dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Geschichte der Deutschen

Wilhelm von Sternburg

 

Verlag Campus Verlag, 2005

ISBN 9783593400402 , 304 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

12,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

|5|Für Carla

 

|9|Warum über Geschichte nachdenken?


Geschichte ist öde. Die Mehrheit der Schüler in aller Welt hat dieses Verdammungsurteil zweifellos schon vor Urzeiten gefällt. Zahlenfriedhöfe, pathetische Schlachtengemälde, nervige Statistiken, in unverständlicher Sprache abgefasste Dokumente, staubige Grabfunde, Tonscherben und abgegriffene Münzen oder die endlosen Beschreibungen von Domschätzen und Herrschaftsinsignien – wer soll da nicht einschlafen?

Geschichte ist faszinierend. Sie erzählt von unserem Herkommen und dem Werden unserer Umwelt. Sie erklärt uns unendlich vieles: warum unsere Vorfahren immer wieder Krieg führten, warum Elend und Hunger die Völker heimsuchten, warum die Eisenbahn, der Telegraf oder der Computer die Welt veränderten, warum die Frauen in Europa um ihre Gleichberechtigung so lange kämpfen mussten, warum Deutschland erst so spät eine Demokratie wurde, warum es wichtig war, die Europäische Union zu gründen. Geschichte löst längst nicht alle, aber doch manche Rätsel unseres gesellschaftlichen Alltags.

Mein Interesse an der Vergangenheit begann im Religionsunterricht. Ich war in der siebten Klasse und wir lasen den Roman Quo vadis?, in dem der polnische Autor Henryk Sienkiewicz aus der Zeit der Christenverfolgungen im Römischen Reich erzählt. Mich fesselte weniger der religiöse Hintergrund dieses Romans als vielmehr die Schilderung des Lebens im alten Rom. Mein Vater wies mich wenig später auf die Jugendbuchausgabe von Felix Dahns Ostgoten-Saga Ein Kampf um Rom und Gustav Freytags Epos Die Ahnen hin, in dem die Geschichte der Deutschen seit den Tagen der Germanen romanhaft dargestellt wird. Zugegeben: Heute, gut 50 Jahre später liest kaum noch einer diese beiden Wälzer. Nicht nur die Jugendlichen greifen lieber zu den Asterix-Comics, in denen die Kelten und Germanen als rauf- und saufwütige Gesellen durch die Lande ziehen. Oder sie kaufen eine Kinokarte, um die Abenteuer von König Artus, seiner schönen Frau Guinevere und den Rittern der Tafelrunde auf der Leinwand zu verfolgen. Mir aber eröffnete sich damals Buchseite |10|um Buchseite eine neue Welt. Ich begann, über mein eigenes kleines Leben hinauszublicken.

Bald entdeckte ich auch, wie widersprüchlich Eltern und Lehrer, Mitschüler und Freunde über die Berichte in den Zeitungen oder im Radio (Fernsehen gab es damals noch nicht) die Welt deuteten, wie sie über das Heute sprachen und sich dabei häufig überaus einseitig auf das Gestern beriefen. Ihre Urteile über die Vergangenheit und damit auch die Gegenwart basierten in der Regel weniger auf Fakten als auf ideologischen Vorurteilen, denen sie durch den Einfluss ihrer Umgebung erlegen waren. Für meine Eltern und ihre Bekannten beispielsweise war der Erste Weltkrieg aus deutscher Sicht ein Verteidigungskrieg, zu dem die neidischen Nachbarn uns im August 1914 angeblich gezwungen hätten. Über Hitler und den Nationalsozialismus sprachen die Erwachsenen in meiner Jugend kaum. Wenn diese Zeit überhaupt thematisiert wurde, dann wiesen sie entschuldigend auf die soziale Not und die hohe Arbeitslosigkeit in den Jahren vor der Errichtung der Diktatur hin. Und natürlich hatten sie fast alle nichts von den Untaten der Nazis gewusst.

Als ich dann in den nächsten Jahren die Arbeiten der Historiker las, wurde ich immer misstrauischer. Die häufig aggressive und sehr einäugige Betrachtung der Ereignisse und der Menschen, die sie bewirkt hatten, ließ mich ahnen, dass die Wirklichkeit komplizierter ist, als es uns die Schlagzeilen der Medien oder die Wahlkämpfer der Parteien zu suggerieren versuchen. Historische Schuld und Unschuld, die Opfer und die Täter der Geschichte – das war und ist offensichtlich nicht so einfach, wie es die nationalen Propagandisten des Ruhmes der Deutschen (oder Engländer, Franzosen, Italiener, Russen, Amerikaner ...) immer wieder verkünden.

Es wurde mir immer klarer, dass das Denken und Handeln der Völker im Alltag des Heute tief geprägt ist von ihrer Vergangenheit. Sitten- und Moralansprüche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen, Arbeitsethos und Religion, Gesetze und gesellschaftliche Tabus, Sprache und kulturelle Eigenarten – vieles davon beruht auf jahrhundertealten Traditionen. Die Vergangenheit ist vielfach höchst lebendige Gegenwart.

Allmählich wurde mir auch bewusst, dass die Helden meiner Jugend – Cäsar, Karl der Große, Napoleon, Bismarck – für Krieg, Mord und Elend verantwortlich waren. Der Heroismus der Geschichtsschreibung rechtfertigte nur allzu häufig die Taten der gesellschaftlichen Eliten und vergaß darüber die unzähligen Opfer des Handelns von Königen und Fürsten, Feldherren und Kirchenführern. Cäsar hinterließ in Gallien eine verbrannte Region. Karl der Große befahl die Hinrichtung |11|von über 4 000 Sachsen. Die mittelalterlichen Päpste dachten in der Regel nicht an Gott, sondern an die Vermehrung von Macht und Reichtum. Luther, der große Reformator, war ein Judenhasser. Die goldgierigen Konquistadoren Hernando Cortez und Francisco Pizarro vernichteten mit Feuer und Schwert und unter dem Zeichen des Kreuzes die Azteken- und Inkareiche in Mexiko und Peru. Der Dreißigjährige Krieg wurde vom Habsburger Kaiser Ferdinand II. und dem Schweden-König Gustav Adolf, von den Generälen Wallenstein und Tilly im Namen der Religion geführt, aber es ging in erster Linie um Geld und Macht und der Krieg verwüstete Mitteleuropa. Als Napoleon seine Eroberungspläne realisierte, mussten Hunderttausende Franzosen, Italiener, Engländer, Russen, Österreicher, Bayern und Sachsen sterben. Bismarck führte drei verlustreiche Kriege, um die Demokratie in Deutschland zu verhindern und die Herrschaft der Hohenzollern im von ihm neu gegründeten Deutschen Reich zu sichern. Im 20. Jahrhundert verblutete Europas Jugend während des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben vor Verdun und auf den Schlachtfeldern Flanderns. Dreißig Jahre später starben Hunderttausende im eisigen Stalingrad, weil Hitler die Welt erobern wollte. Die sozialistische Utopie, auf die sich der Kommunismus berief, mündete im terroristischen Stalinismus. Der deutsche Nationalsozialismus gebar das Unvorstellbare, die Ermordung des europäischen Judentums.

Ich musste es erst lernen: Geschichte ist Chaos. Der Weg des Fortschritts, den wir uns optimistisch als große Menschheitsleistung anrechnen, bleibt weitgehend eine Illusion. Triumph und Fall der Völker und ihrer Lenker stehen dicht nebeneinander. Goethes Graf Egmont, der im 16. Jahrhundert zur Rebellion der Niederländer gegen ihre spanischen Unterdrücker aufrief und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, wusste um die Hilflosigkeit des Menschen und der Mächte: »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«

In meiner Jugend glaubte ich, die Völker seien fähig aus der Geschichte zu lernen, zeigte sie doch, dass vor allem Krieg und Elend die vergangenen Jahrhunderte bestimmt hatten. Die Sieger von heute waren fast immer die Verlierer von morgen. Weltreiche entstanden und vergingen. Die kurzen Perioden des Friedens bescherten den Menschen in der Regel sehr rasch Wohlstand. Der Krieg dagegen machte stets wenige reich und ließ die Massen verarmen. Wissen wir das nicht alles, wenn wir zurückblicken auf das, was war?

|12|Hoffnungsschimmer hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Im Westeuropa unserer Tage genießen wir die längste Friedensperiode und trotz des viel beschworenen wirtschaftlichen Niedergangs eine Zeit des Wohlstands, die es für uns so in der Geschichte noch nicht gegeben hat. Und sind da nicht die großen Ideen eines Platon, Aristoteles, Spinoza oder Kant? Die Bücher von Ovid, Dante, Cervantes, die Dramen und Komödien Shakespeares oder der europäischen Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts? Die unsterblichen Kunstwerke der griechischen Dramatiker und Bildhauer? Die Bilder Michelangelos, Botticellis, van Goghs oder Kandinskys? Gibt es nicht die herrliche Musik von Bach, Beethoven, Gustav Mahler ? Hat die Welt nicht Pest und Cholera, Tuberkulose und Diphtherie weitgehend besiegt? Haben die Dampfmaschine, die Elektrizität und die moderne Technik nicht Millionen Arbeiter von den Härten schwerster Handarbeit befreit, die in den vergangenen Jahrtausenden das Leben ihrer Vorfahren bestimmte? Geschichte ist janusköpfig. Sie hat immer zwei Seiten. Verbrechen und menschliche Größe stehen eng beieinander.

Hier wird die Geschichte der Deutschen erzählt. Wir sollten aber nie vergessen, dass es eine isolierte nationale Geschichte im Grunde nie gab. Immer war diese eingebettet in die Geschichte ihrer Nachbarn, ja in die...