne. Das ist der Schnappschuß, den Andy Clutterbuck von John und Sally Ratcliffe auf dem Rummel in Fryeburg aufgenommen hat, vor ungefähr einem Jahr. Auf diesem Foto hat John seinen Arm um sie gelegt, und sie hält den Teddy, den er für sie in der Schießbude gewonnen hat, und beide sehen so glücklich aus, als wollten sie nie mehr auseinandergehen. Aber das war damals, und heute ist heute, wie man so sagt; inzwischen ist Sally mit Lester Pratt verlobt, dem Sportlehrer von der High School. Er ist ein waschechter Baptist, genau wie sie. John hat den Schock, sie zu verlieren, noch nicht überwunden. Haben Sie mitgekriegt, wie er geseufzt hat? Er hat sich in eine ganz hübsch schwermütige Stimmung hineingesteigert. Nur ein Mann, der noch immer verliebt ist (oder sich einbildet, es zu sein), kann so abgrundtief seufzen.
Arger und Zwistigkeiten entstehen zumeist aus ganz gewöhnlichen Umständen, ist Ihnen das schon aufgefallen? Aus undramatischen Umständen. Ich zeige Ihnen ein Beispiel dafür. Sehen Sie den Mann, der da gerade die Treppe zum Gericht hinaufgeht? Nein, nicht den Mann im Anzug; das ist Dan Keeton, der Vorsitzende unseres Stadtrates. Ich meine den anderen – den Schwarzen im Overall. Das ist Eddie Warburton, der Nacht-Hausmeister der Stadtverwaltung. Beobachten Sie ihn ein paar Sekunden lang, und sehen Sie, was er tut. Da! Sehen Sie, wie er auf der obersten Stufe stehenbleibt und die Straße hinaufschaut? Ich wette weitere Dollars gegen weitere Datteln, daß es die Sunoco-Tankstelle ist, zu der er hinschaut. Die Sunoco gehört Sonny Jackett, und zwischen den beiden gibt es böses Blut, seit Eddie vor zwei Jahren seinen Wagen zu ihm gebracht hat, damit er sich das Getriebe ansieht.
Ich habe den Wagen noch genau vor Augen. Es war ein Honda Civic, nichts Besonderes. Aber für Eddie war er etwas Besonderes, weil es der erste und einzige brandneue Wagen war, den er in seinem Leben besessen hat. Und Sonny hat nicht nur Pfuscharbeit geleistet, sondern ihn obendrein noch übers Ohr gehauen. Das ist Eddies Version der Geschichte. Warburton benutzt nur seine Hautfarbe, um sich um die Bezahlung der Reparaturrechnung zu drücken – das ist Sonnys Version der Geschichte. Sie wissen, wie das so geht, nicht wahr?
Daraufhin zerrte Sonny Jackett Eddie Warburton vor Gericht. Ein Bagatellfall, sicher, aber es gab einiges Gebrüll, zuerst im Gerichtssaal und dann in der Vorhalle. Eddie behauptete, Sonny hätte ihn einen dämlichen Nigger genannt, und...