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Die Alten der Welt - Neue Wege der Alterssicherung im globalen Norden und Süden

Lutz Leisering

 

Verlag Campus Verlag, 2011

ISBN 9783593411248 , 450 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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41,99 EUR

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Wir sind Zeugen der 'Entdeckung' der alten Menschen in den Ländern des globalen Südens. Bis heute dominieren Kinder unsere Wahrnehmung von Entwicklungsländern. Hilfswerke und Spendenaufrufe beziehen sich meist auf Kinder, in ihnen wird die Zukunft ihres Landes gesehen und ihr Anblick berührt uns, sei es durch dargestellte Not oder durch das Lächeln eines kleinen Kindes. Es gibt gute Gründe, sich in besonderem Maße um die Kinder zu kümmern. Zugleich sind jedoch die alten Menschen in unserer Wahrnehmung vernachlässigt worden. Erst seit den 2000er Jahren werden alte Menschen von internationalen Organisationen als eine besondere Adressatengruppe wahrgenommen - als von Armut betroffen, als sozial marginalisiert und diskriminiert und als Opfer familialer Gewalt. Alte Menschen sind jedoch nicht nur Objekte von Hilfebekundung. Alte sind, etwa in der Sicht von HelpAge, der prägenden internationalen Nichtregierungsorganisation, die sich für alte Menschen einsetzt, auch soziale Akteure, die einen wesentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten. Großmütter in AIDS-Familien im südlichen Afrika kümmern sich um ihre verwaisten Enkel, und alte Menschen tradieren wertvolles Wissen und tragen so zur Lösung gesellschaftlicher Probleme vor Ort bei. Quantitativ sind alte Menschen immer weniger vernachlässigbar. Es ist mit einer Zunahme des Anteils alter Menschen in der Bevölkerung weltweit und auch im globalen Süden zu rechnen. Von heute gut zehn Prozent dürfte der weltweite Anteil im Jahre 2050 auf über 21 Prozent steigen. Schon heute leben fast eine halbe Milliarde alte Menschen in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, das sind etwa zwei Drittel der globalen Alten (Walker Bourne et al., in diesem Band). Dieser Band exploriert die Entstehung einer globalen Altenfrage im Sinne einer neuen 'sozialen Frage' (zum Begriff der 'sozialen Frage' siehe Kaufmann 2003: 33). In den Ländern des globalen Nordens werden die Alten als Gruppe nicht entdeckt, sondern wiederentdeckt. Denn im 'goldenen Zeitalter' westlicher Nachkriegssozialstaaten ging es den alten Menschen gut, vor allem in konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimen wie Deutschland und Schweden. Die Sozialpolitik investierte viel in Alterssicherung, mit Rentenpolitik waren Wahlen zu gewinnen. Weniger als zwei Prozent der alten Menschen bezogen zuletzt in Deutschland Sozialhilfe - die 2003 eingeführte privilegierte Sozialhilfe, die Grundsicherung im Alter, hat die Ziffer nur wenig wachsen lassen -, während die Sozialhilfe- und Armutsquote von Kindern und Jugendlichen weit höher liegt. Schon früh sprach Richard Hauser (1997) von einer 'Infantilisierung' der Armut, womit er auf die 'Altersinversion' der Armut hinweisen wollte, nämlich den Wechsel von der besonderen Armutsbetroffenheit alter Menschen bis in die 1960er Jahre, die noch lange danach die öffentliche Wahrnehmung prägte, zur besonderen Armutsbetroffenheit junger Menschen. Aber gerade wegen der guten sozialstaatlichen Sicherung der Alten als 'Versorgungsklasse' (Lepsius 1990) waren die Alten als Problemgruppe in der öffentlichen Wahrnehmung lange verschwunden. Dies hat sich in Deutschland erst seit den 1990er Jahren und endgültig in den 2000er Jahren geändert. Das 'demographische Altern', also die Zunahme des Anteils alter Menschen an der Bevölkerung, in Kombination mit dem wirtschaftspolitischen Ziel der Senkung der Lohnnebenkosten, wurde auch in Deutschland als Anlass gesehen, die öffentlichen Alterssicherungssysteme umzubauen. Zudem tragen wirtschaftliche Veränderungen, die hohe Arbeitslosigkeit und die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors, zu den Problemen der öffentlichen Rentensysteme bei, soweit diese als Sozialversicherung organisiert sind, da diese Veränderungen die Beitragsbasis erodieren. Hinzu kam ein Wandel in den Wahrnehmungen und Wertorientierungen der politischen Öffentlichkeit. Im Zeichen einer 'neuen Generationengerechtigkeit' wurde eine relative Benachteiligung der jungen Generation gegenüber der älteren Generation durch die bestehenden Alterssicherungssysteme moniert (Leisering 2004). In der Folge kam es zu tief greifenden Rentenreformen, bei denen öffentliche Renten beschnitten und private Altersvorsorge ausgebaut wurde. Dies war in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten zu beobachten, so bei der Rentenreform 1998 in Schweden und bei der Riester-Reform (2001) in Deutschland und, noch einschneidender, bei der deutschen Folgereform von 2004 (zu Deutschland siehe Bönker 2005, Berner 2009; zu Deutschland und Großbritannien im Vergleich Leisering 2011; zum internationalen Vergleich Ebbinghaus 2011). Als Folgeproblem der Rentenreformen und der ihnen zugrunde liegenden wirtschaftlichen und demographischen Veränderungen kehrten Fragen von Armut und Ungleichheit im Alter zurück. Die gesteigerte Rolle privater Vorsorge bringt neue Risiken für die Vorsorgenden mit sich, die im Zuge der globalen Finanzkrise seit 2008 für eine breite Öffentlichkeit greifbar wurden. Dies betrifft besonders liberale Systeme wie in Großbritannien, in denen der hohe Anteil privater Vorsorge die Lebenslagen alter Menschen schon immer stärker von Marktvolatilitäten und den Unterschieden individueller Vorsorgefähigkeit abhängig machte, aber auch sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten, insofern sie, wie die Niederlande, auf umfangreiche betriebliche Altersversorgung gesetzt haben, die auch auf Anlagen an Kapitalmärkten basiert. Aber auch in Deutschland ist die erwartbar zunehmende Armut im Alter wieder zu einem Thema geworden (Bäcker, in diesem Band). Deutschland und radikaler noch Schweden haben ihre Sozialversicherungen - in Deutschland durch den 2004 eingeführten 'Nachhaltigkeitsfaktor', in Schweden durch umlagebasierte Rentenkonten (Wilke, in diesem Band) - auf sich verändernde demographische und wirtschaftliche Bedingungen eingestellt. Damit sind Rentenanpassungen nach unten vorprogrammiert. Die Grundsicherung im Alter wurde in Deutschland nicht zufällig im Rahmen der Riester-Reform eingeführt. Allerdings scheinen einige Länder von der drohenden Altersarmut aufgrund des institutionellen Arrangements ihrer Alterssicherung weniger betroffen zu sein als Deutschland (siehe den Beitrag von Riedmüller und Willert und den von Döring, in diesem Band). 2Die Altenfrage in der globalen Politik In Bezug auf den globalen Süden wächst langsam das Bewusstsein, dass alte Menschen eine Gruppe sind, die verstärkte und spezifischere Aufmerksamkeit braucht. Es ist bemerkenswert, dass in Deutschland erst 2005 eine Nichtregierungsorganisation gegründet wurde, HelpAge Deutschland, die sich den Belangen alter Menschen weltweit widmet. Dagegen gibt es zahllose Nichtregierungsorganisationen und Initiativen, die sich für Kinder engagieren. HelpAge International wurde bereits 1983 in London gegründet (Walker Bourne et al., in diesem Band). In der herkömmlichen Entwicklungszusammenarbeit sind alte Menschen naturgemäß bei zahlreichen Maßnahmen immer schon mit abgedeckt, wie andere Altersgruppen. Aber es gab lange kaum spezifische Programmatiken und Maßnahmen, die sich auf Alte richteten (Lloyd-Sherlock 2010 und in diesem Band). In den 2000er Jahren ist soziale Sicherung generell zu einem Thema der Entwicklungszusammenarbeit geworden (Barrientos und Hulme 2010), was auch die Aufmerksamkeit für soziale Sicherung alter Menschen gefördert hat. Man kann von einer Sozialpolitisierung der Entwicklungszusammenarbeit sprechen, greifbar etwa im zunehmenden Gewicht sozialer Sicherung im Aktivitätsspektrum der Weltbank (Hall 2007; Holzmann et al. 2003). Manche Beobachter deuten die Stärkung 'sozialer' Elemente in der globalen Politik als Teil eines 'Endes des Washington Consensus'. Die 'sozialen' Elemente sind Teil einer 'sozialen Globalisierung', die die wirtschaftliche Globalisierung flankiert (World Commission on the Social Dimension of Globalization 2004) und einer seit den 1990er Jahren sich breit formierenden 'globalen Sozialpolitik' (Deacon 1997; Leisering 2010). Speziell in der Debatte zu Sozialgeldtransfers (social cash transfers) - also den seit den 1990ern zunehmend und seit Mitte der 2000er Jahre von globalen Akteuren breit befürworteten sozialhilfe- und rentenartigen Leistungen in Entwicklungsländern (Leisering et al. 2006, 2009; Barrientos 2012) - spielen beitragsfreie Renten für alte Menschen (Sozialrenten, social pensions) eine hervorgehobene Rolle (Knox-Vydmanov, in diesem Band). Die beschriebene Entdeckung und Wiederentdeckung der alten Menschen im globalen Süden beziehungsweise im globalen Norden sind zunächst getrennt voneinander verlaufen. Es sind getrennte Diskurse und sich kaum überlappende Gemeinschaften von Experten, Wissenschaftlern und politischen Akteuren, die sich jeweils mit den Alten im Süden und den Alten im Norden beschäftigen. Die Bedingungen in den beiden Weltteilen unterscheiden sich nachhaltig. Im Süden ist die Beschäftigung der Menschen überwiegend informell, und auch bei der sozialen Sicherung im Alter und bei anderen Risikolagen spielen informelle Formen, vor allem Familie und Verwandtschaft, eine große Rolle. Trotzdem haben globale Diskurse eingesetzt, bei denen alte Menschen im globalen Norden und im globalen Süden erstmals zusammen ins Blickfeld rücken. Dies rechtfertigt die Rede von den 'Alten der Welt'. In der soziologischen Forschung wird der weltweite Vergleich von vorher als nicht vergleichbar angesehenen sozialen Sachverhalten als ein Kennzeichen der Entstehung einer Weltgesellschaft gesehen (Heintz 2010). In dem Maße, wie alle alten Menschen der Welt als eine Gruppe gesehen werden, wird auch in dieser Hinsicht die Welt zu einer Welt, zu einer Weltgesellschaft.