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Die letzte Konkubine - Roman

Lesley Downer

 

Verlag C. Bertelsmann, 2010

ISBN 9783641047351 , 656 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

»Shita ni iyo! Shita ni iyo! Shita ni... Shita ni ... Auf die Knie! Auf die Knie! Runter ... Runter ...«
Die Rufe wehten über das Tal, so leise, dass es auch das Rascheln der Blätter im Wind hätte sein können. Auf der Passhöhe, wo sich die Straße ins Tal senkte, spitzten vier Kinder mit zerzaustem Haar und in ausgeblichenen, geflickten Kimonos die Ohren. Es war einer jener späten Herbsttage, an denen alles wie gebannt erscheint, wie in atemloser Erwartung. Die Kiefern, welche die Landstraße säumten, wirkten unheimlich still, und die leichte Brise hob kaum die vermodernden roten und goldenen Blätter an, die, zu ordentlichen Haufen zusammengekehrt, ein Stück vom Straßenrand lagen. Ein Sperber kreiste träge, und kurz zog eine Schar Wildgänse über den Himmel. Hinter einer Biegung der Straße stieg der vertraute Geruch von Holzrauch auf, vermischt mit Pferdedung, menschlichen Exkrementen und Misosuppe. Von Zeit zu Zeit krähte ein Hahn, und die Dorfhunde antworteten vereint mit Gebell. Doch abgesehen davon war das Tal still. Normalerweise wäre die Landstraße verstopft gewesen von Menschen, Palankinen und Pferden, so weit das Auge reichte. An diesem Tag war sie vollkommen leer.
So würde sich Sachi stets an diesen Tag erinnern, wenn sie Jahre später daran zurückdachte - die Kiefern alle so hoch und dunkel, wie sie endlos in die Höhe strebten, die Himmelskuppel so blau und so nah, dass man meinte, sie berühren zu können, viel näher als die bleichen Berge, die am Horizont schimmerten.
Sachi war elf, aber klein und schmächtig. Im Sommer war sie so dunkelbraun wie eine der berühmten Kiso-Kastanien. Doch jetzt war ihre Haut erschreckend durchscheinend und blass, fast so weiß wie ihr Atem in der frostigen Luft. Sie wünschte sich oft, so braun und stämmig wie die anderen Kinder zu sein. Sogar Sachis Augen waren anders. Während die Augen ihrer Freunde braun oder schwarz waren, hatten ihre eine dunkelgrüne Farbe, so grün wie die Kiefern im Sommer oder das Moos auf dem Waldboden. Aber insgeheim gefiel ihr diese weiße Haut. Manchmal kniete sie sich vor den trüben Spiegel ihrer Mutter und blickte in ihr blasses Gesicht. Dann nahm sie den Kamm heraus, den sie in ihrem Ärmel verborgen hielt. Er war ihr Talisman, ihr Glücksbringer, wunderschön, glänzend und funkelnd. Der Kamm gehörte ihr schon, solange sie sich erinnern konnte. Niemand sonst hatte so einen. Langsam, nachdenklich, kämmte sie dann ihr Haar, bis es glänzte, und band es mit einem Stück hellrotem Kreppstoff zurück.
Vor zwei Sommern waren Wanderschauspieler durch das Dorf gekommen. Ein paar Tage lang hatten sie Geistergeschichten auf einer rasch zusammengezimmerten Bühne aufgeführt und allen Schauder über den Rücken gejagt. Die Kinder hockten beieinander, erstarrt vor Furcht, beobachteten das Drama einer betrogenen Ehefrau, die vor Kummer stirbt. Am Ende des Stücks schwebte die tote Frau plötzlich vor ihrem treulosen Gatten in der Luft, das Gesicht kreideweiß. Während sie ihr langes schwarzes Haar kämmte, fiel es in Büscheln aus. Die Kinder schrien so laut, dass niemand mehr die Worte der Schauspieler verstehen konnte. Wenn die anderen Sachi jetzt necken wollten, behaupteten sie, dass auch sie ein Geist sein müsse.
»Kränklich«, nannte ihre Großmutter sie. Manchmal hörte das Mädchen, wie sie mit Sachis Mutter schimpfte. »Dein Kind, diese Sa«, grummelte sie dann. »Du verwöhnst sie! Wie soll sie je einen Mann bekommen, so bleich und kränklich, wie sie ist? Und so eitel, kämmt sich dauernd das Haar. Keiner will eine Ehefrau, die ständig vor dem Spiegel hockt. Du brauchst eine Tochter mit breiten, gebärfreudigen Hüften, die weiß, wie man arbeitet, verstehst du? Sonst wirst du sie nie los.«
»Sie ist eben zart«, sagte ihre Mutter dann nachsichtig. »Sie ist nicht wie die anderen Kinder. Aber wenigstens ist sie hübsch.« Stets ergriff sie für Sachi Partei.
Die Antwort ihrer Großmutter war immer dieselbe. »>Hübsch< - das mag ja ganz nett sein. Aber was taugt >hübsch< schon für die Frau eines Bauern?«
Sachi rieb ihre Hände, blies hinein und trat von einem Fuß auf den anderen. Trotz der vielen Lagen rauer Baumwolle, der dick wattierten Jacke, die ihre Mutter für sie aufgetrieben hatte, und der um ihren Kopf gewickelten Tücher war ihr immer noch kalt. Das Einzige, was ihr etwas Wärme spendete, war der in eine Schlinge geknüpfte Säugling auf ihrem Rücken. Die Kleine schlief fest, ihr Kopf wippte hin und her wie der einer Lumpenpuppe. Neben Sachi kauerte ihre Freundin Mitsu. Die beiden waren seit frühester Kindheit unzertrennlich. Äußerlich war Mitsu das genaue Gegenteil von Sachi, so braun und untersetzt, dass sie fast an einen Affen erinnerte, mit kleinen Augen und einer Stupsnase.
Als Mitsu geboren wurde, hatte ihre Mutter die Hebamme gebeten, das Kind zu töten. »Sie ist so hässlich, dass sie nie einen Mann bekommt«, hatte sie gesagt. »Und was machen wir dann mit ihr?« Die Hebamme hatte genickt. Es war eine vernünftige Forderung, viele Kinder wurden gleich nach der Geburt getötet. Die Hebamme spuckte auf ein Stück Papier, legte es dem Neugeborenen über Mund und Nase und wickelte es eng in Lumpen ein. Aber gerade als sie dachten, die Kleine sei tot, hatte sie zu strampeln begonnen und dann zu schreien und zu brüllen. Die Götter, so schien es, hatten beschlossen, sie am Leben zu lassen. »Und wer sind wir, den Göttern ins Handwerk zu pfuschen?«, sagte Mitsus Mutter immer und spreizte ihre von der Arbeit geröteten Hände. Sie schien ihre Tochter wegen ihres wundersamen Entkommens umso mehr zu lieben. Mitsu, ein fröhliches, praktisch veranlagtes, fürsorgliches Mädchen, scherte sich wenig um die Geschichte ihrer legendären Hässlichkeit. Genau wie Sachi trug sie eines ihrer Geschwister auf dem Rücken.
Die Geräusche von der anderen Seite des Tales wurden lauter. Bei angestrengtem Hören konnten die Kinder das Knirschen der Füße, das gedämpfte Klappern der mit Stroh um- wickelten Pferdehufe, das Klirren von Eisen auf Eisen und Eisen auf Stein ausmachen. Über dem Lärm erhob sich ein Chor von Stimmen, zuerst als Gebrabbel, dann zunehmend deutlicher, in Singsangtönen immer und immer wiederholt: »Shita ni iyo! Shita ni iyo! Shita ni... Shita ni...«