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Der ungezähmte Mann - Auf dem Weg zu einer neuen Männlichkeit

John Eldredge

 

Verlag Brunnen Verlag Gießen, 2011

ISBN 9783765570322 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 


UNGEZÄHMT


Das Vorhaben im Herzen eines Mannes ist wie ein tiefes Wasser ...

SPRÜCHE 20,5 (L)

Das geistliche Leben spielt sich nicht im ruhigen Wohngebiet ab, sondern immer im Grenzland. Wir, die wir dieses Leben leben, müssen diese Tatsache akzeptieren, und mehr noch: Wir sollten uns freuen, dass dieses Land so wild ist.

HOWARD MACEY

Wo der Horizont beginnt, dahin möchte ich reiten

Ich hasse Zäune und kann Mauern nicht leiden

Also grenz mich nicht ein.

COLE PORTER, „DON’T FENCE ME IN“

E

ndlich umgibt mich die Wildnis. Der Wind in den Wipfeln der Pinien hinter mir rauscht wie der Ozean. Wellen rollen heran aus dem großartigen Blau über mir, brechen sich am Kamm des Berges, den ich erklommen habe – irgendwo in einer Bergkette im Herzen von Colorado. Unter meinen Füßen breitet sich ein Teppich von Beifuß aus – er erstreckt sich meilenweit in die Landschaft. Tief dunkelrot ist er nur für wenige Wochen, die meiste Zeit des Jahres über ist die Farbe eher silbergrau. In dieser Gegend kann man auf dem Pferderücken tagelang unterwegs sein, ohne auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen. Doch heute bin ich zu Fuß unterwegs. Zwar scheint die Sonne an diesem Nachmittag, aber die Temperatur wird hier in der Nähe der kontinentalen Wasserscheide kaum über den Gefrierpunkt steigen. Auf dem Weg hier hoch bin ich in Schweiß geraten – nun macht er mich frösteln. Es ist spät im Oktober, der Winter hält Einzug. Die Gipfel des San Juan-Gebirges in der Ferne, vielleicht hundert achtzig Kilometer südwestlich, sind bereits mit Schnee bedeckt.

Ich schnappe nach Luft. Der scharfe Duft des Beifuß hat sich sogar in meinen Kleidern festgesetzt und macht mir den Kopf frei. Immerhin bewege ich mich in gut 3.000 m Höhe. Ich muss schon wieder eine Pause einlegen, dabei weiß ich genau, dass jede neue Rast den Abstand zwischen mir und meiner Jagdbeute noch mehr vergrößert. Ich mache mir keine Illusionen: der Hirsch war von Anfang an im Vorteil. Zwar waren die Spuren heute vormittag frisch – nur ein paar Stunden alt –, aber was heißt das schon. Ein Rothirsch kann in so einem Zeitraum viele Kilometer durch unwegsamstes Gelände zurücklegen, zumal wenn er auf der Flucht ist.

Wapitis, so nennen sie die Indianer, sind mit die scheuesten Geschöpfe, die es in dieser Region noch gibt. Es sind geisterhafte Könige des Hochlandes, vorsichtiger und wachsamer noch als Damwild, und es ist noch schwerer, ihre Spur zu halten. Sie leben in größeren Höhen und können an einem Tag weitere Strecken bewältigen als nahezu jedes andere Wild. Besonders die Bullen scheinen einen sechsten Sinn für die Gegenwart von Menschen zu besitzen. Ein paar mal bin ich nahe an einen herangekommen – im nächsten Moment war er verschwunden, hat sich lautlos fortgemacht durch ein derart dichtes Gehölz, dass man noch nicht mal einem Kaninchen zugetraut hätte, da durchzukommen.

Es war nicht immer so. Jahrhundertelang lebten Wapitis in der Prärie, die sie in großen Gruppen durchzogen. Meriwether Lewis beschreibt, wie er im Frühjahr 1805 auf seiner Suche nach der Nordwestpassage an Herden von mehreren tausend friedlich äsenden Tieren vorbeikam. Manche waren so neugierig, dass sie sich ihm bis auf kurze Distanz näherten – so wie einem heutzutage gelangweilte Kühe den Weg versperren. Aber bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Erschließung des Westens schon so weit fortgeschritten, dass sich die Wapitis in die höchsten Regionen der Rocky Mountains zurückgezogen hatten. Sie sind misstrauisch geworden, verstecken sich wie Gesetzlose oberhalb der Baumgrenze, bis der Schnee sie den Winter über in tiefere Lagen hinabzwingt. Wenn man sie heute finden will, dann diktieren sie die Bedingungen, und dann muss man sich in menschenfeindliche Gegenden abseits der Zivilisation begeben.

Genau deshalb bin ich hier.

Und genau deshalb gönne ich mir eine längere Pause und lasse den alten Bullen ziehen. Verstehen Sie: Meine Verfolgungsjagd hat eigentlich nur wenig mit Wild zu tun. Das wusste ich schon, bevor ich aufgebrochen bin. Hier draußen in diesem unwegsamen Gelände bin ich hinter etwas anderem her. Ich suche nach einer noch scheueren Beute, nach etwas, das überhaupt nur mit Hilfe der Wildnis aufgespürt werden kann. Ich suche nach meinem Herzen.

Ungezähmt

Eva wurde inmitten der üppigen Schönheit des Gartens Eden erschaffen. Adam dagegen, Sie werden sich erinnern: Adam wurde außerhalb des Gartens erschaffen, in der Wildnis. Im Bericht über die Ursprünge der Menschheit, im 2. Kapitel des ersten Buches Mose, wird es ganz deutlich gesagt: Der Mann wurde im Ödland erschaffen, im Busch. Er entstammt dem ungezähmten Teil der Schöpfung. Erst später wird er in den Garten Eden gebracht. Seit dieser Zeit, von allem Anfang an, waren Jungen nie im Schutz der Wohnung zu Hause, zog es Männer unwiderstehlich auf Entdeckungsreise. Wir wollen zurück in die Wildnis. Allein schon die Sehnsucht danach macht uns lebendig. Jemand hat gesagt: Wenn ein Mann in die Berge kommt, dann kommt er nach Hause. Das Herz eines Mannes ist im tiefsten Grunde ungezähmt, und das ist gut. Ein Naturbursche sagte: „Wenn ich in einem Büro sitze, bin ich nicht lebendig. In einem Taxi bin ich nicht lebendig, und auch auf dem Bürgersteig nicht.“ Amen dazu. Und die Konsequenz da raus? „Hör niemals auf, Neuland zu entdecken.“

Es steckt uns in den Genen, man muss uns nicht erst dazu auffordern. Es kommt von allein, genau wie unsere Liebe zu Landkarten angeboren ist. Im Jahr 1260 brach Marco Polo auf, um China zu suchen, und 1967, im Alter von sieben Jahren, habe ich das auch probiert – aber auf dem direkten Weg. Mit meinem Freund Danny Wilson zusammen wollte ich ein Loch gradewegs bis nach China graben. Wir sind nur etwa zweieinhalb Meter tief gekommen – aber auch das hat schon eine großartige Festung abgegeben. Hannibal hat die Alpen überquert, und irgendwann kommt im Leben eines Jungen der Tag, wo auch er zum ersten Mal die Straße überquert und sich der Gesellschaft der großen Entdecker anschließt. Scott und Amundsen haben den schnellsten Weg zum Südpol gesucht, Peary und Cook haben dasselbe im Norden probiert, und als ich meinen Söhnen im vorletzten Sommer etwas Kleingeld in die Hand drückte und ihnen erlaubte, sich unten im Dorf eine Limo zu kaufen, da stürzten sie sich auf ihren Fahrrädern zu Tal, als ob es um die Entdeckung des Äquators ginge. Magellan segelte westwärts, um Kap Horn herum, die Südspitze Amerikas – ungeachtet der Warnung en, dass er und seine Mannschaft am Rand der Welt ins Bodenlose stürzen würden –, und mit ebenso wenig Rücksicht auf mögliche Ge fahren ist Huckleberry Finn den Mississippi hinab gefahren. Powell ist dem Colorado River flussaufwärts durch den Grand Canyon gefolgt, obwohl – nein, gerade weil niemand zuvor das gewagt hatte und gerade weil alle anderen es für unmöglich hielten.

Und so standen meine beiden Söhne und ich im Frühjahr 1998 am Snake River und verspürten diesen urzeitlichen Drang, vom Ufer abzustoßen und ins Unbekannte aufzubrechen. Die Schneeschmelze hatte in diesem Jahr besonders heftig eingesetzt, das Flussbett konnte die Wassermassen nicht länger fassen. Im Spätsommer ist das Wasser kristallklar, aber an diesem Tag sah das Wasser eher kakaobraun aus. In der Mitte des Flusses trieben halbe Baumstämme, Wurzelstöcke, verknäuelte Äste und was weiß ich noch alles. Das Wasser strömte erschreckend schnell. Niemand außer uns hatte sich hierher getraut. Zu alledem regnete es auch noch. Aber wir hatten ein nagelneues Kanu und die Paddel bereits in der Hand. Ich muss zugeben, ich war noch nie den Snake in einem Kanu hinuntergefahren – übrigens auch sonst keinen Fluss. Egal, wir sprangen in das Boot und machten uns auf ins Ungewisse, wie Livingstone, als er seinerzeit ins Innere von Schwarzafrika vorstieß.

Im Herzen jedes Mannes steckt ein tiefes, geradezu spirituelles Verlangen nach Abenteuern, mit allem, was an Gefahren und Wildheit dazugehört. Das männliche Herz braucht einen Ort, an dem nichts vorgefertigt ist, nichts bausteinartig, halbfett, nummerncodiert, lizensiert, online, mikrowellengeeignet. Wo es keinen Termindruck gibt, keine Handys, keine Sitzungen. Einen Ort, an dem die Seele Raum hat. Einen Ort schließlich, an dem die Landschaft, die uns umgibt, mit der Landkarte des Herzens übereinstimmt. Sehen wir uns die großen Gestalten der Bibel an: Mose begegnet dem lebendigen Gott nicht im Einkaufszentrum. Er findet ihn (oder wird von ihm gefunden) irgendwo in der trostlosen Öde der Sinai-Halbinsel, weit weg vom Luxus Ägyptens. Dasselbe gilt für Jakob: Er trägt seinen Ringkampf mit Gott nicht im Wohnzimmer aus, sondern in einem Wadi irgendwo östlich des Flusses Jabbok in Mesopotamien. Wohin ging der Prophet Elia, um wieder zu Kräften zu kommen? In die Wildnis. Genau wie Johannes der Täufer und sein Cousin Jesus, von dem es heißt, dass er vom Geist in die Wüste geführt wurde.

Was...