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Gottes leere Hand - Roman

Marianne Efinger

 

Verlag Bookspot Verlag, 2012

ISBN 9783937357652 , 377 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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1,99 EUR


 

Dienstag


 

Das Schnarchen im Bett nebenan ist so laut gewesen, dass Manuel kein Auge zugetan hat. Schließlich hat die Nachtschwester ihm sogar Oropax gebracht. Viel genutzt haben die Ohrenstöpsel allerdings nicht. Nach endlos scheinenden Stunden fühlt Manuel sich wie gerädert und ist dankbar, dass die Nacht ihrem Ende entgegengeht.

Ihm kommt der Gedanke, dass es der Lärm sein könnte, der den Menschen erst eigentlich zum Menschen macht. Vielleicht wird jedem Menschen ein gewisses Kontingent an Lärm mit in die Wiege gelegt und Selbstverwirklichung heißt nichts anderes, als eben dieses Lärmpotenzial auszuschöpfen. Dann ist es weder die Sprache noch die Musik noch der Gebrauch von Werkzeugen, was den Menschen als solchen kennzeichnet, sondern der Lärmpegel, der mit all diesen Aktivitäten verbunden ist. So betrachtet, ist die Menschheit auf dem Weg der Evolution tatsächlich so weit vorangeschritten, wie sie glaubt. Diese Theorie würde auch erklären, warum es in der Welt immer lauter und noch lauter wird.

Im Zimmer stinkt es, was unvermeidlich ist, wenn drei Männer auf einer Fläche von achtzehn Quadratmetern zusammengepfercht liegen und das Fenster keinen Spalt breit geöffnet werden darf. Rudolf Schröder kann nämlich nur bei geschlossenem Fenster schlafen, vor allem deshalb, weil Manuel darum gebeten hat, dass es die Nacht über wenigstens auf Kippe gestellt wird. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Manuel ist höflich und behandelt den Mann am Fenster mit kalter Nichtachtung. Rudolf Schröder ist weniger höflich, aber noch geht es ihm schlecht und er ist mit sich selbst beschäftigt.

In der Nacht hat Manuel geschwitzt. Seine Körpertemperatur liegt mehr als ein halbes Grad über dem normalen Wert von knapp siebenunddreißig Grad. Das hat mit seinen Glasknochen und seinem Stoffwechsel zu tun. Er friert selten, selbst an kalten Tagen genügen ihm Sweatshirt und Jacke. Andererseits muss er aufpassen, dass er sich nicht erkältet, wenn er schwitzt. Letzteres tut er häufig, wenn er im Rollstuhl sitzt. Vielleicht hat er gestern zu lange in zugigen Fluren gesessen, denn hinter seinen Rippen fühlt es sich an, als hätten seine Lungenbläschen sich in Eiskristalle verwandelt. Was immer die Röntgenbilder von seiner Lunge sagen, etwas ist nicht, wie es sein sollte.

Plötzlich tut es einen Schlag - rums! -, die Tür fliegt auf und kracht gegen die Holzleiste - rums! -, und im selben Augenblick flammt grell das Licht auf. Es ist Schwester Rita, die mit ihrem Handwagen die Tür aufgestoßen und zeitgleich die Neonröhre an der Decke eingeschaltet hat.

Albert Schuster und Rudolf Schröder fahren aus ihren Kissen hoch. Das Schnarchen bricht abrupt ab.

»Guten Morgen, meine Herren!«, trompetet Schwester Rita. »Haben Sie gut geschlafen? Nun wird Fieber gemessen und wenn ich damit fertig bin, geht es   - hopp, hopp! - ans Waschbecken.«

Schwester Rita hat schon gestern Nachmittag Dienst gehabt, daher ist Manuel von diesem Auftritt nicht allzu sehr überrascht. Sie ist um die fünfundzwanzig Jahre alt, forsch in ihrem Wesen und eher handlungsorientiert denn kontemplativ veranlagt. Die dunklen Haare trägt sie als Pagenschnitt mit Stirnfransen und besonders fällt die dicke Hornbrille auf, durch die ihre Augen vergrößert wirken. Es macht ihr offensichtlich Spaß, mit dem Handwagen gegen Türen zu poltern und Leute aus dem Schlaf zu reißen.

Sie spielt die Rolle der rabiaten Krankenschwester aus purer Lust an der Sache, denkt Manuel und in derselben Sekunde, als ihm der Gedanke durch den Kopf geht, kreuzen sich zufällig ihre Blicke. Jeder sieht durch den anderen hindurch und weiß, dass der andere weiß, was er weiß, und weiß, dass er …

Ein verzauberter Augenblick, denn es entsteht eines jener Phänomene, in denen plötzlich ein Funke überspringt. Ganz kurz nur glitzern hinter der Hornbrille listig Ritas Augen, ganz kurz nur spielt ein winziges Lächeln um Manuels Mundwinkel. Dann ist der Augenblick vorüber, doch nun finden Rita und Manuel einander sympathisch. Das wird so bleiben, denn die beiden haben ein Spiel entdeckt, das sie miteinander spielen werden.

Wenn Manuel Schwester Rita sieht, wird er von nun an immer Achtung! Auftritt von Schwester Rita oder Die rabiate Rita in einer neuen Folge oder dergleichen denken. Und wenn Rita Manuel begegnet, wird sie von nun an immer ein kleines bisschen übertreiben, gerade so viel, dass nur er es merkt. Dieses Spiel spielen sie heimlich und vollständig verborgen hinter den Kulissen der alltäglichen Begebenheiten. Niemand anderem fällt auch nur das Geringste auf. Wenn Rita das Zimmer verlässt, spendet Manuel unhörbaren Applaus und Rita verneigt sich unmerklich. Keiner von beiden wird je auch nur ein einziges Wort darüber verlieren.

Stattdessen nimmt Schwester Rita das Fieberthermometer vom Handwagen und reicht Manuel den mit einer Plastikkappe abgedeckten Messfühler, den er sich gehorsam unter die Zunge schiebt.

»Was macht Ihr Ohr?«, will sie wissen, während sie einerseits auf die Anzeige des Geräts blickt und andererseits mit geübtem Griff nach Manuels Handgelenk greift und den Puls fühlt.

»Esch isch allesch wieder in Ordnung!«, antwortet Manuel.

»Unglaublich, diese Schüler heutzutage. Was denen alles einfällt! Ich könnte Geschichten erzählen, bei denen sich Ihnen die Haare senkrecht stellen würden. Lassen Sie mich mal nach Ihrem Ohr sehen«, sagt Schwester Rita und dreht Manuels Kopf zur Seite. »Sie haben Glück! Die Schwellungen sind zurückgegangen. Ich sehe, Sie haben eine erhöhte Temperatur von siebenunddreißigkommasieben Grad. Fühlen Sie sich ansonsten gut?«

Manuel nickt. Antworten kann er nicht, weil sich die Plastikkappe vom Messfühler gelöst hat und zwischen seinen Zähnen hängt. Vielleicht rutscht sie ihm in den Hals, wenn er redet, und das will er lieber nicht riskieren. Vorsichtig versucht er, das Röhrchen zu fassen.

»Wie machen wir das heute?«, will Rita über den Kopf von Albert Schuster hinweg von allen Anwesenden wissen. Sie ist bereits ans nächste Bett getreten und schiebt dem Patienten dieses Mal den Fühler eigenhändig in den Mund. »Möchten Sie als Erster ans Waschbecken, Herr Jäger?«

»Ja, gern! Ich brauche jedoch immer eine Weile«, erwidert Manuel, der das Plastikröhrchen erwischt und im Abfallbeutel entsorgt hat. »Bei mir geht alles langsamer als gewöhnlich.«

»Kein Problem! Sie haben alle Zeit der Welt. Am besten wasche ich Ihnen gleich den Rücken, dann haben wir das schon einmal geschafft.« Rita hat Albert Schusters Temperatur in ihren Block eingetragen und wendet sich dem letzten Patienten zu. Kopfschüttelnd betrachtet sie das Gewirr von Plastikschläuchen, in dem Rudolf Schröder liegt.

»Was haben Sie denn wieder angestellt, Herr Schröder?«, will sie wissen. Sie zieht ihm das Hemd von der Schulter und mustert den darunter befindlichen Dreiwegehahn. »Das Hemd und das Pflaster sind ja ganz nass. Wie haben Sie das denn gemacht? Haben Sie Cowboy gespielt und den Infusionsschlauch als Lasso verwendet?«

Rudolf Schröder ist kleinlaut und versichert, dass er von nichts weiß und nichts getan hat.

Nach seiner Einlieferung am vergangenen Wochenende hat er einen zentralen Venenkatheter bekommen, der durch die Haut in die unter dem Schlüsselbein verlaufende Vene und von dort in die rechte Herzhälfte geschoben wurde. Er hat diesen Katheter bekommen, weil er wegen seiner Bauchspeicheldrüsenentzündung längere Zeit weder essen noch trinken darf und deshalb übers Blut ernährt werden muss. Gestern hat er trotzdem ein Wurstbrötchen gegessen. Dr. Funke hat ihm daraufhin erklärt, dass er stirbt, wenn er das noch einmal macht, und da erst hat Rudolf Schröder begriffen, wie krank er wirklich ist. Rudolf Schröder ist mit Dr. Funke einig, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Er stimmt ihr zu, wenn sie sagt, dass er sein Leben grundlegend ändern muss. Er gibt ihr hundertprozentig recht, wenn sie feststellt, dass der Alkohol seine Gesundheit ruiniert. Und er wird viel zu erzählen haben, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen ist und mit seinen Kumpels wieder am Stammtisch sitzt.

Schwester Rita ist fertig mit dem Fiebermessen. Sie geht ans Fenster und reißt beide Flügel weit auf. »Wir werden lüften müssen, meine Herren«, meint sie. »Ein Wunder, dass Sie heute Nacht nicht an Gasvergiftung eingegangen sind. Ist denn keiner von Ihnen auf die Idee gekommen, das Fenster zu öffnen?«

Sie kehrt zu Manuel zurück, reicht ihm den Arm und bringt ihn ans Waschbecken hinüber. Wenn Manuel seine orthopädischen Schuhe anhat, kann er allein auf die Toilette gehen, aber bis zum Waschbecken auf der anderen Seite des Raums schafft er es nicht ohne Hilfe. Schwester Rita wäscht seinen Rücken, das tut ihm gut, denn sie ist bei Weitem nicht so grob, wie ihr Auftreten hat vermuten lassen. Als sie fertig ist, legt sie ihm den Rasierapparat zurecht und zieht den Vorhang hinter ihm zu. Den Rest muss er selber machen, was aber kein Problem ist.

»Wenn Sie fertig sind, helfe ich Ihnen ins Bett zurück«, sagt Schwester Rita. Dann wendet sie sich den beiden anderen Patienten zu. »Und Sie, meine Herren, bleiben im Bett, solange Herr Jäger sich wäscht und rasiert«, sagt sie streng. »Ich will nicht, dass einer gegen ihn fällt und ihm einen Knochen...