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Würde - Roman

Andrew Brown

 

Verlag btb, 2010

ISBN 9783641047337 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

»Hallo. Ich heiße Abayomi. Bitte treten Sie ein.«
Diese wenigen Worte werden sein Leben für immer verändern. Der Klang ihrer Stimme, so nah an seinem Ohr, macht eine Veränderung fast unabdingbar. Wie bei jedem ersten Mal geht auch hier etwas Wesentliches verloren, und zugleich wird eine neue Erkenntnis gewonnen.
Er kann sie noch nicht sehen. Sie steht im Schatten der Eingangstür, geblendet vom Sonnenlicht, das grell auf die weißen Wände fällt. Um ihre Gestalt auszumachen, kneift er die Augen zusammen. Aber bereits ihre Stimme lässt erahnen, dass er mit diesem Schritt einen Weg einschlägt, der in starkem Widerspruch zu seinem bisherigen Leben stehen wird. Der sinnliche Singsang, der Klang ihres fremdländischen Akzents, die erotische Atmosphäre - all das verbindet sich im Bruchteil eines Augenblicks zu einem Ganzen, das ihn beinahe das Gleichgewicht verlieren lässt. Alles trägt eine Frische in sich, die ihn aufrüttelt und aus seiner trägen Gesetztheit reißt.
Selbst wenn er sich jetzt umdrehte und wieder ginge, bliebe ihm etwas Reines und Ergreifendes im Gedächtnis. Er könnte sich irgendwo hinsetzen, umgeben von Betriebsamkeit und Lärm, und sich diese Erinnerung vor Augen führen. Er könnte sie wie einen kleinen Kieselstein in die Tasche stecken und mit dem Daumen immer wieder über die glatte Oberfläche streichen. Oder er könnte sie in einer samtgefütterten Schatulle aufbewahren und manchmal, wenn er allein wäre, herausholen und betrachten.
Es sind nur wenige Schritte, die ihn zu dieser Tür geführt haben. Gewöhnliche Entscheidungen, die großenteils spontan getroffen wurden, kaum merklich - und doch alle auf diesen einen Punkt zulaufend, auf diese Initiation. Das Ziel seiner halbbewussten Handlungen liegt hinter dieser Tür, in dem dämmerigen Raum, zu dem sie führt. Verlockend und doch heimtückisch. Vielleicht könnte er dem Sog jetzt noch Einhalt gebieten. Er könnte sich zurückziehen, sich entschuldigen und gehen. Oder er könnte einen Schritt nach vorn tun und eintreten.
Ein Schritt zurück - die Tür würde sich wieder schließen, und er würde sich später nur noch an einen kurzen Blick in eine andere Welt erinnern.
Ein Schritt nach vorn - und die Tür würde hinter ihm zufallen. Er würde in einen tosenden Sturm treten, der ihn auf einen wilden Pfad aus Tod und Wiedergeburt triebe. Einmal im Inneren des Hauses wäre für ihn die Straße vor der Tür für immer verschwunden.
Eines weiß er: Über die gleiche Schwelle wird er kein zweites Mal als derselbe Mann treten.
Seine Freunde kennen ihn als zuverlässig und integer. Er jedoch vermutet, dass dies in Wahrheit nur höfliche Umschreibungen für »langweilig« sind. In den Augen seiner Mitmenschen bleibt er stets der Gleiche: alltäglich, konturenlos. Keiner ahnt, wie kurz er davorsteht, die Kontrolle zu verlieren. Er malt sich immer wieder aus, wie er loslässt, wie er seinen Gefühlen freien Lauf lässt - wie einer, der im türkisgrünen Wasser einer Bucht treibt, Arme und Beine gespreizt, weit vom Ufer entfernt.
Einmal träumte er, ein Astronaut zu sein und mit schweren Stiefeln auf sein Raumschiff zu klettern. Er blickte in die Gischt aus Sternen hinauf. Dort oben war es vollkommen still. Dann ging er in die Hocke und sprang. Sein Körper schwebte davon, in den grenzenlosen Weltraum hinaus. Als er aufwachte, lastete eine schwere Traurigkeit auf ihm.
Sein Leben wurde im Lauf der Jahre zu einer Anhäufung aus Bedauern und Reue - der Möglichkeiten wegen, die sich ihm boten und nicht ergriffen wurden, der Chancen wegen, die er nicht zu nutzen wagte. Voll Missmut blickt er zurück. Und trotzdem: Panik erfüllt ihn bei der Vorstellung, seinen bisherigen Weg zu verlassen. Er fühlt sich wie ein Fliesenleger, der während der Arbeit auf einmal merkt, dass sein Muster asymmetrisch verläuft, aber nichts mehr dagegen tun kann. Verbissen fährt er mit seiner Tätigkeit fort, wobei er mit jeder neuen Fliese weiter von seiner ursprünglichen Linienführung abkommt.
Es erscheint ihm, als hätte er sich sein ganzes Erwachsenenleben lang auf einer Verkehrsinsel befunden, umgeben von vielbefahrenen Straßen und Erwartungen. An manchen Tagen trottet er wie ein Zugpferd mit Scheuklappen dahin. An anderen stolpert er verwundet auf einem schmalen Grünstreifen entlang, während große Lastwagen an ihm vorbeidonnern. Keiner bemerkt sein Bluten, sein unsicheres Wanken. Für die anderen verfolgt er entschlossen seinen Weg.
Täglich tauchen kleine Abzweigungen auf, es werden scheinbar unwichtige Entscheidungen gefällt, die ihn jedoch immer weiterführen. Die Gabelungen sind so unmerklich, dass er auf derselben Insel zu bleiben scheint und lange nicht einmal bezweifelt, dass diese Insel seine Bestimmung ist.
Angst, Bequemlichkeit, Ekel - das sind die Zäune, die ihn eingrenzen. Sie mögen kaum zu erkennen sein, und doch sind sie stärker als jede Fessel. Wenn er die Insel jetzt verlässt, wird er mit anderen Welten zusammenstoßen - Welten, die nur wenige Zentimeter entfernt an ihm vorbeirauschen. Etwas Unbekanntes wird ihn ergreifen, und diese Möglichkeit jagt ihm Furcht ein. Die Vorstellung ängstigt ihn, frei dahinzulaufen, hin- und hergeschleudert zu werden durch den Zusammenprall mit fremden Menschen. Aber zugleich weiß er, dass er das Ende seines bisherigen Weges erreicht hat und sich jetzt entscheiden muss: Entweder überwindet er die Grenze, oder er schreckt vor ihr zurück und erstarrt für immer.
Sie steht hinter der offenen Tür, vor den neugierigen Blicken der Vorübergehenden verborgen, und wartet darauf, dass er eintritt. Er holt tief Luft und macht einen Schritt in den Gang hinein. Sie weicht nicht zurück. Jetzt ist er ihr ganz nah. Der Hausflur liegt im Dämmerlicht, das nach der grellen Sonne auf der Straße angenehm ist. Es riecht nach Sandelholz, Zedern und Palmöl.
Der Duft erinnert ihn an ein Strandhaus am Meer von Inhambane, wo er als Kind gewesen war. Er saß dort auf einer Holzveranda und bohrte die Zehen in den warmen Sand, während über ihm im nachmittäglichen Wind Palmwedel rauschten. Neugierig beobachtete er Fischer mit entblößten Oberkörpern, die ihre Boote an den kleinen Strand zogen. Die abblätternden Farben der Planken leuchteten rot, grün und gelb. Das nach Teeröl riechende Holz lief zu einem Kiel zusammen, der eine tiefe Spur im Sand hinterließ. Kleine Fische waren an zusammengeknüpfte Schnüre gebunden, das Salzwasser tropfte von den muskulösen Rücken der Männer.