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Gemeinsam statt einsam - Meine Erfahrung für die Zukunft

Henning Scherf

 

Verlag Verlag Herder GmbH, 2010

ISBN 9783451333279 , 220 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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7,99 EUR


 

1. Wie Solidarität zu meinem Lebensthema wurde


Was ist eigentlich Solidarität? Meine Antwort darauf hat mit einer Geschichte zu tun, die ich als kleiner Junge miterlebt habe. Es gab in unserer Kirchengemeinde St. Stephani in Bremen eine Familie Abraham, getaufte Juden. Der Vater ein einfacher, bescheidener Mann, ein Schuhmacher, die Mutter Hausfrau, dazu zwei Töchter in meinem Alter, Anni und Hedwig. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und ihre rassistischen Gesetze durchsetzten, da wurden auch die vier Abrahams als Juden erfasst. Obwohl Christen, mussten sie den gelben Stern tragen. Diese Vier haben überlebt – in Bremen. Dabei wurden von über 1.400 Bremer Juden mehr als 700 nach Minsk, Auschwitz und in andere Vernichtungslager deportiert und dort umgebracht.

Diese Vier haben überlebt, weil eine kleine Kirchengemeinde zusammengehalten hat. Dabei war die Gestapo ständig dabei, im Alltag der Gemeinde und im Alltag ihrer Mitglieder. St. Stephani war schon damals als Teil der Bekennenden Kirche und als eine linke, pazifistische Kirche bekannt. Die Opportunisten, die Deutschchristen, die für Hitler beteten, Hakenkreuzfahnen aufhängten, ihren Landesbischof Heinz Weidemann Naziparolen reden ließen und sie beklatschten, die saßen im Bremer Dom. Unser Pastor Gustav Greiffenhagen begrüßte jeden Sonntag die Gestapo-Leute von der Kanzel: „Liebe Gemeinde, dort sind die beiden Herren von der Geheimen Staatspolizei, die schreiben alles auf, was hier gesagt wird.“ Greiffenhagen hatte bei dem großen Theologen Karl Barth promoviert, war sein Assistent gewesen und wäre Professor geworden, wenn nicht die Nationalsozialisten seine Karriere beendet hätten. Weil die Kirche ihn nicht bezahlen wollte, übernahm das unsere Gemeinde – so wie es auch bei Dietrich Bonhoeffer der Fall war. Gustav Greiffenhagen hatte sechs Kinder. Und trotzdem war er fest davon überzeugt, die Schutzhaft, in die er durch seine NS-kritische Haltung geriet, auf sich nehmen zu müssen – für seine Kirche, die Verrat am Christentum beging und sich den Nationalsozialisten andiente. Er zeigte seine Verachtung für die Nazis offen und versammelte dadurch auch die Gemeinde hinter sich. Die Mitglieder haben auf ihn gehört; dabei waren sie nicht alle Helden. Sie haben auch gezittert – und sie hatten Grund dazu. Mein Vater und andere Kirchenvorsteher wurden von der Gestapo verhört und über Nacht festgehalten. Überzeugten, widerständigen Christen drohte die Deportation. Und: Sie wussten, was Konzentrationslager waren, sie wussten, was dort geschah. Greiffenhagen hatte es ihnen selbst gesagt.

Und doch hat diese Gemeinde bis zum Kriegsende alle Versuche, die Abrahams zu deportieren, abgewehrt. Hedwig, die später zur jüdischen Religion übertrat, den Namen Sara-Ruth annahm und heute Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Oldenburg ist, erzählt immer wieder, wie die Gemeindemitglieder sich vor sie und ihre Familie gestellt und gesagt hätten: „Ihr müsst uns alle deportieren, bevor ihr sie deportiert. Wir lassen nicht zu, dass sie von uns getrennt werden.“ Und solche Situationen gab es immer wieder – im Gottesdienst, bei Gemeindeversammlungen, bei Gemeindeabenden, aber auch bei uns oder den anderen Familien zuhause, wo die Vier ab und an unterkamen.

Als kleines Kind habe ich mir Hedwigs Mantel angezogen, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt, einen Judenstern zu tragen. Und ich erinnere mich daran, dass unsere Mutter uns verbot, bei unserem Krämer mehr zu kaufen als sonst, wenn die Abrahams bei uns waren. Krämer Rehmstedt war Nazi und sie hatte Angst, dass er etwas bemerken könnte. Wir kleinen Bürschchen, wir mussten nicht nur alle den Mund halten, sondern wir mussten zum Einkaufen dann auch zum zweiten und dritten Krämer laufen. Und Einkaufen hieß bei uns anschreiben lassen, weil mein Vater so wenig Geld hatte. Seine ohnehin kleine Drogerie wurde von den Nationalsozialisten boykottiert, davor stand ein SA-Posten und sagte: „Kauft nicht bei dem, der ist gegen Deutschland.“

Diese Gemeinde wurde von sehr unterschiedlichen Menschen getragen. Von Geschäftsleuten und Intellektuellen, aber auch von Arbeitern und Angestellten. Die Stephani-Kirche lag damals in einem Arbeiter-Viertel, das Armenhaus befand sich direkt daneben. Erich Hase zum Beispiel, ein Buchhalter, war mutig genug, sich mit seiner Frau im kirchlichen Bruderrat zu engagieren. Ein schlichter Mann, aber fest im Glauben. Er wurde nach 1945 Verwalter der Gemeinde. Und es gab das linke Kinderarztehepaar Michaelis, das vor allem Arbeiterkinder medizinisch versorgte. Oder die Gerholds, Buchhändler und Antiquare. Die gaben einen Großteil dessen, was sie verdienten, sonntags in die Kollekte. Gottfried Gerhold hat mir später „Hitler, mein Kampf“ zum Lesen gegeben, sein persönliches Exemplar. Das Buch war voll mit handschriftlichen Notizen – „das ist Verbrechertum“, „das ist Aufruf zum Mord“, „das ist Völkermord“. Noch vor 1933 hatte dieser brave Buchhändler erkannt, was Hitler plante. Der hat all das gesagt, was sowohl Pius XII. als auch viele andere katholische, aber vor allem auch evangelische Kirchenfürsten nicht gesagt haben. In dieser Gemeinde gab es auch zwei Lehrerinnen, die mich stark beeindruckt haben. Magdalene Thimme, Altphilologin und Theologin, offene Gegnerin der Nazis, wurde 1938 aus dem Schuldienst ausgeschlossen. Meine Patentante, Elisabeth Forck, auch unverheiratet, hat in der Nazizeit Juden mit unglaublicher Energie, voller List und mit Hilfe von Unternehmern, die sie gewinnen konnte, gerettet. In der Nachkriegszeit wurde sie Oberstudiendirektorin und sollte mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt werden. Das hat sie mit den Worten abgelehnt: „Ich trage keinen Orden, den auch Hans Globke trägt.“ Diese kleine, zarte, kluge Frau. Sie wollte keine Auszeichnung, die auch dem späteren Staatssekretär Konrad Adenauers zuteil wurde, einem NS-Juristen, der an dem „Blutschutzgesetz“ der Nazis mitgeschrieben hatte. Elisabeth Forck begründete ihren persönlichen Einsatz für die Bremer Juden so: „Ich selber verstehe mich nur als eines der Glieder dieser Bekennenden Gemeinde, die jedes an seinem Teil versucht haben, das Gebot christlicher Nächstenliebe gerade an den am schwersten Bedrängten zu erfüllen. Aus Gewissensgründen ist es mir nicht möglich, für das, was ich für meine Christenpflicht halte, eine besondere öffentliche Auszeichnung anzunehmen.“ Die Stephani-Mitglieder hatten großen Mut und große Zivilcourage bewiesen. Aber eine Belohnung dafür? Ihre Solidarität war ihr trotz des Risikos eine Selbstverständlichkeit – und den vielen einfachen Leuten in der Gemeinde auch. In St. Stephani ging es nicht um Bildung und nicht um Besitz, sondern um Überzeugung. Und nur die Überzeugung der Stephani-Mitglieder – vom Arbeiter bis zur Intellektuellen – hat dieser christlich-jüdischen Familie das Leben gerettet.

* * *

Wie kommt es, dass die Haltung der Solidarität, die solche Geschichten möglich macht, heute so in Misskredit geraten ist? Bis in die achtziger Jahre hinein gab es gerade in Deutschland große soziale Bewegungen, wie die Dritte-Welt-, die Friedens- oder auch die Frauenbewegung, die vom Solidaritätsgedanken getragen wurden. Und davor war es die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, die unseren modernen Sozialstaat erst ermöglicht hat – die historische Leistung der vergangenen 200 Jahre. Doch Solidarität heute? Die Botschaft der Kirche – Nächstenliebe als Kern des Christentums – erreicht immer weniger Menschen. Solidarität ist eine Leerformel geworden, nicht zuletzt weil der Begriff durch inflationierten Gebrauch seines Kerns beraubt wurde. Wer sich an die Menschen wendet, egal, ob von links oder rechts, ob er Gewerkschaftssekretär ist oder Unternehmensverbandsfunktionär, trägt dieses Wort gern wie ein Legitimationsschild vor sich her. Und mancher, der an die Solidarität anderer appelliert, versucht von seinen eigentlichen Interessen abzulenken: So, weiter, bitte solidarisch! Beispiele gibt es genug. Ich denke da etwa an Bert Rürup, der zuerst als Regierungsberater der Privatwirtschaft den Markt in der staatlichen Rentenversicherung öffnet und dann bei einer privaten Versicherung anheuert. Rürup hat regelrecht einen strategischen Angriff auf die hundertjährige gesetzliche Sozialversicherung eingeleitet, begleitet, kommentiert, zum Teil hat er die Sätze des Reformpaketes mit formuliert. Dabei hatte er noch nicht einmal ein politisches Mandat. Als Berater hatte er einen größeren Einfluss auf die Regierung als die zuständige Fachministerin. Heute streicht Rürup die Rendite für sein politisches Handeln ein. Und das alles unter dem Deckmantel, die solidarische Alterssicherung retten zu wollen.

Ein anderes Beispiel: der Fall Aribert Galla. Galla, übrigens ein Sozialdemokrat, war Verwaltungsdirektor der größten kommunalen Bremer Klinik, des Zentralkrankenhauses in der Sankt-Jürgen-Straße. Ich war zweiter Bürgermeister und verwaltete 1986/1987 kommissarisch für ein knappes Jahr das Gesundheitsressort. Bald wurde klar, dass mit den Büchern der Klinik etwas nicht stimmte. Der Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft hat dann herausgefunden, dass dieser Aribert Galla über viele Jahre bei allen Bau- und Beschaffungsaufträgen für dieses Riesenklinikum Schmiergelder kassiert und diese Millionen auf ein Konto auf den britischen Kanalinseln verbracht hat. „Mister 10 Prozent“, hieß er damals. Zugleich war er ehrenamtlich beim Arbeitersamariterbund Ortsverbandsvorsitzender und hat in dieser Funktion die Leute angeödet bis zur Schmerzgrenze, dass sie bitte sehr mehr tun sollen für das Gemeinwesen, für die unterbezahlten Schwestern, für die armen Kranken und pflegebedürftigen Alten....