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Vorstadtjunge

Moritz Sturm

 

Verlag Bruno-Books, 2012

ISBN 9783867872638 , 196 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

A-Ware, B-Ware

Natürlich habe ich noch ein Kinderzimmer: Eine Schutzhöhle mit Ikea-Halbmond, Hochbett und hellblauen Tapeten – ich genieße das, und lasse es für meine Eltern so bestehen. In zwei, drei Jahren werde ich mich verabschieden und ausziehen, das ahnen sie zwar, aber ich möchte uns mit dem Thema noch nicht belasten.

Mein Bruder Leonard kommt rein: »Weißt du, wo Papas Kiffzeug versteckt ist? Ich brauch heute was.«

»Hey Leo, du bist einundzwanzig und packst es nicht mal, dein eigenes Gras zu organisieren. Noch alles klar, du Schwachstromleuchte?«

Leonard zieht schweigend ab. Oh ja, Schweigen ist ziemlich angesagt in meiner Familie. Alles Kuscher und Konfliktvermeider. Außer meiner dicken, schweren Mutter. Nur sie hat etwas Ahnung, wie es in mir aussieht. Natürlich weiß meine Mutter, sie hat keinen kleinen Jungen mehr, sondern einen Sohn, der nachts onanierend unter seinem Leuchtsternhimmel liegt, und der – wie alle Söhne – am Geisteszustand seiner Eltern zweifelt. Ob sie mich vermissen wird, wenn ich einmal fort bin?

Nichts gegen meine Familie. Oder doch? Mein Vater macht einen auf kiffenden Hippie und ist ansonsten zu nichts zu gebrauchen. Meine Mutter ist so groß wie breit und liebt mich über alles. Manchmal spielt sie die Intellektuelle. Dann ist sie für niemanden zu sprechen, sitzt alleine im Wohnzimmer, trinkt viel zu trockenen Rotwein und liest Bücher auf Französisch. Das hält sie aber nur ein paar Abende durch, landet schließlich wieder fröhlich auf der Erde und vertändelt ihre Tage mit Telefonieren, Fernsehen und experimentellem Kochen – andere sagen Resteessen dazu.

War da noch was? Ach ja, Balduin und Leo. Leo, mein älterer Bruder, ist noch von jeder Schule geflogen, und Balduin, unser uralter Bernhardiner, stinkt und furzt. Er hat Flatulenzen. Das Wort habe ich in einem Roman gelesen. Dort furzt der Hund hundertmal am Tag. Das kann Balduin auch. Irgendwie passt der Hund zu uns. Darum hasse ich ihn. Er passt zu meiner Sippschaft, einer Hamburger Vorortfamilie mit zu wenig Geld für die Großstadt. Meine Eltern sind ab vierzig nicht mehr vorangekommen. Sie sind stehen geblieben, stecken geblieben. Sie können sich über Tage damit beschäftigen, an welcher Wand und auf welcher Höhe ein neues Ölpanschbild von Oma angenietet werden soll, doch die Mülltüten in der Küche bleiben so lange stehen, bis sie aus Langeweile und Verzweiflung von selbst auf die Straße kriechen.

Weil wir nicht weiterkommen, wohnen wir in Pinneberg, einem verschlafenen Nest, das nicht einmal zu Hamburg gehört. Pinneberg ist bekannt für seine prima Baumschulen – so verschnarcht ist das Kaff. Kleines Dorf, große Hölle. Zum Glück gibt es die Hochbahn in die Stadt. Einfach U-Bahn darf das Ding ja nicht heißen, das wäre zu schlicht für Hamburg. Natürlich wohnen wir nicht in einem dieser tollen Bürgerhäuser an der Außenalster, ganz in weiß, unwirklich, mit Rasen bis zum Wasser, Blick auf die Innenstadt, und einem gepflegten Hund. Einem Irish Setter, Windspiel oder anderen exklusiven Köter, wie sie in den Familien meiner Klassenkameraden mit Rinderhack von Feinkost-Käfer hochgepäppelt werden. Mit Menschen wie Achim von der Alster und Sören Heperdink muss ich zur Schule gehen. Achim von der Alster! Wohnt an der Alster. Heißt wie die Alster. Versnobter geht es doch nicht, oder? Natürlich sind Eva und ich neidisch! Neidisch auf diese Familien mit ihren schlanken Müttern und den schönen Kindern, aprilfrisch, sanft und blond, wie aus der Mercedes-Werbung. Wirklich: Sie umsäuselt Tag und Nacht eine leichte Fahrstuhlmusik – manchmal, wenn ich ganz ruhig und still neben ihnen stehe, kann ich es hören. Sie wirken so zart und federnd und rein, duften fast nach Rosen. Wahrscheinlich baden morgens alle in Weichspüler. Ihre Zähne glänzen, ganz weißes Porzellan. In ihren Häusern fällt kein lautes Wort, sie schlafen tief und traumlos, und alle sind grundgut, glücklich und erfolgreich. Wenn man der Propaganda trauen darf. Erfolgreich, aber scheiße.

Nein, es besteht keine Gefahr, dass ich eines Tages die Schule mit zwei Sporttaschen voller Vanadiumstahl betrete. Ich seh das entspannt, so wie der Typ aus Fight Club: Ich bin kein Psychopath im Button-down-Hemd, der plötzlich ausrastet, einfach so von Raum zu Raum zieht, seinen Armalite AR-10 Karabiner-Gasdrucklader mit Halbautomatik im Anschlag und eine Salve nach der anderen in Lehrer und Mitschüler pumpt. Keiner wird sagen müssen: Er war jemand, den wir schon ewig kannten. Er kam uns näher, als wir jemals glaubten. Das Spiel wäre zu billig. Ein Spiel für dumme Jungs. Stattdessen werden sie einmal sagen: Wir haben ihn unterschätzt. Er war doch einer von uns. Nein: Er war besser!

Ihr fragt euch sicher, warum ich solche getrüffelten Mitschüler habe, obwohl ich nur ein Vorstadtkind, also B-Ware, bin? Das liegt daran, dass mein Bruder, wie erwähnt, bisher noch jede Schule geschmissen hat. Er war sogar schon in der Psychiatrie. Schizophrenie und so. Daher muss ich nun in Hamburgs Elitegymnasium, dem Hanse-Lyzeum, die Familienehre retten. Einer in der Sippe soll es schließlich reißen. Anfangs hielten meine Eltern mich sogar für ein Wunderkind. Aber das hat nichts zu bedeuten. Bei ihren eigenen Blagen sind Eltern schließlich vollkant vernagelt: Das können die dümmsten Monster sein, doch wenn die kleinen Terroristen versetzungsgefährdet sind, ist die Schule schuld! Ich konnte einfach nur früh sprechen. Als ich mit vier Jahren statt von der Tür von der Pforte sprach, hat sich meine Kindergärtnerin fast eingenässt. Pforte. Ja und? Die Worte fallen von selbst aus dem Mund, das strengt nicht an, ich sehe da keine Leistung.

Wunderkinder – das sind sowieso nur dressierte Pudel. Wie kann man nur, mit Schleifchen im Haar, seine Kindheit hinter einem Klavier verbringen? Dazu gehört schon eine deutliche Minderbegabung. Du entkommst deinen Eltern nur, wenn du dich dünn machst und rechtzeitig abtauchst. Meine Noten waren jedenfalls nur mittelmäßig, dafür habe ich gesorgt. Ich weiß nicht, wie meine Mutter es dann doch geschafft hat, mich im Hanse-Lyzeum unterzubringen. Schließlich war ich vorher sogar von der Waldorfschule geflogen! Wahrscheinlich hatte meine Großmutter ihre Finger im Spiel. Alte Freunde. Rotarier oder Lions, irgend so ein Dicke-Hose-Club. Ein bisschen Oper machen für den kleinen Marc. Damals, als wir noch in Hamburg wohnten. Jetzt pendele ich zwischen Pinneberg und Innenstadt. Dafür, dass ich ins Hanse-Lyzeum gehe, bin ich ganz normal geblieben.

Die kurze Episode davor, in der Waldorfschule, habe ich auch überlebt, ohne wunderlich zu werden. Waldorfschule, Hanse-Lyzeum. Hauptsache etwas Besonderes. Was erwarten Eltern eigentlich? Jubel und Hurra? Schule tut weh, Schule ist Teilzeitknast. Alles andere ist Lüge und Kitsch. In meiner Waldorfschule stecken sie dich in ockerfarbene sechseckige Räume. Soll einen das ganz toll durchwirken und beseelen? Sechseckige Klassenzimmer sind doch kein Ausgleich für die beschissene Welt da draußen. Pappe und Attrappe, sagt Oma immer. Warum nicht gleich Sänftenträger am Haupteingang? Da ist mir das Hanse-Lyzeum lieber. Die machen dir wenigstens nichts vor: Setz dich auf deinen Stuhl, und bleib da kleben. Sechs mal 45 Minuten. Für mich geht das in Ordnung, denn das ist ehrlich. Sören Heperdink und Achim von der Alster nehme ich dafür in Kauf.

Während meine Großmutter im Obergeschoss vor dem Fernseher döst und von ihren großen Berliner Jahren träumt, während mein Bruder sich mit dem geklauten Gras zudröhnt und dabei meinen Vater, meine Mutter und auch mich vergisst, während die flachen Wolkenballen am Abendhimmel rot und dunkel die Nacht androhen, krame ich mein Tagebuch heraus. Tagebuchschreiben ist für mich so wichtig wie Zähneputzen. Du wirst all deinen Mist los, ja, du wirst dir überhaupt erst einmal über all deinen Mist klar! Ich habe vor einigen Wochen heimlich im Tagebuch von Evas Schwester Sofie gelesen, es lag offen in Sofies Zimmer herum. Okay, man soll das nicht tun. Ehrensache eigentlich. Aber es lag nun einmal auf Sofies Bett, und sie wusste doch, wie oft Eva und ich in ihrem Zimmer schlafen. Also öffnete ich das Buch. Es war so ein richtiges kleines Poesiealbum, mit Messingschloss und in rosa Plüsch gebunden, obwohl Evas Schwester schon zwanzig ist. Evchen planschte noch im Bad. Ich blätterte das Ding durch, und da stand seitenweise, wirklich seitenweise, in steiler, aufgeschrägter Schrift: Angst. Ich habe Angst. So Angst. Einfach Angst. Nur Angst. Angst. Ich habe Angst, Angst, Angst … Ich habe es schnell wieder fortgelegt und Eva nichts davon erzählt. Ich mag diese Erinnerung nicht, aber sie kommt immer wieder. Die Angst anderer kann dir selbst Angst machen.

Ich fahre den Computer hoch, gehe ins Netz und klicke lustlos bei Finya und GayRomeo herum. Finya ist ein Dating-Portal für Heteros, GayRomeo für Homos. Über beide Seiten habe ich schon einige Treffen verabredet, meistens ging es dabei nur um Sex. Im Internet zu surfen ist auf Dauer genauso öde, wie fünfmal am Tag zu wichsen, doch irgendwie muss man die Pinneberger Nächte ja füllen. Eigentlich macht surfen und chatten nur Spaß, wenn es dein Leben verändert, wenn du die Leute also auch wirklich triffst. Zum Glück ruft Eva an, bevor ich wieder Unfug treibe.

»Na, Marc, alles friedlich bei dir?«

»Friedlich? Gar kein Ausdruck. Friedhofsruhe. Feierabend vom Feinsten: Papa sitzt in der Küche, bis in die Haarwurzeln bedröhnt, mein Bruder ist auch gleich breit, Mama hat heute Bauchtanzkurs, und der Flur stinkt nach der Verdauung von Balduin. Alles so, wie es sein soll. Ich...