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Mit Herzblut - Vom Gastgeber zum Glücksbringer

Ernst Wyrsch, Franziska K. Müller

 

Verlag Wörterseh Verlag, 2012

ISBN 9783037635339 , 204 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Weniger wollen


Als ich an diesem eisig kalten Vorfrühlingstag im März 2011 die prachtvolle Auffahrt des Grandhotels verlasse – ziemlich überstürzt einem neuen Leben entgegen –, blicke ich in den Rückspiegel und hupe dreimal kurz: Eilig zusammengetrommelte Mitarbeiter stehen winkend vor dem Eingang, zuvorderst hat sich Hans postiert, majestätisch hebt er die Hand zum Gruß. Dahinter sehe ich »mein« Hotel, das ich fünfzehn Jahre lang mit Herzblut geführt habe und das mir so unendlich viel bedeutete. Das über hundertjährige, schneeweiß gestrichene Gebäude mit dem angefügten Kuppelbau erhebt sich wie ein Märchenschloss, Schnee überzieht sein Dach mit Glitzerstaub. Es ist ein magischer Moment, ein Abschied für immer, und ich würde lügen, wenn ich behauptete, mein Herz habe in diesem Moment nicht geschmerzt. Gleichzeitig muss ich mich auf das Nächstliegende konzentrieren, zu Hause den bereits gepackten Koffer abholen, um die sofortige Weiterreise anzutreten. Mein Handy klingelt. Es ist Sylvia, die über den Verlauf der – wie sie findet – durch mich provozierten Aktion wenig begeistert ist. Genau gesagt, ist sie sehr aufgeregt und gleichzeitig am Boden zerstört. Ich versuche sie zu trösten: »Immerhin müssen wir nicht unter einer Brücke campieren, Schatz.« Der Scherz findet nur mäßig Anklang. Hätten wir unsere Generaldirektoren-Suite im »Belvédère«, die wir mit den Kindern lange Zeit bewohnten, nicht bereits vor Jahren geräumt, müssten wir nun auch sofort eine neue Bleibe suchen.

Riesige Schneemassen türmen sich zu beiden Seiten der schmalen Zufahrtsstraße, die zu unserem Chalet führt. Es dämmert bereits. Das Haus ist mit hellem Holz verkleidet, verfügt über unzählige Zimmer, die sich über mehrere Stockwerke verteilen, und die riesige Fensterfront mit der Terrasse gibt eine prachtvolle Aussicht ins Tal frei. Mein Zuhause. Allzu oft nahm ich es in den vergangenen Jahren nicht bewusst wahr. Wo sich in Davos der Coop befindet, weiß ich nicht. Metzgerei oder Bäckerei sah ich ebenfalls noch nie von innen. Meine und Sylvias Kochkünste erwiesen sich glücklicherweise als überflüssig, gegessen wurde im Hotel, und andere Haushaltspflichten nahm man uns ebenfalls ab. Als ich über den Rucksack meiner Tochter Jessi stolpere, ahne ich: Die kommenden Monate halten persönliche Herausforderungen bereit, wir werden uns aber auch vermehrt mit den praktischen Aufgaben auseinandersetzen müssen, die ein neuer Alltag mit sich bringt.

Bald fliegt die Dunkelheit an mir vorbei, die Fahrbahn ist regennass. Joe Cocker singt »Leave a Light On«. Der vergangene Tag zieht in Bildern an mir vorbei: Wie sich Sylvia am Morgen schminkt, sich sorgfältig kleidet, in die roten Schuhe mit den hohen Absätzen schlüpft. Nicht ahnend, was auf sie zukommt. Die ernsten Gesichter. Mein Widerstand. Weinende Mitarbeiter. Hans. Ist das Beharren auf meinen Prinzipien und der sofortigen Freistellung egoistisch? Lasse ich mein Team im Stich? Was mögen die Davoser und Davoserinnen denken: Sind sie enttäuscht von mir? Mein Handy summt und brummt, ich lasse es läuten und stelle es schließlich ganz ab. Fragen, die ich beantwortet glaubte, als ich die Entscheidung fällte, dass ich die berufliche Veränderung wagen will, beschäftigen mich erneut. Denn nun vollzieht sich der Sprung in die Ungewissheit viel schneller als geplant.

Die nächsten fünf Tage bin ich in Stuttgart mit der Analyse sämtlicher Dienstleistungsabläufe einer Seniorenresidenz beschäftigt, wie es danach konkret weitergeht, weiß ich nicht. Die vergangenen Jahre stand ich mehrheitlich im Rampenlicht, arbeitete oft sieben Tage pro Woche. Jahrzehntelang verstand ich mich als Leader, genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, hatte Macht, wurde umschwärmt. Werde ich in der Versenkung verschwinden? Kann ich mit der plötzlichen Ruhe und der Zeit umgehen und allenfalls mit der Bedeutungslosigkeit? Werde ich mich auf hohem Niveau in den neuen Aufgaben profilieren können? Wird der Wechsel von der operationellen auf die strategische Ebene – die Wissensvermittlung über Coachings und öffentliche Referate – gelingen? Und welche Zukunft liegt vor dem Grandhotel?

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: In den folgenden Monaten kündigt beinahe das gesamte Kader, der Umsatz des »Belvédère« verringert sich rasant. Und jene Konzernmitglieder, die ich in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder kritisierte, nutzen bald die Gunst der Stunde und erhalten zu meinem Erstaunen Schützenhilfe von den Kollegen, die mich einst zu ihrem Sprachrohr machten. Die Desavouierungskampagne zielt darauf ab, meinem Ruf zu schaden. Als man mich wehrlos glaubt, fällt man mir in den Rücken, was eine alte Vermutung nur bestätigt: Die härteste Konkurrenz und die schlimmsten Feinde liegen nicht außerhalb, sondern innerhalb der Konzerne auf der Lauer.

Bei meiner Rückkehr aus Stuttgart erfahre ich von Hans, dass in Davos viel Klatsch und Tratsch und einige Gerüchte kursieren würden, was in meiner Abwesenheit zu einem großen Artikel in der »Davoser Zeitung« geführt habe: »›Belvédère‹-Direktor musste vorzeitig seinen Tisch räumen«, liest mir Hans am Telefon den Titel vor, verschont mich aber mit dem weiteren Inhalt, der Ungereimtheiten zu meinem schnellen Abgang andeutet. In der Zwischenzeit sind meine ehemaligen Mitarbeiter mit der Organisation einer großen Abschiedsparty beschäftigt, die in einigen Tagen im »Belvédère« stattfinden soll.

Der negative Wirbel um meine Person lässt mich nicht kalt, aber nach dem intensiven Kontakt mit den tapferen Senioren in Stuttgart – sie verbinden mit dem Begriff »Abschied« etwas anderes als ein angekratztes Ego und eine Party mit Champagner – betrachte ich die Ereignisse rund um meinen Weggang bereits mit einem emotionalen Sicherheitsabstand. Es gab in meinem Leben andere Brüche, und stets befasste ich mich mit ihnen, jedoch ohne in ausgeprägten Leidensphasen zu verharren. Man mag diese Haltung als oberflächlich kritisieren oder die gut funktionierende Selbstmotivation als Geschenk des Schicksals betrachten, das der eine in die Wiege gelegt bekommt und der andere nicht. Ich bin der Meinung, dass wir durchaus in der Lage sind, selbst zu bestimmen, ob wir pessimistisch oder optimistisch durchs Leben gehen wollen. Wie wir denken, ist ausschlaggebend, die Gedanken beeinflussen unsere Gefühle und unser Handeln. Mein Umgang mit dem Glück lehrt mich später, auch das Unglück genauer zu betrachten. Von krampfhaftem Optimismus halte ich nichts, doch heute denke ich: Vorausgesetzt, man leidet nicht an einer psychischen oder physischen Erkrankung, sollte der Einzelne sein Unglück nach einer gewissen Zeit bewusst in die Schranken weisen. Wenn man sich nachhaltig schlecht fühlt, leidet zwangsläufig das Selbstwertgefühl. Das ist nicht per se schlecht, hält die Menschen aber davon ab, Neues und Gutes erleben zu wollen.

Die Erlebnisse in Stuttgart haben den positiven Nebeneffekt, dass ich mich beinahe versöhnt fühle, und wenn ich daran denke, dass man mir nach fünfzehn erfolgreichen Berufsjahren das Messer an den Hals gesetzt und Unmögliches verlangt hat, was zu einem Eklat führen musste, empfinde ich keine Bitterkeit. Im Gegenteil. Hätte ich sonst die Gelegenheit, mich mitten am Nachmittag ohne jegliche Verpflichtungen und in friedlicher Stimmung auf einem Liegestuhl auszuruhen? Das Leben ist schön! Die Sonne scheint mir heiß ins Gesicht, auf dem Tisch steht ein Glas Weißwein, daneben liegt ein Buch zu den neusten Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Glücksforschung. Es ist eine Thematik, die mich seit Jahren beschäftigt. Manche nennen es Glück, ich spreche lieber vom Vermögen, Veränderungswünsche zu erkennen und dann jene oft winzigen Schritte anzuregen, die zu einer vertieften Zufriedenheit beitragen können. Schnell anwendbare Formeln für Reichtum, Erfolg, Liebesglück, innere Ruhe, Ausgeglichenheit, ein gutes Selbstbewusstsein – sprich mehr Glück im Leben – ignorieren meiner Meinung nach fast immer einen simplen Grundsatz: Es ist einfacher gesagt als getan und geht weniger schnell, als man denkt. Tipps und Tricks können eine oberflächliche Verbesserung der Lebensqualität bewirken, aber mit der individuellen Problematik haben sie meist wenig zu tun.

In meiner Zeit als Hotelier führte ich Hunderte von ausführlichen Gesprächen mit Gästen, viele glücklich, manche nicht. Jenen, denen es trotz vielerlei Privilegien wie Erfolg, Schönheit und Reichtum an Zufriedenheit mangelt, nicht aufgrund eines spontanen Ärgers oder einer missglückten Investition, sondern weil in ihrer Wahrnehmung Grundsätzliches nicht stimmt, können oft keine näheren Angaben zu ihrem Unglück machen. Das Fehlen von Glück wird als diffuse Missstimmung wahrgenommen. Heute weiß ich: Das vertiefte Appellieren an das Glück ist immer ein Infragestellen jener Umstände, die es scheinbar verhindern. Will man die Zufriedenheit nachhaltig verbessern, kommt man nicht umhin, Zeit zu investieren, um jene...